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kritisch-lesen.de Nr. 34: Marxistischer Feminismus erschienen

Marxistischen Feminismus halten viele Feministinnen für ein Relikt aus der Vergangenheit oder eine Unmöglichkeit angesichts der damit verbundenen, traditionellen Unterordnung feministischer Belange unter den sogenannten Hauptwiderspruch. Diese Vorstellung besagte, dass es einen zentralen gesellschaftlichen Widerspruch gebe, eben den Hauptwiderspruch, der zwischen Kapital und Arbeit verlaufe. Alle anderen zur Kenntnis genommenen Widersprüche –“ zwischen Schwarzen und Weißen, Frauen und Männern –“ erledigten sich in diesem Denken mit der Abschaffung des Kapitalismus quasi von selbst. Unter anderem auf diese Unterordnung nahm 1979 Heidi Hartmann ironisch Bezug, als sie schrieb, dass Marxismus und Feminismus eine „unglückliche Ehe“ führten. Die Degradierung der Belange von Frauen zum Nebenwiderspruch wurde von Seiten ebendieser jedoch nicht hingenommen. In Folge brachten marxistische Feministinnen eigene Analysen zum Verhältnis von Kapitalismus und Patriarchat und Theorien voran.

Die meisten aktuellen arbeitsbezogenen feministischen Debatten –“ etwa um die Delegation von Fürsorgearbeit an alle, insbesondere aber an migrantische Frauen, oder um die Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt –“ sind direkt mit Erkenntnissen und Debatten marxistischer Feministinnen verbunden. Sie spielen dennoch keine prominente Rolle innerhalb der deutschsprachigen feministischen Debatte. Das vorherrschende Verständnis von Geschlechterverhältnissen als Problem von „Geschlechternormen, von Rollenverhalten und Geschlechterstereotypen“, so argumentiert unter anderem Tove Soiland, verunmögliche den Blick auf das Verhältnis von Ökonomie und Geschlecht.

Wir haben uns also gefragt: Welche marxistisch-feministischen Debatten gibt es, und welchen Einfluss hatten sie auf feministische und marxistische Theoriebildung? Wie sind diese Debattenbeiträge aus heutiger Sicht zu bewerten, und welche Elemente von damals finden sich in den Diskussionen um das Schlagwort „Care“? Warum ist es notwendig oder nicht notwendig, heute eine „Care-Revolution“ zu fordern statt „Lohn für Hausarbeit“?

Die von Feministinnen initiierte Hausarbeitsdebatte suchte die Grundlage für Herrschaft nicht mehr nur in den Betrieben und Fabriken, sondern auch im Bereich der unbezahlten Arbeit, der Hausarbeit, aber auch, wie eine Gruppe Bielefelder Feministinnen argumentierte, der Subsistenzarbeit. Mariarosa Dalla Costa argumentierte, dass die Frage, wer die Arbeitskraft reproduziert –“ wer also kocht, tröstet, putzt oder Kinder erzieht –“ eine politische und ökonomische Frage sei. Die Reproduktion der Arbeitskraft, so Dalla Costa, sei die Grundlage für die Produktion, die schließlich darauf angewiesen ist, dass Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen können.

Provozierend auf einen –“ zwar immer kleiner werdenden Teil von Marxisten –“ wirkt heute wie damals die Einsicht, die Bettina Haidinger und Käthe Knittler im Einführungsband „Feministische Ökonomie“ formulieren: „Fest steht, dass Marx sich um diese Fragen nicht gekümmert hat.“ Stehen Marxismus und Feminismus also weiterhin in einem Spannungsverhältnis, das den Vergleich mit einer unglücklichen Ehe rechtfertigt? Wir hoffen, dass viele unserer Leser_innen die Antwort auf letztere Frage für sich nach dem Lesen mit „Nein“ beantworten können.

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kritisch-lesen.de Nr. 33: Radikale Soziale Arbeit?

