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Horkheimer zur Menschwerdung des Menschen

Horkheimer (links) mit Theodor W. Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

“Macht nicht diese Geborgenheit, die Gewißheit sich auf alle Fälle in der Mitte der Gesellschaft zu erhalten und nie wirklich an ihre Grenzen zu stoßen, die Menschen zu Funktionen, die in allem Wesentlichen zu berechnen sind, deren Formel bis an ihr Lebensende fertig vorliegt? In allem Entscheidenden denken, fühlen, handeln sie als bloße Exponenten ihrer Eigentumsinteressen. Der Sinn ihres Lebens ist festgelegt, es hängt nicht von ihrer Menschlichkeit, sondern von einer Sache, von ihrem Vermögen und seinen immanenten Gesetzen ab. Zu einer Art wirklicher selbstständiger Mensch werden sie nur, wo sie spielen oder sonst gleichgültige Dinge tun.“

Max Horkheimer - Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung

nachschLAg: Ein unvollständiger Wochenrückblick

BRASILIEN
Ein Protestmarsch von Zehntausenden gegen das soziale Abbruchprogramm der Regierung, für den sofortigen Abtritt von Präsident Michel Temer und für Neuwahlen wurde am Mittwoch nachmittag (Ortszeit) nach friedlichem Beginn von Militärpolizei und Nationalgarde gewaltsam attackiert.


ECUADOR
Ecuador hat einen neuen Präsidenten: Lenín Moreno, der wie sein Vorgänger Rafael Correa dem linken Parteienbündnis Alianza PAIS angehört. Moreno legte am Mittwoch vor dem Parlament in Quito den Amtseid ab.


HONDURAS
Angehörige der ermordeten Menschenrechtsaktivistin Berta Cáceres, Mitglieder des Zivilen Rates der indigenen und Basisorganisationen von Honduras (COPINH) und deren Anwaltsteam haben am 17. Mai eine Stellungnahme über die anhaltende Straflosigkeit im Justizsystem des Landes veröffentlicht.


KOLUMBIEN
Die wichtigste Hafenstadt Kolumbiens am Pazifik, Buenaventura, befindet sich seit sieben Tagen im Generalstreik. An allen Tagen gab es Massendemonstrationen.


Der Verfassungsgerichtshof von Kolumbien hat zwei Kernregelungen der Verfassungsreform zur Umsetzung des Friedensabkommens für nichtig erklärt. Nun muss der Kongress nicht mehr über einen Gesetzentwurf für den Frieden als ganzer Block entscheiden, sondern darf über einzelne Artikel abstimmen und eigene Änderungen ohne Zustimmung der Regierung einführen.


KUBA
Mit neuen Sammeltaxis will Kubas Regierung den privaten Dienstleistern Konkurrenz machen, und damit die Transportsituation in der Hauptstadt Havanna verbessern. Die neuen „Taxi ruteros“ (zu deutsch etwa „Routentaxis“) fahren wie die privaten Sammeltaxis feste Linien entlang des Busnetzes ab, der Preis ist mit 5 Pesos pro Zwischenhalt jedoch deutlich moderater. Vergangenen Montag nahm der neue Service in einer ersten Teststrecke den Betrieb auf.


VENEZUELA
ie Initiative der venezolanischen Regierung für eine verfassunggebende Versammlung hat zu teils heftigen Reaktionen geführt. Am Dienstag übersandte Präsident Nicolás Maduro dem Nationalen Wahlrat (CNE) die Grundlagen für die Zusammensetzung der Versammlung und kurz darauf kündigte dieser die entsprechenden Wahlen für Ende Juli an.


Ein Gemeinschaftsprojekt von Einfach Übel und redblog, Ausgabe vom 26. Mai 2017

40. Jahrestag der Ermordung von Elisabeth Käsemann

Elisabeth Käsemann. Opfer der Argentinischen Diktatur
Elisabeth Käsemann. Opfer der Argentinischen Diktatur
Bildquelle: Familie Käsemann / WikiPedia
Heute vor 40 Jahren wurde die deutsche Linke Elisabeth Käsemann nach wochenlanger schwerer Folter von der faschistischen Militärjunta in Argentinien getötet. Sie arbeitete in Armenvierteln von Buenos Aires und verhalf Gegnern der Militärjunta zur Flucht ins Ausland. Bevor sie am 24. Mai von Schergen des Regimes erschossen wurde, war sie zwei Monate lang schwer gefoltert worden. Der mit argentinischen Machthabern befreundete bundesdeutsche Botschafter unternahm nachweislich nichts, um ihre Freilassung zu erwirken, ebenso die Regierung in Bonn.

