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Novissimum Organum.

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

"Längst ward dargetan, daß die Lohnarbeit die neuzeitlichen Massen geformt, ja den Arbeiter selbst hervorgebracht hat. Allgemein ist das Individuum nicht bloß das biologische Substrat, sondern zugleich die Reflexionsform des gesellschaftlichen Prozesses, und sein Bewußtsein von sich selbst als einem an sich Seienden jener Schein, dessen es zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bedarf, während der Individuierte in der modernen Wirtschaft als bloßer Agent des Wertgesetzes fungiert. Die innere Komposition des Individuums an sich, nicht bloß dessen gesellschaftliche Rolle wäre daraus abzuleiten. Entscheidend ist dabei in der gegenwärtigen Phase die Kategorie der organischen Zusammensetzung des Kapitals. Darunter verstand die Akkumulationstheorie »das Wachstum in der Masse der Produktionsmittel, verglichen mit der Masse der sie belebenden Arbeitskraft« (Marx, Kapital I, Wien 1932, Seite 655). Wenn die Integration der Gesellschaft, zumal in den totalitären Staaten, die Subjekte immer ausschließlicher als Teilmomente im Zusammenhang der materiellen Produktion bestimmt, dann setzt die »Veränderung in der technischen Zusammensetzung des Kapitals« in den durch die technologischen Anforderungen des Produktionsprozesses Erfaßten und eigentlich überhaupt erst Konstituierten sich fort. Es wächst die organische Zusammensetzung des Menschen an. Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital. Die geläufige Rede von der »Mechanisierung« des Menschen ist trügend, weil sie diesen als ein Statisches denkt, das durch »Beeinflussung« von außen, Anpassung an ihm äußerliche Produktionsbedingungen gewissen Deformationen unterliege. Aber es gibt kein Substrat solcher »Deformationen«, kein ontisch Innerliches, auf welches gesellschaftliche Mechanismen von außen bloß einwirkten: die Deformation ist keine Krankheit an den Menschen, sondern die der Gesellschaft, die ihre Kinder so zeugt, wie der Biologismus auf die Natur es projiziert: sie »erblich belastete. Nur indem der Prozeß, der mit der Verwandlung von Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen samt und sonders durchdringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht, wird es möglich, daß das Leben unter den herrschenden Produktionsverhältnissen sich reproduziert. Seine Durchorganisation verlangt den Zusammenschluß von Toten. Der Wille zum Leben sieht sich auf die Verneinung des Willens zum Leben verwiesen: Selbsterhaltung annulliert Leben an der Subjektivität. Demgegenüber sind alle die Leistungen von Anpassung, alle die Akte des Konformierens, welche Sozialpsychologie und kulturelle Anthropologie beschreiben, bloße Epiphänomene. Die organische Zusammensetzung des Menschen bezieht sich keineswegs nur auf die spezialistischen technischen Fähigkeiten, sondern - und das will die übliche Kulturkritik um keinen Preis worthaben - ebenso auf deren Gegensatz, die Momente des Naturhaften, die freilich ihrerseits schon in gesellschaftlicher Dialektik entsprangen und ihr nun verfallen. Noch was im Menschen von der Technik differiert, wird als eine Art von Lubrikation der Technik eingegliedert. Die psychologische Differenzierung, wie sie ursprünglich aus der Arbeitsteilung und der Zerlegung des Menschen nach Sektoren des Produktionsprozesses und der Freiheit sich ergab, tritt am Ende selbst noch in den Dienst der Produktion. »Der spezialistische 'Virtuose'«, schrieb ein Dialektiker vor dreißig Jahren, »der Verkäufer seiner objektivierten und versachlichten geistigen Fähigkeiten ... gerät auch in eine kontemplative Attitude zu dem Funktionieren seiner eigenen, objektivierten und versachlichten Fähigkeiten. Am groteskesten zeigt sich diese Struktur im Journalismus, wo gerade die Subjektivität selbst, das Wissen, das Temperament, die Ausdrucksfähigkeit zu einem abstrakten, sowohl von der Persönlichkeit des 'Besitzers' wie von dem materiell-konkreten Wesen der behandelten Gegenstände unabhängigen und eigengesetzlich in Gang gebrachten Mechanismus wird. Die 'Gesinnungslosigkeit' der Journalisten, die Prostitution ihrer Erlebnisse und Überzeugungen ist nur als Gipfelpunkt der kapitalistischen Verdinglichung begreifbar.« Was hier an den »Entartungserscheinungen« des Bürgertums festgestellt wird, die es selber noch denunzierte, ist mittlerweile als die gesellschaftliche Norm hervorgetreten, als Charakter der vollwertigen Existenz unterm späten Industrialismus. Längst handelt es sich nicht mehr um den bloßen Verkauf des Lebendigen. Unterm Apriori der Verkäuflichkeit hat das Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding gemacht, zur Equipierung. Das Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur bewußt in den Dienst. Bei dieser Umorganisation gibt das Ich als Betriebsleiter so viel von sich an das Ich als Betriebsmittel ab, daß es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst. Die Eigenschaften, von der echten Freundlichkeit bis zum hysterischen Wutanfall, werden bedienbar, bis sie schließlich ganz in ihrem situationsgerechten Einsatz aufgehen. Mit ihrer Mobilisierung verändern sie sich. Sie bleiben nur noch als leichte, starre und leere Hülsen von Regungen zurück, beliebig transportabler Stoff, eigenen Zuges bar. Sie sind nicht mehr Subjekt, sondern das Subjekt richtet sich auf sie als sein inwendiges Objekt. In ihrer grenzenlosen Gefügigkeit gegens Ich sind sie diesem zugleich entfremdet: als ganz passive nähren sie es nicht länger. Das ist die gesellschaftliche Pathogenese der Schizophrenie. Die Trennung der Eigenschaften vom Triebgrund sowohl wie vom Selbst, das sie kommandiert, wo es vormals bloß zusammenhielt, läßt den Menschen für seine anwachsende innere Organisation mit anwachsender Desintegration bezahlen. Die im Individuum vollendete Arbeitsteilung, seine radikale Objektivation, kommt auf seine kranke Aufspaltung heraus. Daher der »psychotische Charaktere, die anthropologische Voraussetzung aller totalitären Massenbewegungen. Gerade der Übergang fester Eigenschaften in einschnappende Verhaltensweisen - scheinbar Verlebendigung - ist Ausdruck der steigenden organischen Zusammensetzung. Quickes Reagieren, ledig der Vermittlung durchs Beschaffensein, stellt nicht Spontaneität wieder her, sondern etabliert die Person als Meßinstrument, disponibel und ablesbar für die Zentrale. Je unmittelbarer es seinen Ausschlag gibt, desto tiefer hat in Wahrheit Vermittlung sich niedergeschlagen: in den prompt antwortenden, widerstandslosen Reflexen ist das Subjekt ganz gelöscht. So sind denn auch die biologischen Reflexe, Modelle der gegenwärtigen gesellschaftlichen, gemessen an Subjektivität ein Gegenständliches, Fremdes: nicht umsonst heißen sie oft »mechanisch«. Je näher Organismen dem Tod, um so mehr regredieren sie auf Zuckungen. Danach wären die Destruktionstendenzen der Massen, die in den totalitären Staaten beider Spielarten explodieren, nicht so sehr Todeswünsche wie Manifestationen dessen, wozu sie schon geworden sind. Sie morden, damit ihnen gleicht, was lebendig ihnen dünkt."