Soziale Arbeit = Systemerhaltend?
Foto: André Karwath aka Aka / [CC-BY-SA-2.5], via Wikimedia Commons
Angeregt durch eigene Verstrickungen und Genoss_innen, die ihre Lohnarbeit im Feld der Sozialen Arbeit leisten, widmen wir uns in unserer 33. kritisch-lesen.de-Ausgabe dem Thema Kritische Soziale Arbeit. Für die Soziale Arbeit gilt wie für jede andere Lohnarbeit zunächst einmal, dass sie, wenn auch nicht immer in direkter Form, auf einem Ausbeutungsverhältnis beruht. Dennoch scheint sie für einige Linke als Interventionsort attraktiv, was damit zusammenhängen dürfte, dass sie die direkte Arbeit mit denjenigen ermöglicht, die von der Gesellschaft ausgesondert wurden. In der direkten Arbeit changiert die Soziale Arbeit häufig zwischen Hilfe und Kontrolle − zwischen der Arbeit mit Menschen und der Arbeit an Menschen. Wir wollen die Widersprüche der Sozialen Arbeit diskutieren und aufzeigen, in welcher Weise diese herrschaftsstabilisierend ist und wo möglicherweise Widerstandspunkte liegen.

Die Widersprüche zeigen sich exemplarisch im ambivalenten Verhältnis zwischen Sozialer Arbeit und sozialen Bewegungen. Eben jenes Verhältnis nimmt Johanna Bröse in ihrer Rezension „Soziale Arbeit in Bewegung?“ in den Blick. Sie kommt zu dem Schluss, dass ein Umdenken in der Ausrichtung der Sozialen Arbeit dringend notwendig ist. Einem konkreten Feld sozialer Bewegungen und dessen Verknüpfung mit Sozialer Arbeit widmet sich Wiebke Dierkes in ihrer Rezension zu „Erwerbslosigkeit und politischer Protest“. Obwohl das Buch der Sozialen Arbeit im Kontext von Erwerbslosenprotesten ein vernichtendes Zeugnis ausstellt, sieht die Autorin darin Anknüpfungspunkte für Menschen, die um eine Bestimmung von Kritischer Sozialer Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften ringen.

Das politische Konzept Kritischer Sozialer Arbeit hat seinen Ursprung vor allem in den 1970er Jahren. Deshalb haben wir vier Klassiker der Kritischen Sozialarbeit ausgegraben und neu besprochen: Zunächst rezensieren Sven Schaub und Arne Sprengel „Gefesselte Jugend –“ Führsorgeerziehung im Kapitalismus“. Das Buch galt seinerzeit vor allem unter denjenigen Studierenden der Sozialen Arbeit als Pflichtlektüre, die nach einer alternativen und sozialistischen Erziehungspraxis suchten. Aber auch heute lohnt sich die Lektüre nicht nur wegen ihrer konsequenten Verbindung der Gesellschaftsanalyse von Marx und Engels mit einer Kritik der Sozialen Arbeit und ihrer Institutionen. Anschließend bespricht Sebastian Friedrich den Sammelband „Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen“ und stellt seine Neulektüre des Klassikers ins Verhältnis zu seiner ersten Begegnung mit dem Buch vor einigen Jahren. Er empfiehlt das Buch, da es in konstruktiver Weise Illusionen zuerstört. Anhand des Klassikers „Gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung“ sucht Vera Aulenbach nach systematischen Transformationsstrategien für Sozialarbeitende für eine sozial gerechte Gesellschaft. Judith Münzberger bespricht einen Klassiker aus der englischsprachigen Kritischen Sozialen Arbeit, die unter dem Namen „Radical Social Work“ firmiert.