Aus dem Anlass nochmals der Beitrag von Fritz Güde, den er bei uns am 7. Juni 2014 veröffenlicht hat:

"Das Mädchen" - Elisabeth Käsemann, die lebendig Verscharrte


Ein eindrucksvoller Film nicht so sehr über Frau Käsemann selbst, sondern über die Urteile, die sie zu Lebzeiten trafen. Oder besser: nicht betrafen. Ihr Schicksal unter der argentinischen Militärdiktatur war vielen bekannt. Nur im deutschen Außenministerium stieß es auf taube Ohren. Während England und Österreich es schafften, ihre Staatsangehörigen herauszuholen, wäre das der damaligen westdeutschen Republik genau so gelungen. Wenn nur das geringste Interesse daran sich gezeigt hätte.

Nun, so viele Jahrzehnte später, ist der Weg frei zu Reue und Bekenntnis. Nur leider viel zu spät. Was auffällt bei dem schändlichen Wegschauen sind vor allem zwei Details, die keineswegs der Vergangenheit angehören, wie im Film von Ahnungslosen immer wieder behauptet wurde.

Das eine ist die lückenlose Zudeckung des später Offensichtlichen.Wenige haben damals den Worten des Vaters der Gefolterten geglaubt. Die breite Mehrzahl bekam nichts davon mit. So können Lebende zu Toten werden. Durch bloße Teilnahmslosigkeit.

Noch schärfer das zweite. Das Aufhören jeder Anteilnahme, sobald der Ausdruck "Terrorist" gefällt worden ist. Tatsächlich schwindet nach dem Film jeder Versuch einer Teilnahme, wenn das Terrorurteil gefällt worden ist. Versteht sich, ohne dass jemand das Urteil begründet.

Und darin liegt die Schwäche sämtlicher Staaten. Die Menschenrechtsverpflichtung jeder Gemeinschaft, wie wir sie für begründet halten, setzt allgemein und unanfechtbar voraus, dass nirgeds auf der Welt gefoltert werden darf. Und zwar ganz unabhängig von der angeblichen oder wirklichen Schuld des und der Betroffenen. Es besteht die ausnahmslose Pflicht, den Betroffenen erst einmal aus unwürdiger Gefangenschaft herauszuholen. Selbst wenn man dann im Heimatland ein geordnetes Verfahren gegen den Herausgeholten aufzieht.

Wo in der ganzen Welt wird dieser einfache Lehrsatz der Menschenpflicht rückhaltlos erfüllt? Die Aufrechterhaltung des Gefängnisses in Guantanamo sagt alles, was es gegen den Menschenrechtler Obama vorzubringen gilt. Und keineswegs nur gegen ihn. Es gibt keinen Staat - weder in West noch in Ost - der sich diesem Grundsatz der Menschlichkeit lückenlos aufgeschlossen zeigt.

Das Mädchen - Was geschah mit Elisabeth K.? 05.06.2014 | 75:00 min | UT |

Weitere Filme über die Verstrickungen und die Komplizenschaft der deutschen Politik und Wirtschaft, mit der argentinischen Militärdiktatur:

Todesursache Schweigen

"...dass du zwei Tage schweigst unter der Folter"

Panteon Militar - Kreuzzug gegen die Subversion

Deutschland und die Diktaturen Lateinamerikas - Interview mit Karl-Heinz Dellwo

Wunder gibt es nicht - von Gaby Weber (2013)

Warum Menschen sowas mitmachen - Neoliberales Denken und Handeln

Der Neoliberalismus macht auch vor dem Banalen und scheinbar Nebensächlichen, dem »Kleinen« und scheinbar Unpolitischen nicht halt. Der nachfolgende Text fragt nach den Formen, die der Neoliberalismus im Denken und Handeln der Menschen angenommen hat. Dabei stehen lebensweltliche und alltägliche Aspekte im Mittelpunkt. Der Text ist dem jüngst erschienenen Buch „Warum Menschen sowas mitmachen –“ Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus“ entnommen.