Theodor W. Adorno, Minima Moralia –“ Reflexionen aus dem beschädigten Leben

Eigentumsvorbehalt

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

"Die Signatur des Zeitalters ist es, daß kein Mensch, ohne alle Ausnahme, sein Leben in einem einigermaßen durchsichtigen Sinn, wie er früher in der Abschätzung der Marktverhältnisse gegeben war, mehr selbst bestimmen kann. Im Prinzip sind alle, noch die Mächtigsten Objekte. Sogar der Beruf des Generals bietet keinen zureichenden Schutz mehr. Keine Abmachungen sind in der faschistischen Ära bindend genug, um die Hauptquartiere vor Fliegerangriffen zu schützen, und Kommandanten, die es mit der traditionellen Vorsicht halten, werden von Hitler gehängt und von Chiang Kai-Shek geköpft. Daraus folgt unmittelbar, daß jeder, der versucht durchzukommen - und das Weiterleben selbst hat etwas Widersinniges wie die Träume, in denen man den Weltuntergang mitmacht und nach dessen Ende aus einem Kellerloch herauskriecht -, zugleich so leben sollte, daß er in jedem Augenblick fähig ist, sein Leben auszulöschen. Das ist als triste Wahrheit aus Zarathustras überschwenglicher Lehre vom freien Tode hervorgetreten. Freiheit hat sich in die reine Negativität zusammengezogen, und was zur Zeit des Jugendstils in Schönheit sterben hieß, hat sich reduziert auf den Wunsch, die unendliche Erniedrigung des Daseins wie die unendliche Qual des Sterbens abzukürzen in einer Welt, in der es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod. - Das objektive Ende der Humanität ist nur ein anderer Ausdruck fürs Gleiche. Es besagt, daß der Einzelne als Einzelner, wie er das Gattungswesen Mensch repräsentiert, die Autonomie verloren hat, durch die er die Gattung verwirklichen könnte. "

Theodor W. Adorno, Minima Moralia –“ Reflexionen aus dem beschädigten Leben S. 41ff

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