Den Schwerpunkt schließen wir mit aktuelleren Ansätzen Kritischer Sozialer Arbeit. In die poststrukturalistischen Theorietraditionen, die in der aktuellen Kritischen Sozialen Arbeit hoch im Kurs stehen, reiht sich der Sammelband „Feministische Mädchenarbeit weiterdenken“ ein, der von Jamila Martin als bereichernde Lektüre für Praktiker_innen bewertet wird. Theoretischer geht es in der Rezension von Jannik Dohmen-Heinrichs zu „Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit“ zu. Doch auch hier findet der Autor Anknüpfungspunkte für kritische Sozialarbeiter_innen. Einen lohnenden Beitrag zur machtkritischen Reflexion Sozialer Arbeit attestiert Anna Köster-Eiserfunke in ihrer Besprechung „What counts is what works?" dem Sammelband „Kritisches Forschen in der Sozialen Arbeit“. Henning van den Brink widmet sich mit seiner Rezension ebenfalls der Forschung in der Sozialen Arbeit und stellt mit dem Sammelband „Soziale Dienstleistungen aus Nutzersicht“ die sozialpädagogische Nutzerforschung vor.

Die sonstigen aktuellen Rezensionen beginnen mit dem Streik bei Ford in Köln im Jahr 1973, der Anlass für Jörg Huwers Buch „Gastarbeiter im Streik“ war. In dem Buch sieht Ceren Türkmen eine Basis für eine Geschichtsschreibung von unten. Mit dem europäischen Grenzregime und der Europäischen Union beschäftigen sich in dieser Ausgabe zwei Rezensionen. Katharina Schoenes hat Sonja Buckels Arbeit „Welcome to Europe“ gelesen, die eine Analyse des europäischen Migrationsmanagements anhand juristischer Auseinandersetzungen vornimmt. Aus einer ebenfalls hegemonietheoretischen und staatskritischen Perspektive bietet die Publikation „Kämpfe um Migrationspolitik" der Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ Anregungen, die Christoph Müller in „Materialistische Analyse europäischer Migrationspolitik“ bespricht. „Familiengefühle. Generationengeschichte und NS-Erinnerung in den Medien“ lautet der Titel einer kritischen Bestandsaufnahme zeitgenössischer Familienromane, die den Zweiten Weltkrieg und deutschen Nationalsozialismus verarbeiten. Michaela Hartl hebt in ihrer Rezension „Emotionalisierte Verstrickungen“ positiv die politische Haltung der Autor_innen zu ihrem literarischen Gegenstand hervor. Christin Bernhold wirft in „Killing Antifaschismus softly“ einen Blick auf den Band „Antifa heißt Luftangriff!“ von Susann Witt-Stahl und Michael Sommer. Ihnen zufolge entwickelt sich Antifaschismus zum Teil des Problems in Abgrenzung zu einer notwendigen revolutionären antifaschistischen Bewegung, die nicht in Sicht scheint. Durchorganisierte Strukturen, strategische Manipulation der öffentlichen Meinung und systematische Unterwanderung der Gesellschaft –“ im Reportageband „OhneMacht“ wird deutlich gemacht, dass dies die Kennzeichen der deutschen extremen Rechten sind. Stephanie Bremerich bespricht das Buch von Björn Menzel und Jörg Kiffmeier unter deren Einsicht „In Deutschland läuft etwas schief“. Christian Stache rezensiert einen Band, der wichtige Grundlagentexte zum Thema Tierethik versammelt, jedoch auch „Die Grenzen bürgerlicher Tierethik“ noch einmal verdeutlicht. Um das Bürgertum geht es auch in der Besprechung von Walter Wüllenwebers Pamphlet „Die Asozialen“. Dieses sei laut Christian Baron wütend, weil es Angst vor dem sozialen Abstieg hat und daher die Armen mittels der Botschaft: „Leistung, Leistung über alles“ zur „faulen Unterschicht“ erklärt .