Im Zeitalter des Privatfernsehens gibt es kaum etwas, das zu bizarr wäre, als dass es nicht in unsere Wohnzimmer flimmern könnte. So nahm der Sender Sat.1 im Jahr 2012 »The Biggest Loser« ins Programm, eine Art Castingshow. Dort treten schwergewichtige Kandidatinnen und Kandidaten mit dem Ziel gegeneinander an, möglichst viel abzunehmen. Durch körperliche Trainings, Motivationsgespräche, Kontrolle der Kalorienzufuhr, sozialen Druck und regelmäßige Wettkämpfe versuchen sie, dieses Ziel zu erreichen.

In der Ausgabe vom 18. Februar 2015 wurde ein 29-jähriger Kandidat namens Mark von seinem Trainer nach den eigentlichen Übungen zu einem Zusatztraining aufgefordert –“ nichts Besonderes. Der Grund: Mark habe in der Vorwoche zu wenig Gewicht verloren. Im Anschluss an das Zusatztraining erklärte der Kandidat in die Kamera: »[Der Trainer] betont immer, in mir steckt so viel Ehrgeiz, und ich soll auf jeden Fall meine Disziplin nicht hierlassen, wenn ich nach Hause muss. Daher bin ich natürlich froh, dass er mit mir –˜ne Extraeinheit gemacht hat. Es war anstrengend, hat aber Spaß gemacht.« In dem Moment, in dem Mark von seiner »Disziplin« sprach, blendete die Regie die Information ein, dass Mark ein »Arbeitssuchender aus Wuppertal« sei.

Hier versucht jemand, gesellschaftlichen Erwartungen gerecht zu werden: Mark will abspecken –“ sicher nicht nur, um attraktiver zu werden, sondern auch, um seine gesellschaftliche Position und seine Chancen auf Erfolg und Glück in Beruf und Privatleben zu verbessern. Er unterwirft sich den Vorgaben seines Trainers und der Sendung. Er zeigt Selbstdisziplin, Ehrgeiz, Veränderungswillen, Engagement. Er strengt sich an. Er behauptet, »Spaß« bei alldem zu haben. Mit der Einblendung unterstellt die Sendungs-Regie zugleich einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und bisher angeblich mangelnder Disziplin. Dass sie »Wuppertal« als Herkunftsort nennt, dürfen wir wohl als Anspielung verstehen: Strukturwandel! Soziale Brennpunkte! Verlotterte Städte!

Arbeitswelt und Privatleben, Politik und Persönlichkeit fließen hier ineinander über. Das Millionenpublikum an den Bildschirmen lernt: Wenn Du etwas erreichen willst, musst Du Dich anstrengen. Du musst gesellschaftlichen Anforderungen entsprechen. Dabei kannst und sollst Du Spaß und Freude haben. Nur wenn Du etwas erreichst, wirst Du Anerkennung und Wertschätzung finden. Und zwar im Alltag und im Privatleben genauso wie im Beruf.

Deshalb hat schon diese banale Szene viel mit Neoliberalismus zu tun.

Neoliberalismus, das ist mehr als »nur« Politik, mehr als »nur« Wirtschaftstheorie und mehr als »nur« Ideologie. Er verändert Menschen, und Menschen verändern sich selbst, wenn sie im Neoliberalismus leben. Sie verinnerlichen und verkörpern dessen Regeln und dessen Anforderungen. Sie machen sich neoliberale Hoffnungen sowie Vorstellungen von »Gut« und »Schlecht« zu eigen. Ihr Weltbild, ihr Bild von sich selbst, ihre Auffassung von der eigenen Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft wird neoliberal –“ oftmals, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Wenngleich das jeweilige Ausmaß unterschiedlich sein mag: Der Neoliberalismus prägt jeden einzelnen Menschen –“ seine Überzeugungen, sein Denken, sein Wollen, sein Handeln. So etwa auch in der eingangs beschriebenen TV-Sendung »The Biggest Loser« und ähnlichen Formaten.

