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Über Don Quichotte und das Unmögliche

»Man könnte sagen, daß Don Quichotte die erste Gestalt in der Renaissanceliteratur ist, die durch ihr Handeln versucht, die Welt mit ihren eigenen Plänen und Ideen in Einklang zu bringen. Cervantes–™ Ironie liegt in der Tatsache, daß sein Held zwar nach außen hin im Namen des Alten (des Feudalsystems) gegen das Neue (die ersten Erscheinungsformen bürgerlichen Lebens) kämpft, in Wirklichkeit aber versucht, einem neuen Prinzip Anerkennung zu verschaffen. Dieses Prinzip besteht seinem Wesen nach in der Autonomie individuellen Denkens und Fühlens. Die Dynamik der Gesellschaft führt zu der Forderung nach einer immerwährenden und aktiven Umgestaltung der Wirklichkeit; die Welt muß ständig neu gebaut werden. Don Quichotte schafft seine Welt neu, wenn auch in einer phantastischen und solipsistischen Weise. Die Ehre, für die er zu Felde zieht, ist das Produkt seines Denkens und nicht das Erzeugnis gesellschaftlich begründeter und anerkannter Werte. Er verteidigt die, die er seines Schutzes für würdig hält, und wendet sich gegen die, die ihm böse erscheinen. In diesem Sinne ist er sowohl Rationalist als auch Idealist. Trotz seiner feudalen Mitgift hat der Ritter einen weiteren Wesenszug mit dem modernen nachmittelalterlichen Menschen gemeinsam –“ die Einsamkeit. Seine Widersacher sind zwar auch isoliert, aber aus einem ganz anderen Grunde: ihre Atomisierung entspringt aus der Tatsache, daß jeder seine eigenen selbstischen Ziele verfolgt. Don Quichotte jedoch ist isoliert, weil er das Unmögliche möglich machen will: er will die Bösen niederhalten, die Gewalt abschaffen, die Menschen befreien und seine tiefe Liebe für das Menschliche in seiner Hingabe an Dulcinea verwirklichen.«



Leo Löwenthal - Das Bild des Menschen in der Literatur

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