Abschließend möchten wir noch auf zwei weitere Dinge hinweisen. Zuallererst bedauern wird, dass uns nach dieser Ausgabe zwei geschätzte Redaktionsmitglieder verlassen: Laura Janßen und Martin Brandt. Wir wünschen den beiden alles Gute und danken für die engagierte Zusammenarbeit! Außerdem werden wir von der Redaktion eine Pause einlegen und werden im Oktober nicht erscheinen. Nach etwas mehr als drei Jahren intensiver Arbeit möchten wir etwas durchatmen und die Zeit nutzen, um über konzeptionelle Veränderungen von kritisch-lesen.de nachzudenken.

Wir wünschen Euch viel Spaß beim kritischen Lesen und freuen uns aufs Wiederlesen!

Zu den Rezensionen.

kritisch-lesen.de Nr. 32: Deutschland im Krieg

Dass militärisches Handeln von deutschem Boden aus wieder denkbar ist, zeigte sich nicht erst in der Antrittsrede von Bundespräsident Gauck im Jahr 2012, in der er die Bundeswehr als „Armee des Volkes“ bezeichnete. Bereits in den vorangegangenen Jahren –“ nicht zuletzt durch Joschka Fischers Plädoyer für einen militärischen Einsatz Deutschlands im Kosovo –“ fand eine Militarisierung der Außen- und Innenpolitik zunehmende Zustimmung in der Politik. Diese Normalisierung wurde begleitet von Forderungen nach der Wahrung universalistischer Menschenrechte und –“ im Falle des Kosovo –“ begründet mit einer historischen Verantwortung Deutschlands, ein neues Auschwitz zu verhindern. Weitgehend ausgeblendet bleiben in der öffentlichen Debatte das aufpolierte geschichtspolitische Selbstverständnis des „Demokratieweltmeisters“, die humanitären Auswirkungen der Kriege und die ökonomischen und geopolitischen Interessen, die mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden.

Innerhalb der Linken bildet das Thema Antimilitarismus ein Feld für grundsätzliche theoretische Kontroversen. Praktisch agiert wird dort, wo die Bundeswehr zunehmend präsent ist und Akzeptanz erfährt. An vielen Orten finden zahlreiche kreative Proteste gegen Auslandseinsätze, die Rekrutierung von potenziellen SoldatInnen an Schulen und Universitäten und die Militarisierung des Inneren statt.

Mit dieser Ausgabe wollen wir uns mit der Militarisierung der Gesellschaft befassen und Impulse für linke Auseinandersetzungen mit dem Thema liefern. Dafür bespricht Christin Bernhold zunächst das Buch „Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen“ von Norman Paech und Gerhard Stuby und diskutiert die Bedeutung des Völkerrechts für die Legitimierung von Bundeswehreinsätzen im Ausland. Völkerrecht, so stellt sie heraus, wird hier zum Feigenblatt für Machtpolitik in internationalen Beziehungen. Mit solcherlei Legitimationsstrategien beschäftigen sich die folgenden Besprechungen. In der Rezension „–šWir–˜ über –šuns–˜ und –šdie Anderen–˜“ zum Buch „Heimatdiskurs“ zeigt Rita Werth auf, wie im Namen der Modernisierung und der Emanzipation Militäreinsätze von Deutschland aus für notwendig erklärt werden. Dem Humanismus als Begründung für Kriegseinsätze widmet sich auch Christian Baron in „Sehnsucht nach dem Stahlbad“, einer bissigen Rezension von Bernd Ulrichs „Warum Deutschland Krieg führen darf. Und muss“. Heinz-Jürgen Voß geht es in der Besprechung des Buchs „Gendering 9/11. Medien, Macht und Geschlecht im Kontext des –šWar on Terror'“ von Andrea Nachtigall speziell um die Legitimation des Afghanistaneinsatzes.