Neoliberalismus ist längst zur unhinterfragten Normalität geworden, ja sogar zur Grundlage von Lebensstilen. Der einzelne Mensch rückt dabei in einer sehr eigenartigen Weise in den Mittelpunkt: Er soll an Märkten und in der Gesellschaft eigenständig zurechtkommen –“ anstatt sich auf den Staat oder auf Mechanismen solidarischer Absicherung zu verlassen. Hier treffen eine marktextremistische Politik und marktextremistisches Denken und Handeln aufeinander. Eine häufig gebrauchte Floskel ist in diesem Zusammenhang die der »Selbstverantwortung«: »Verlass–™ Dich nicht auf andere!« »Komm–™ selber klar!« »Mach–™ was aus Dir!« »Nutz–™ Deine Chancen!« »Glaub–™ an Dich!« »Lebe Deine Träume!« »Streng Dich an!« »Steh–™ grade für Dein Versagen!« Einige dieser Sprüche mag sicherlich auch »The Biggest Loser«-Kandidat Mark im Kopf gehabt haben –“ und angesichts der gedanklichen Verknüpfung seiner angeblich mangelnden Disziplin mit seiner Arbeitslosigkeit augenscheinlich auch die Regie der Sendung.

Die hier durchscheinenden Normen und Ansprüche sind die Kehrseite von Sozialabbau und wegbrechender gesellschaftlicher Solidarität. Man kann durchaus von einer »neoliberalen Moral« sprechen. Deren Handlungsanweisungen und Werturteile beziehen sich direkt auf die Rolle des einzelnen Menschen am Markt, ohne sich aber darauf zu beschränken. So sollen sich die Menschen in neoliberalen Gesellschaften rundherum marktkonform verhalten. Sie sollen sich also gegenüber den Erwartungen des Marktes (aber auch der Gesellschaft) als anpassungsbereit erweisen. Auch gilt es, sich unterwürfig zu zeigen: Die durch den Markt generierte Verteilung von Einkommen und Vermögen ist nicht zu hinterfragen oder zu kritisieren, sondern als »natürlich« und »gerecht« zu akzeptieren. Um Erfolg und Anerkennung zu erlangen, sollen sich die Menschen als aktiv und selbstdiszipliniert erweisen und dabei unternehmerisch und egoistisch denken und handeln. Um gegenüber seinen KonkurrentInnen die Nase vorn zu haben, gilt es, wettbewerbsfähig und innovativ zu sein oder zu werden.

Je schwächer soziale Bindungen werden und je geringer die soziale Sicherheit, desto wichtiger wird es für Menschen, der neoliberalen Moral zu folgen. Einerseits treibt sie dabei die Angst vor sozialem Abstieg, vor Missbilligung durch andere, bisweilen auch vor staatlichen oder gesellschaftlichen Sanktionen und Strafen. Andererseits treibt sie ein innerer Wille: das Streben nach Glück, das Bedürfnis nach Anerkennung und der Wunsch, Erfolg und Wohlstand zu erlangen und zu genießen. Beides geht oft Hand in Hand.

Die neoliberale Moral geht gleichwohl noch hierüber hinaus: Der Neoliberalismus und seine negativen Folgen brauchen Erklärung und Rechtfertigung –“ und Menschen, die an diese Erklärung und Rechtfertigung glauben. Missstände wie Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und Verelendung sind immer zugleich gesellschaftliche Übel und persönliche Miseren. Sie haben eine gesellschaftliche und individuelle Seite. Im Neoliberalismus aber werden sie begründet und gerechtfertigt, indem die jeweiligen (positiven oder negativen) Lebenslagen auf selbstverantwortetes Denken und Handeln zurückgeführt werden. Gründe für Erfolg und Elend, für Teilhabe und Ausgrenzung liegen aus dieser Sicht stets beim einzelnen Menschen. Die neoliberale Moral vermittelt hierdurch zwischen dem Menschen und der Gesellschaft: Sie liefert Erklärungen und Rechtfertigungen, verknüpft Lebenslagen und soziale Gegebenheiten, verbreitet Denk- und Verhaltensweisen, weist soziale Rollen und Aufgaben zu.

