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Feindanalysen

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts, 1955
Copyright: Marcuse family, represented by Harold Marcuse

"Die Volksbewegungen können manipuliert werden, weil die aufgehetzten Massen eine sofortige Kompensation erhalten. Dabei werden die bereits erwähnten materiellen Kompensationen durch ebenso wichtige Kompensationen für die (das latente >Unbehagen an der Zivilisation < tragenden) frustrierten Impulse und Instinkte ergänzt und unterstützt. Diese Impulse und Instinkte werden in einer Form befriedigt, die ihre Frustration im Rahmen stärkerer Kontrollmechanismen fortschreibt. Ihre aggressiven Tendenzen werden gegen die Kranken und Schwachen, gegen die Fremden und die Außenseiter, gegen Intellektuelle und kompromißlose Kritiker, gegen Luxus und augenfälligen Müßiggang gerichtet. Das Streben nach Gerechtigkeit, Freiheit und Glück wird pervertiert und zum Rachefeldzug gegen alle, die das Leben genießen, die nicht schuften müssen, die in der Lage sind, ihrem Wissen und Willen Ausdruck zu verleihen. Die Gleichheit der Menschen soll durch Nivellierung und nicht durch die Anhebung des Niveaus erreicht werden. Die von den Nazis veranstalteten Festspiele imitieren die Pracht des heroischen Zeitalters der europäischen Gesellschaft oder den Glanz und die Annehmlichkeiten der vorrevolutionären französischen Aristokratie, die in kleinen Dosen an den Mann auf der Straße weitergereicht wird, damit er seine Pflichten gegenüber dem totalitären Staat umso williger erfülle."

Herbert Marcuse. Feindanalysen

Nacht der langen Messer

Ernst Bloch auf dem XV. Schriftstellerkongress in Berlin, 1956
Quelle
Lizenz: Namensnennung: Bundesarchiv, Bild 183-35545-0009 / CC-BY-SA 3.0
Foto: Krueger
"Nicht so fern von hier sind die mannigfachen Träume, die heimzuzahlen belieben. Sie sind besonders wohlschmeckend, die Rache ist süß, als bloß vorgestellte aber auch schäbig. Die meisten Menschen sind zu feig zum Bösen, zu schwach zum Guten; das Böse, das sie nicht oder noch nicht tun können, genießen sie im Rachetraum voraus. Besonders das Kleinbürgertum liebt seit alters die Faust im Sack; es passt zu ihr, dass sie den Falschen schlägt, da sie vorzüglich in der Richtung des geringsten Widerstandes herausfährt. Aus der Nacht der langen Messer ist Hitler gestiegen, aus dem Traum dieser Nacht wurde er von den Herren gerufen, als er ihnen nützlich wurde. Der nazistische Rachetraum ist auch subjektiv verdrückt, nicht aufsässig; ist dumpfe Wut, nicht revolutionäre. Was gar den sogenannten eisernen Besen angeht, den Hass gegen das sittenlose Leben der Krummnasen und der Oberen, so verriet damit mittelständische Tugend, wie immer in solchen Fällen, nur ihren eigensten Traum. Wie sie, mit ihrer Rache nicht die Ausbeutung hasst, sondern nur dieses, nicht selbst ein Ausbeuter zu sein, so hasst die Tugend nicht das Lotterbett der Reichen, sondern nur dieses, dass es ihr persönlich, ganz speziell, nicht geworden ist."

Ernst Bloch, Quelle

My Body, my Choice vs. Marsch für das Leben

Foto: Oliver Feldhaus / Umbruch BildarchivAm 16. September 2017 zogen etwa 5000 christlich-fundamentalistische "Lebensschützer*innen" mit einem sogenannten "Marsch für das Leben" durch Berlin Mitte. Aufgrund zahlreicher Gegendemonstrierenden entlang des Marschwegs musste die Fundidemonstration jedoch drastisch verkürzt werden. Immer wieder gelang es Gegendemonstrant*innen, trotz eines massiven Polizeiaufgebotes, den Aufzug zu blockieren oder die Kundgebung kurzfristig zu stören.