Mit der Bedeutung von Militarisierung für die kapitalistische Staatenkonkurrenz befasst sich Ruldoph Bauer in der Rezension des Buches „Geopolitik“ von Tobias ten Brink. Der Frage nach Waffenproduktion in Deutschland und deren Export in andere Länder geht Sophia Hoffmann nach, die das Buch „Bombengeschäfte –“ Tod made in Germany“ von Hauke Friedrichs bespricht. Adi Quarti widmet sich in seiner Rezension „Die neue Dimension“, die mit dem Buch „Drohnenkrieg. Tod aus heiterem Himmel - Morden per Fernbedienung“ die neuesten technischen Entwicklungen in der unbemannten Kriegsführung aus den USA vorstellt. Neben der fachwissenschaftlichen Diskussion um den Afghanistaneinsatz haben aktuell auch Romane, die Einfluss auf Militärdiskurse in Deutschland haben, Konjunktur. Stephanie Bremerich diskutiert mit „Fiktion als Alibi“ den Antikriegsroman „Jenseits von Deutschland“, der mit seinem Anliegen jedoch das Genre verfehlt hat. Einen tatsächlichen Erlebnisbericht hinterfragt in „Wir fühlten uns bereits wie Kriegshelden“ Fabian Virchow. Das Buch „Vier Tage im November. Mein Kriegseinsatz in Afghanistan“ von Johannes Clair offenbart das Selbstbild eines ehemaligen Fallschirmjägers.

Mit dem Konzept der Nachwuchsrekrutierung der Bundewehr an Schulen und Universitäten befassen sich drei Rezensionen. Elke Michauk bespricht in „Im neuen Gewandt: Offensive Bundeswehr an Schulen" den Einfluss des Militärs auf Bildungseinrichtungen und betont dabei die vielfältigen Aktivitäten gegen die Rekrutierung an Schulen. Ebenfalls mit dem Wirken der Bundeswehr an Schulen und der Gegenwehr beschäftigt sich Ismail Küpeli in seiner Rezension des Buches „Soldaten im Klassenzimmer“. Christoph Golasch widmet sich dem Buch „Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium“, das die zunehmende Bereitschaft der Universitäten, Drittmittel aus der Rüstungsforschung einzuwerben, zum Thema hat.

Abschließend werfen wir einen Blick auf die außenpolitische Debatte der Partei DIE LINKE. Christian Stache war selbst langjähriges Mitglied der Partei und des ihr nahestehenden Jugendverbandes ['solid]. Er kritisiert in seiner Rezension „Zu den Waffen, Genossen!“ das Buch „Linke Außenpolitik“ und damit den aktuellen Versuch einer Neukonzeption der außenpolitischen Ausrichtung der Partei.

Den Anfang bei den Rezensionen außerhalb des Schwerpunkts macht Jens Zimmermann, der die aktuelle Publikation zu „Obamas Krisen-Empire“ von Ingar Solty empfiehlt. Andrea Strübe widmet sich in ihrer Rezension „Was sich nicht bewährt“ der umfangreichen Studie „Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik“ um das Team des Jenaer Soziologen Klaus Dörre, in der die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre alles andere als gut wegkommen. Der Tod eines Anti-AKW-Aktivisten ist Aufhänger von „XXX“, einem überraschenden „Atomkraft-Krimi“ von Martin Sudermann, den Alice Freitag gelesen hat. An den Dimensionen des Themas scheitert Robert Claus zufolge eine Arbeit zu „Rechtsextremen Strategien im Sport“. Der Sammelband „Migration und Arbeit in Europa“ fokussiert laut der Rezensentin Hannah Schultes zwar ein wichtiges Thema, dennoch kommt sie in ihrer Rezension „Gäste, die arbeiten“ zu einem gemischten Fazit. Schließlich beschäftigt sich Moritz Altenried anhand des Buches „Die Prekarisierungsgesellschaft“ von Oliver Marchart mit der Frage, wie Proteste gegen Prekarisierung gesellschaftstheoretisch gefasst werden können.