Als zentraler Wert neoliberaler Moral gilt »Leistung«. Dabei wird stillschweigend unterstellt, dass »Leistung sich lohnt«. Je mehr Zeit, Kraft, Gedanken, Wissen, Fertigkeiten, Gefühle oder Konzentration jemand aufwende, desto höher falle am Ende die Belohnung dafür aus. Nun funktionieren allerdings weder Märkte noch Gesellschaften nach diesem simplen Muster. Auch die Neoliberalen wissen das. Der neoliberale Sozialphilosoph und Ökonom Friedrich August von Hayek etwa räumt ein, dass Anstrengungen in Marktwirtschaften oft genug nicht belohnt werden. Die Wirksamkeit von Märkten setze genau dies sogar voraus: Märkte geben durch Preise und Löhne den Menschen lediglich »Handlungsanweisungen«, nähmen aber auf »Bedürfnisse und Verdienste« keinerlei Rücksicht. Eine Entsprechung zwischen Aufwand und Ertrag, zwischen Anstrengung und Belohnung gebe es folglich nicht und könne es nicht geben.

Dass es in diesem Sinne unverdienten Erfolg ebenso gibt wie unverdientes Scheitern, bleibt allerdings fernab theoretischer Überlegungen à la Hayek üblicherweise unausgesprochen. Stattdessen wird wieder und wieder die Falschbehauptung wiederholt, dass »Leistung sich lohnt«. Verstärkt wird dies, indem jedem einzelnen Menschen die Verantwortung für seine Probleme zugewiesen wird: So gilt Arbeitslosigkeit als Schuld und Verantwortung der Arbeitslosen. So gilt Obdachlosigkeit als Schuld der Obdachlosen. Und nach dem gleichen Muster wird Kranken zunehmend die Schuld an ihrer Krankheit zugeschrieben, Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen die Schuld an ebendiesen, schlecht bezahlten ArbeitnehmerInnen die Schuld an ihren Niedriglöhnen, Übergewichtigen die Schuld an ihrem Übergewicht usw.

Die eingangs beschriebene Szene aus »The Biggest Loser« zeigt dies beispielhaft: Dort wird schlicht unterstellt, dass mangelnde Disziplin, fehlende sportliche Aktivität und eine zu hohe Kalorienzufuhr die Gründe für Marks Übergewicht seien. Nicht gefragt wird hingegen, ob Mark nicht eigentlich noch sehr viel tiefer liegende Probleme hat und ob dahinter nicht möglicherweise auch soziale Ursachen stehen. Dabei wären solche Fragen zuallererst zu stellen. Übrigens auch, weil Studien immer wieder zeigen, dass die zunehmende soziale Ungleichheit und weit verbreitete Armut mit immer häufigerem Übergewicht in der Bevölkerung einhergeht. Für seine Probleme aber wird einzig Mark verantwortlich gemacht; sie zu lösen gilt einzig als seine Aufgabe. Und er hat dies offenbar längst verinnerlicht.

Als Folge der neoliberalen Moral und um gesellschaftlichen Leistungsanforderungen gerecht zu werden, setzen sich die Menschen einer Art alltäglichem Dreischritt aus: Erstens thematisieren sie sich permanent –“ sie prüfen sich also ständig selbst im Hinblick auf eigene Defizite, Schwächen, Verbesserungsmöglichkeiten. Zweitens optimieren sie sich permanent –“ sie bemühen sich also, sich zu verbessern und Defizite sowie Schwächen zu überwinden. Drittens wird es ihnen zur permanenten Aufgabe, sich darzustellen –“ und damit andere auf sich und die eigenen neuen und alten »Stärken« aufmerksam zu machen.

Auch der »The Biggest Loser«-Kandidat Mark vollzieht den Dreischritt aus Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung: In der eingangs wiedergegebenen Szene thematisiert er sich. Er meint, neben seinem Übergewicht auch seine mangelnde Disziplin als Problem festgestellt zu haben. Zugleich unterstreicht er, dass er diese Probleme angehe, sich also optimiere, sich anpasse: Er betont Ehrgeiz und Disziplin, er strengt sich an. Der Wille, sein Gewicht zu reduzieren, ist deutlich erkennbar. Auch »Spaß« behauptet er zu haben. Und all dies präsentiert er der Kamera und einem Millionenpublikum –“ er betreibt Selbstdarstellung.