Fotos von Oliver Feldhaus beim Umbruch Bildarchiv, Berlin

Weitere Informationen:

Adorno über Wahrheit

Horkheimer (links) mit Theodor W. Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Nichts habe ich so stark erfahren, wie die Beziehung zur Wahrheit, die in der Anrede liegt, und zwar in einer ganz spezifischen Weise. Es ist mir nämlich immer schwer gefallen und fällt mir im Grund heute noch so schwer zu verstehen, daß ein Mensch, der spricht, ein Schurke sein oder lügen soll. Mein Gefühl vom Wahrheitsanspruch der Sprache ist so stark, daß es sich über alle Psychologie durchsetzt und daß ich dem Sprechenden gegenüber zu einer Leichtgläubigkeit neige, die in schreiendstem Widerspruch zu meiner Erfahrung steht und die im allgemeinen erst überwunden wird, wenn ich von dem Betreffenden etwas Geschriebenes oder Gedrucktes lese, woran ich dann eben erkenne, daß er doch nicht sprechen kann. Meine fast unüberwindliche Abneigung dagegen, Lügen auszusprechen, hängt nur mit diesem Bewußtsein und gar nicht mit einem moralischen Tabu zusammen. In dem Satz, ein Mensch habe doch etwas gesagt und deshalb müsse es wahr sein, den alle Klugheit verlacht, steckt eben die Wahrheit, welche die Klugheit verrät."

Theodor W. Adorno am 23.09.1941 in einem Brief an Max Horkheimer.

"Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft..."

„Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und seinen Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen –šgeistigen Abenteuers–˜ fast die ganze Menschheit erstickt.... Also, meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, in dem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind.
Frantz Fanon 1961, Die Verdammten dieser Erde

Staatlich betreute Morde und fünf Jahre NSU-“Aufklärung”

Für ein Zwischenfazit zu fünf Jahren NSU-»Aufklärung« gibt es keine bessere Einleitung als das Plädoyer der Bundesanwaltschaft vor dem Oberlandesgericht (OLG) München. Bevor Bundesanwalt Herbert Diemer am 25. Juli die Beweiserhebung im dortigen Prozess würdigte, ging er auf die Vorwürfe gegen die Anklagebehörde und andere staatliche Stellen ein:

»Eine Beweisaufnahme, die das politische und mediale Interesse nicht immer befriedigen konnte, weil die Strafprozessordnung dem Grenzen setzte. Rechtsstaatliche Grenzen, die verlangen, das Wesentliche vom strafprozessual Unwesentlichen zu trennen. So ist es schlicht und einfach falsch, wenn kolportiert wird, der Prozess habe die Aufgabe nur teilweise erfüllt, denn mögliche Fehler staatlicher Behörden und Unterstützerkreise –“ welcher Art auch immer –“ seien nicht durchleuchtet worden«, sagte Diemer laut Wortprotokoll der Nebenklage. »Mögliche Fehler staatlicher Behörden aufzuklären ist eine Aufgabe politischer Gremien. Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verstrickung von Angehörigen staatlicher Stellen sind nicht aufgetreten.«

Mit besonderem Eifer ging er auf den Mord­anschlag in Heilbronn 2007 ein, bei dem eine Polizistin getötet und einer ihrer Kollegen schwer verletzt worden waren.

»Der Anschlag auf die beiden Polizeibeamten war ein Angriff auf unseren Staat, seine Vertreter und Symbole. Die Auswahl der Personen selbst geschah auch hier willkürlich. Alle anderen Spekulationen selbsternannter Experten, die so tun, als habe es die Beweisaufnahme nicht gegeben, sind wie Irrlichter, sind wie Fliegengesumme in den Ohren«, teilte Diemer aus.

Mit den »selbsternannten Experten« und »Irrlichtern« sind Mitglieder parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, Nebenklageanwälte und einige wenige Journalisten gemeint, die zumindest die Widersprüche in der offiziellen Version nicht ausgeräumt sehen. Beschämend ist nicht nur das weitgehende Schweigen mancher Medien zu dieser Diffamierung, sondern vor allem auch das laute Sekundieren anderer: So warf etwa Welt-Autorin Gisela Friedrichsen am 4. August einer Gruppe von Opferanwälten vor, »eine Bühne zur Diskriminierung des Rechtsstaats« zu suchen.

Um so bemerkenswerter ist ein Kommentar von Andreas Förster am 1. August in der Frankfurter Rundschau (FR): »Was hat die Bundesanwaltschaft nur geritten? (...) Sehen sich die Ankläger einem Korpsgeist bundesdeutscher Sicherheitsbehörden verpflichtet, die die eigenen Verfehlungen lieber vertuschen als sie ehrlich aufarbeiten? (...) Der Geheimdienst hatte nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 in großem Stil Akten vernichtet, er hat Ermittlern –“ und Abgeordneten –“ Informationen gezielt vorenthalten, er hat sie vermutlich sogar belogen. Die Bundesanwaltschaft hätte daraufhin das Bundesamt in Köln durchsuchen können und wohl auch müssen. Aber das hat sie nicht getan, sondern klaglos die Vertuschungspraxis des Geheimdienstes hingenommen.«

Weiter geht–™s:

Junge Welt vom 31.8.2017

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