Und nun noch zum Schluss: Kritisch-lesen.de ist nun seit drei Jahren online! Nach 32 Ausgaben mit 340 Rezensionen, interessanten Diskussionen und vielen Höhen und Tiefen blicken wir zurück auf drei wunderbare, arbeitsintensive, nervenaufreibende und ereignisreiche Jahre. Wir danken allen Leser_innen, Autor_innen und Freund_innen, die uns in dieser Zeit so tatkräftig unterstützt haben! Nach der nächsten Ausgabe, die mit dem Schwerpunkt Kritische Soziale Arbeit am 1. Juli erscheint, werden wir eine Pause einlegen, um ein bisschen durchzuatmen und über kritisch-lesen.de nachzudenken. Wir würden uns freuen, wenn ihr uns eure Eindrücke an info@kritisch-lesen.de schicken würdet: Was gefällt euch an kritisch-lesen.de, was nicht, welche Ausgaben fandet ihr besonders gut, welche Themen interessieren euch, was können wir besser machen?

Rezensionen zum Schwerpunkt

kritisch-lesen.de Nr. 31: Kunst in Ketten

Foto: Jörg Möller
Dass Kunst und Politik untrennbar zusammengehören, ist weder in bürgerlichen noch in linken Kreisen eine Selbstverständlichkeit. Seit dem Aufkommen des Bürgertums und der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, die die Kunst aus ihren religiösen und höfischen Abhängigkeiten befreiten, nennt man die Kunst „autonom“ und sagt ihr nach, sie dürfe „alles“. Allerdings unter der nicht unwichtigen Bedingung, dass sie dabei bitte schön in ihrer Sphäre bleiben und sich nicht allzu sehr in politische Angelegenheiten mischen soll. Das überschießende Potential, das die Kunst besitzt, liegt damit weiterhin in Ketten –“ statt Kirche oder Königen gehorcht sie heute Marktgesetzen. Die Mehrheit der Linken wiederholt diese Trennung in Kunst auf der einen und Politik auf der anderen Seite, wenn sie die Kunst zum netten Begleitprogramm nach der politischen Diskussionsveranstaltung degradiert und sie nicht als eigenständiges Medium der Erkenntnis und Erfahrung anerkennt. Was aber macht die Kunst zu einem politischen Medium? Mit welchen Mitteln operiert sie, um die Grenzen des Sagbaren zu sprengen? Wie wird sie nicht nur politisch, sondern auch politisch wirksam? Wir wollen in dieser Ausgabe einen Blick auf das Politische der Kunst in ihren verschiedenen Facetten werfen. Was will, kann, darf Kunst? Was und wen bewegt sie? Und nicht zuletzt interessiert uns die Frage, wo Widerständigkeit anfangen kann, wenn von Kunst die Rede ist.

In „Wa(h)re Fiktion“ lobt Stephanie Bremerich einleitend den neuen Band von Markus Metz und Georg Seeßlen, der zeigt, dass ein Abgesang auf die Medien- und Unterhaltungsindustrie nicht notwendigerweise kulturpessimistisch daherkommen muss. Interessanter als die Thesen findet die Rezensentin den „Scharfsinn und Weitblick“ der beiden Buchautoren. Wer glaubt, über den Kunstverkauf eine Revolution anzetteln zu können, verrät sowohl sein Unverständnis darüber, wie kapitalistische Warenproduktion funktioniert, als auch über die Eigenschaft von Kunst, deren Warencharakter Teil des Problems und nicht der Lösung ist. Dass es sich bei Friedrich von Borries' Roman „RLF“ letztlich um nichts anderes als eine besonders „kreativ“ dahergekommene Verkaufsstrategie handelt, darauf weist Johannes C. Reinhardt in seiner Rezension deutlich hin.