Neoliberale Moral, neoliberale Ideen von »Leistung« und der neoliberale Dreischritt aus Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung prägen sogar unseren scheinbar nebensächlichsten Alltag. Sie bestimmen unser Leben, manchmal bewusst, oft aber unbewusst. Sie zeigen sich, wenn wir Beziehungen und Kontakte vor allem deshalb pflegen, weil diese uns für andere Zwecke nutzen könnten. Sie zeigen sich, wenn Menschen über die angebliche »Unterschicht« schimpfen. Sie zeigen sich im Bildungswesen, das zunehmend auf Kompetenzen ausgerichtet wird, die sich bezahlt machen sollen, und das immer weniger Wissen vermittelt, mit dem wir uns die Welt erschließen. Sie zeigen sich, wenn Eltern ihre Kinder auf eine der immer zahlreicheren Privatschulen schicken, damit die Kleinen einen Startvorteil im Leben haben. Sie zeigen sich in Ratgeberliteratur und in esoterischen Angeboten, die den Menschen auf vielfältige Weise erklären, wie sie ein noch neoliberaleres Leben führen und ertragen können. Sie zeigen sich in unseren Vorstellungen von Fitness, Sport und Stars. Sie zeigen sich, wenn wir unseren Körper und unsere Persönlichkeit »verbessern« wollen. Sie zeigen sich, wenn deutschsprachige Rapmusiker sich als Beweis dafür inszenieren, dass Leistung sich lohne. Sie zeigen sich, wenn wir immer mehr Aspekte unseres Lebens elektronisch vermessen und dokumentieren. Sie zeigen sich in Sozialen Netzwerken wie »Facebook« oder »XING«, die längst zu Plattformen der Selbstdarstellung und des Vergleichs mit anderen geworden sind. Sie zeigen sich im Fernsehen –“ von Castingshows über Seifenopern und Talkshows bis hin zum so genannten Reality-TV, in denen etwa Konkurrenzverhalten und »Selbstverantwortung« gepriesen werden. Und sie zeigen sich in der Art und Weise, wie wir kaufen und konsumieren. Diese Liste ist bei weitem noch nicht zu Ende.

Wie aber konnte sich der Neoliberalismus zu einem System aus Verhaltensregeln und Wertvorstellungen auswachsen, das die meisten Menschen unwidersprochen akzeptieren und verinnerlichen? Dieses Buch soll darauf Antworten geben. Es stellt kritisch die Frage, wie neoliberale Gesellschaften zu dem geworden sind, was sie sind. Es fragt nach den geschichtlichen Entwicklungen und gesellschaftlichen Mechanismen, durch die sich neoliberale Ideologien im Bewusstsein der Menschen verankern konnten. Es interessiert sich für die sozialen Gründe dafür, dass Menschen zu neoliberalen Subjekten geworden sind. Warum sie also zu Menschen geworden sind, die etwa marktkonform, wettbewerbsfähig, selbstdiszipliniert, anpassungsbereit, flexibel, egoistisch, aktiv, innovativ und unternehmerisch sind, sein wollen oder sein sollen; zu Menschen, für die Selbstthematisierung, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung eine selbstverständliche und alltägliche Freude sind oder zumindest sein sollen. Und schließlich fragt es nach den ideologischen Zusammenhängen, die hinter der Erklärung und Rechtfertigung gesellschaftlicher Missstände im Neoliberalismus stehen.

Auf diese Fragen gibt es nicht nur eine einzige richtige Antwort. Es gibt nicht die eine angemessene und umfassende Theorie, die uns über alle Aspekte des alltäglichen Neoliberalismus aufklärt. Eine solche wird hier auch keineswegs entwickelt. Stattdessen führt dieses Buch in das Denken einiger AutorInnen ein, in deren Arbeiten sich interessante Hinweise und ungewohnte Sichtweisen finden lassen, um wichtige Aspekte des Lebens im Neoliberalismus besser zu verstehen. Es führt ein in Überlegungen von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Richard Barbrook und Andy Cameron, Luc Boltanski und Ève Chiapello, Wendy Brown, Gilles Deleuze, Norbert Elias, Michel Foucault, Antonio Gramsci, Stuart Hall, David Harvey, Friedrich August von Hayek, Arlie Russell Hochschild, Eva Illouz, Naomi Klein, Karl Marx, Karl Polanyi, Andreas Reckwitz sowie Max Weber.

