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Kaufmannsladen

Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Hebbel wirft in einer überraschenden Tagebuchnotiz die Frage auf, was »dem Leben den Zauber in späteren Jahren« nähme. Weil wir in all den bunten verzerrten Puppen die Walze sehen, die sie in Bewegung setzt, und weil eben darum die reizende Mannigfaltigkeit der Welt sich in eine hölzerne Einförmigkeit auflöst. Wenn einmal ein Kind die Seiltänzer singen, die Musikanten blasen, die Mädchen Wasser tragen, die Kutscher fahren sieht, so denkt es, das geschähe alles aus Lust und Freude an der Sache; es kann sich gar nicht vorstellen, daß diese Leute auch essen und trinken, zu Bett gehen und wieder aufstehen. Wir aber wissen, worum es geht.« Nämlich um den Erwerb, der alle jene Tätigkeiten als bloße Mittel beschlagnahmt, vertauschbar reduziert auf die abstrakte Arbeitszeit. Die Qualität der Dinge wird aus dem Wesen zur zufälligen Erscheinung ihres Wertes. Die » Äquivalentform« verunstaltet alle Wahrnehmungen: das, worin nicht mehr das Licht der eigenen Bestimmung als »Lust an der Sache« leuchtet, verblaßt dem Auge. Die Organe fassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merken der Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist oder für ein anderes; sie ermüden an der falschen Vielfalt und tauchen alles in Grau, enttäuscht durch den trugvollen Anspruch der Qualitäten, überhaupt noch da zu sein, während sie nach den Zwecken der Aneignung sich richten, ja ihnen weithin ihre Existenz einzig verdanken. Die Entzauberung der Anschauungswelt ist die Reaktion des Sensoriums auf ihre objektive Bestimmung als »Warenwelt«. Erst die von Aneignung gereinigten Dinge wären bunt und nützlich zugleich: unter universalem Zwang läßt beides nicht sich versöhnen. Die Kinder aber sind nicht sowohl, wie Hebbel meint, befangen in Illusionen über die »reizende Mannigfaltigkeit«, als daß ihre spontane Wahrnehmung den Widerspruch zwischen dem Phänomen und der Fungibilität, an den die resignierte der Erwachsenen schon nicht mehr heranreicht, noch begreift und ihm zu entrinnen sucht. Spiel ist ihre Gegenwehr. Dem unbestechlichen Kind fällt die »Eigentümlichkeit der Äquivalentform« auf: »Gebrauchswert wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts.« (Marx, Kapital I, Wien 1932, S. 61) In seinem zwecklosen Tun schlägt es mit einer Finte sich auf die Seite des Gebrauchswerts gegen den Tauschwert. Gerade indem es die Sachen, mit denen es hantiert, ihrer vermittelten Nützlichkeit entäußert, sucht es im Umgang mit ihnen zu erretten, womit sie den Menschen gut und nicht dem Tauschverhältnis zu willen sind, das Menschen und Sachen gleichermaßen deformiert. Der kleine Rollwagen fährt nirgendwohin, und die winzigen Fässer darauf sind leer; aber sie halten ihrer Bestimmung die Treue, indem sie sie nicht ausüben, nicht teilhaben an dem Prozeß der Abstraktionen, der jene Bestimmung an ihnen nivelliert, sondern als Allegorien dessen stillhalten, wozu sie spezifisch da sind. Versprengt zwar, doch unverstrickt warten sie, ob einmal die Gesellschaft das gesellschaftliche Stigma auf ihnen tilgt; ob der Lebensprozeß zwischen Mensch und Sache, die Praxis aufhören wird, praktisch zu sein. Die Unwirklichkeit der Spiele gibt kund, daß das Wirkliche es noch nicht ist. Sie sind bewußtlose Übungen zum richtigen Leben. Vollends beruht das Verhältnis der Kinder zu den Tieren darauf, daß die Utopie in jene sich vermummt, denen Marx es nicht einmal gönnt, daß sie als Arbeitende Mehrwert liefern. Indem die Tiere ohne den Menschen irgend erkennbare Aufgabe existieren, stellen sie als Ausdruck gleichsam den eigenen Namen vor, das schlechterdings nicht Vertauschbare. Das macht sie den Kindern lieb und ihre Betrachtung selig. Ich bin ein Nashorn, bedeutet die Figur des Nashorns. Märchen und Operetten kennen solche Bilder, und die lächerliche Frage der Frau, woher wir wüßten, daß der Orion auch in der Tat Orion heißt, erhebt sich zu den Sternen."

Theodor W. Adorno: Minima Moralia, aus dem öffentlich zugänglichen Werk (pdf)

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