Anschließend widmen wir uns in unserem Schwerpunkt mit der Literatur einer spezifisch künstlerischen Ausdrucksform. Sharon Dodua Otoo kritisiert in ihrer Rezension „Die Kunst über Rassismus zu schreiben“ die deutsche Übersetzung des Klassikers „Playing in the Dark“ von Toni Morrison, der die Repräsentationen Schwarzer Personen in der Literatur und diese als einen Ort der Auseinandersetzung mit und der Reproduktion von Rassismus analysiert. Morrison kommt zu dem Schluss, dass literarische Produktionen nicht frei von rassistischen Zuschreibungen sind und dass sie sich oftmals Schwarzer Personen bedienen, um eine weiße Überlegenheit darstellen zu können. Jan-Paul Koopmann bespricht den Aufsatzband „Diskurs-Pogo“, in welchem der Autor Enno Stahl die Abwesenheit der ökonomischen Verhältnisse innerhalb der deutschen Gegenwartsliteratur bemängelt. Denn für Stahl gilt, dass Literatur die soziale Wirklichkeit abzubilden habe. Auch wer in seiner Lyrik Israel als Übel der Welt denunziert und sich als ehemaliger Waffen-SS´ler als Opfer der Geschichte wähnt, wie dies Günter Grass getan hat, hat von dieser sozialen Wirklichkeit wenig begriffen. Andrea Wierich bespricht in „Der Hobby-Richter und seine fröhlichen Henker“ einen Sammelband, der die Kritikwürdigkeit dieses kanonischen Autoren der deutschen Literatur in unterschiedlicher Qualität nachvollzieht. Mariana Schütts Rezension von Robert Cohens „Exil der frechen Frauen“ zeigt hingegen exemplarisch anhand von drei Autorinnenbiografien, wie es der Literatur gelingt, der Geschichte Erinnerungen abzutrotzen, die das wirkliche Leben auszulöschen vorhatte, und Erfahrungen zu konservieren.

Auch das Theater soll nicht ohne Aufmerksamkeit bleiben. Wer sich heutzutage bei Theaterbesuchen ungut an Kino- und Fernsehfilme erinnert fühlt und ratlos ob der Stückaussage bleibt, ist wohl an ein postdramatisches Stück oder in eine postdramatische Inszenierung geraten. In seiner Rezension der „Kritik des Theaters“ von Bernd Stegemann zeichnet Christian Baron nicht nur die Pseudoradikalität des postdramatischen Theaters nach, sondern kritisiert zugleich ein heutiges postmodernes Bewusstsein, das in seiner Konsequenz aufklärerische Ideale untergräbt und durch den Mangel an Deutlichkeit in die Affirmation des Bestehenden mündet.

Mit „This is not a Love Song...“ widmet sich Antje Meichsner einem neu aufgelegten Buch des Poptheoretikers und Musikjournalisten Martin Büsser, der Popmusik stets als „Ausdruck politischer und sozialer Bewegungen“ begriffen hat. Meichsner stellt heraus, dass Büsser der Popmusik nicht naiv emanzipatorisches Potenzial unterstellte beziehungsweise keinen Musikstil „als Zugpferd für mögliche linke Identifikationsbedürfnisse“ hochstilisierte. Die feministische Perspektive gerät der Autorin jedoch meist zu kurz. Luna Picciotto bespricht „Women Artists“, ein Sammelband, in dem unterschiedliche Künstlerinnen vorgestellt werden. Die Rezensentin befasst sich mit der Sichtbarkeit von Frauen im Kunstbetrieb und hinterfragt die politische Sinnhaftigkeit eines Sammelbandes, der explizit Künstlerinnen betrachtet, die abgesehen von der Kategorie Geschlecht nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen. In „Kämpfe um Kunst und Politik" bespricht Jens Kastner das Buch „Hegemonie im Kunstfeld“, in dem der Autor Oliver Marchart anhand der Kasseler Documenta-Ausstellungen mit soziologischen Mitteln zeigt, dass diese die Linie der allgemeinen Kulturproduktion beeinflussen und ständig mit politischen Kämpfen inner- und außerhalb des Kunstbetriebs in Verbindung stehen. Doch wurde vor allem bei der letzten Documenta deutlich, dass hier weniger irritiert denn politische Verhältnisse reproduziert wurden.