Quelle: Gekürzte und leicht ergänzte Fassung des zweiten Kapitels aus: Patrick Schreiner: Warum Menschen sowas mitmachen. Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus. Köln: PapyRossa 2017. ISBN 978-3894386320, Euro 13,90.

nachschLAg: Ein unvollständiger Wochenrückblick

BRASILIEN
Korruptionsskandal erreicht Brasiliens Präsident Temer. Mitschnitte belegen Beteiligung an Schweigegeldzahlung.

Brasiliens Expräsident Lula da Silva will 2018 erneut kandidieren und kämpft gegen Rechtsbeugung.

KOLUMBIEN
In Anbetracht des fehlenden politischen Willens, die sozialen und infrastrukturellen Probleme im Westen Kolumbiens anzugehen, hat das „Komitee für die Rettung und Würde des Chocó“ in mehreren Bezirken zum unbefristeten Generalstreik mobilisiert.

KUBA
In Kuba finden derzeit die 10. Aktionswochen gegen Homo- und Transphobie statt. Die Veranstaltung bietet neben einer großen Straßenparade ein vielseitiges Programm mit Filmvorführungen, kulturellen Aktivitäten, Symposien und Diskussionsrunden. Veranstalter ist das 1989 gegründete Institut für Sexualforschung (CENESEX).

VENEZUELA
Die Krise hält in Venezuela an. Eine aktuelle Zusammenfassung zur Lage des südamerikanischen Staats.

Ein Gemeinschaftsprojekt von Einfach Übel und redblog, AUsgabe vom 19. Mai 2017

Pforzheim: Protest am Samstag wegen Skandalurteil gegen AntifaschistInnen

Aus gegebenem Anlass dokumentieren wir den Aufruf des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart (AABS) zu einer Solidaritätskundgebung morgen in Pforzheim und bitten unsere LeserInnen um solidarische Untersützung:

Antifas zu Knast verurteilt / Soliaktionen jetzt am Samstag

Nach drei Verhandlungstagen ist am gestrigen Dienstag am Amtsgericht Pforzheim das Urteil gegen drei Antifas gesprochen worden. Die drei Genossen wurden wegen einer Auseinandersetzung mit lokalen Nazis zu Haftstrafen von einem Jahr und vier Monaten bis zu einem Jahr und acht Monaten ohne Bewährung verurteilt. Für Samstag rufen wir daher zu einer Solidaritätskundgebung in Pforzheim auf.

Der Vorfall

Zu Hochzeiten der Pegida-Bewegung fanden in Karlsruhe wöchentliche Aufmärsche des lokalen Ablegers „Kargida“ statt. Von Beginn an waren die Aufmärsche von der lokalen Naziszene dominiert und auch aus Pforzheim beteiligten sich regelmäßig Nazis der faschistischen Kleinstpartei „Die Rechte –“ Enzkreis“.

Am 10. März 2015 kam es im Regionalzug von Stuttgart nach Karlsruhe zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Antifas, welche die Gegenproteste in Karlsruhe unterstützen wollten, und zugestiegenen Nazis. Die kurze Auseinandersetzung verlief zu Ungunsten der Faschisten, sodass diese im Nachgang wahllos ihnen bekannte Antifas beschuldigten. Schließlich wurde vor Ort niemand festgenommen.

Der Prozess & das Urteil

Auf Basis der widersprüchlichen und willkürlichen Aussagen der Nazis wurde letztlich gegen drei Antifas Anklage erhoben. Die Staatsanwaltschaft warf den Genossen gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung zu Ungunsten der Pforzheimer Nazis um Fabian Köters vor. Diese traten im Prozess als Nebenkläger auf, vertreten wurden sie vom bekannten rechten Szeneanwalt Heinig.

Die umfangreiche Beweisaufnahme zog sich über zwei Verhandlungstage, am dritten fiel dann das Urteil. Weder die Vielzahl an ZeugInnen, noch andere Beweise konnten die Angeklagten eindeutig belasten. Dennoch forderte der Staatsanwalt, mit dem Verweis auf die „Signalwirkung“, ein Exempel zu statuieren. Der Richter am Pforzheimer Amtsgericht verurteile die drei Antifas letztlich zu Haftstrafen ohne Bewährung und war sich nicht zu schade in der Urteilsbegründung antifaschistische Politik mit der menschenverachtenden Praxis der deutschen Faschisten 1933 gleichzusetzen.

Antifaschismus bleibt notwendig und legitim!

Das Pforzheimer Urteil ist in Anbetracht der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein Skandal. Während in der gesamten Bundesrepublik immer wieder Unterkünfte für Geflüchtete brennen und ein immenser Anstieg faschistischer Gewalt zu verzeichnen ist, trifft die staatliche Repression genau die, die sich der Hetze von Rechts in den Weg stellen.

Gerade in und um Pforzheim ist das Engagement gegen Rechts mehr als notwendig. Neben der alljährlichen faschistischen Fackelmahnwache kommt es regelmäßig zu Übergriffen auf MigrantInnen und Linke. Während die Stadt das Problem totschweigt oder sich in Totalitarismustheorien flüchtet, gibt es seit Jahren einen kontinuierlichen antifaschistischen Widerstand. Mit dem Urteil gegen die drei Genossen soll dieses Engagement stellvertretend kriminalisiert werden.

Zeigt euch solidarisch mit den betroffenen Antifas!

Kommt zur Kundgebung am Samstag um 16 Uhr auf dem Leopoldplatz in der Pforzheimer Innenstadt!

Antifaschismus ist und bleibt legitim!

nachschLAg: Ein unvollständiger Wochenrückblick

ARGENTINIEN
Hunderttausende Argentinier haben am Mittwoch (Ortszeit) gegen eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs protestiert, die Haftstrafen von Vertretern der früheren Militärdiktatur zu verkürzen, die wegen Menschenrechtsverbrechen verurteilt wurden.

BRASILIEN
Brasiliens ehemaliger Präsident Luiz Inácio Lula da Silva will im kommenden Jahr wieder als Präsidentschaftskandidat antreten.

Inmitten der Debatte um die nächste Präsidentschaftswahl hat der Abgeordnete Marcelo Castro von der Regierungspartei Demokratische Bewegung Brasiliens (PMDB), der auch De-facto-Präsident Michel Temer angehört, einen Entwurf zur Verfassungsänderung vorgelegt, der die Zusammenlegung der Präsidentschaftswahl mit den Gouverneurswahlen im Jahr 2020 vorsieht.

HONDURAS
Der Nationale Beauftragte für Menschenrechte in Honduras hat unlängst einen Bericht vorgelegt aus dem hervorgeht, dass 91 Prozent der 69 registrierten Morde an Journalistinnen und Journalisten seit 2001 bisher straflos geblieben sind.

KOLUMBIEN
In Havanna sind Anfang der Woche Vertreter der beiden kolumbianischen Guerillaorganisationen FARC und ELN zusammengetroffen, um über die Fortsetzung des Friedensprozesses zu beraten.

Im kolumbianischen Departamento del Chocó sind im Rahmen eines Generalstreiks am Mittwoch Tausende Menschen auf die Straße gegangen. Während der zahlreichen Demonstrationen kam es zu militanten Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und der »Aufstandsbekämpfungseinheit« ESMAD.

KUBA
Russland hat offenbar jüngst damit begonnen, zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges wieder größere Mengen Öl nach Kuba zu liefern.

VENEZUELA
Nach tagelanger Panikmache hat Venezuelas Opposition eingeräumt, dass es mit den kursierenden Gerüchten um eine Erkrankung oder gar den Tod des inhaftierten Politikers Leopoldo López nichts auf sich hat.

Im venezolanischen Bundesstaat Carabobo sind erste Anklagen im Zusammenhang mit den Unruhen, die seit Anfang April das Karibikland in Atem halten, vor Militärgerichten verhandelt worden. Die nach Gewaltakten und Plünderungen festgenommenen Personen unterstehen der Militärjustiz.

US-Präsident Donald Trump wirbt zurzeit in Lateinamerika für eine stärkere Einmischung in die inneren Angelegenheiten Venezuelas. Bei einem Telefonat mit Perus Präsident Pedro Pablo Kuczynski sprachen die beiden Staatschefs darüber, „wie der Verschlimmerung der politischen und wirtschaftlichen Krise in Venezuela begegnet werden kann“, wie die spanischsprachige US-Tageszeitung El Nuevo Herald berichtete.

Ein Gemeinschaftsprojekt von Einfach Übel und redblog, Ausgabe vom 12. Mai 2017

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