Die letzten drei Schwerpunktrezensionen setzen sich mit engagierter Kunst auseinander, also mit Kunst, deren Ziel die direkte politische Intervention ist. Für Franziska Matthis bietet die Textsammlung „Kunst –“ Krise –“ Subversion“ zahlreiche praktische Beispiele subversiver künstlerischer Aktionen. Eine konkrete politische Aussage dieser Aktionen lässt sich jedoch für die Rezensentin nicht immer klar ableiten, was die Frage nach der grundsätzlichen Wirkkraft direkter Kunstinterventionen aufwirft. Hiermit ist auf eine Kernproblematik verwiesen, wenn es um die Frage nach politischer Wirksamkeit von Kunst geht. Denn wie Kunst rezipiert wird und welche Fragen sie aufwirft, ist letztlich auch Kämpfen um Deutungshoheit unterworfen. Andrea Strübe fokussiert diesen Punkt in „Die Kunst der Wahrheit“. Der besprochene Ausstellungsband „Freedom of Speech“ mache deutlich, dass Kunst zwar das Potenzial habe, Wahrheiten auszusprechen, aufgrund ihrer ästhetischen Eigengesetzlichkeit aber nur indirekt und vermittelt auf politische Ereignisse einwirken könne. Einen ebenfalls kritischen Blick auf die Grenzen von künstlerisch-politischem Aktivismus wirft der weitere Ausstellungsband „nicht alles tun“ von Elisabeth Bettina Spörr und Jens Kastner, den Lennart Krauß besprochen hat. Der Rezensent verdeutlicht in „Ungehorsame Mikropolitiken“ die Gefahr, dass Praktiken zivilen Ungehorsams staatlicherseits vereinnahmt werden können.

In den weiteren Rezensionen haben wir wieder einige aktuelle Bücher für Euch. Patrick Schreiner hat „Bildungschancen und Verteilungsgerechtigkeit“ von Kai Eicker-Wolf, Gunter Quaißer und Ulrich Thöne gelesen und lobt mit „Zwischen Mangel und Markt: Bildungsmisere in Deutschland“ trotz einiger Schwächen deren Verdienst, Defizite der Bildungsforschung und die Maxime „Haushaltskonsolidierung über Bildung“ herausgearbeitet zu haben. Adi Quarti widmet sich in „Die anderen USA“ dem aktuellen Werk von David Graeber, „Direkte Aktion“, welches Einblicke in gegenwärtige politische Massenbewegungen liefert. Die Biografie eines politisch Bewegten hat sich Sebastian Kalicha mit „Nirgendwo daheim mit Bruno Vogel“ vorgenommen. Dieser Anarchist und Homosexuellen-rechtler wird in einem umfassenden Werk von Raimund Wolfert erstmals gewürdigt. Nicht ganz so gut kommt der vielbeachtete Roman „Eskimo Limon 9“ weg, den Michaela Hartl besprochen hat. Durch eine popkulturell fixierte Erzählweise werde die Aktualität des Antisemitismus zeitweilig verharmlost. Elke Michauk wirft einen Blick auf ein vernachlässigtes Feld linker Bewegungsforschung: Mit dem Buch „Soziale Kämpfe in Ex-Jugoslawien“ sei zwar ein blinder Fleck wichtiger Bewegungen aufgegriffen, doch leider nach eurozentristischem Muster bearbeitet. Christian Stache wirft in „Die Krise der Regulation“ einen kritischen Blick auf den Sammelband „Fit durch die Krise“, in dem der marxistische Ansatz der Regulationstheorie vor dem Hintergrund der aktuellen Krise reflektiert wird. Franziska Scholl bespricht mit „Der Versuch einer Rationalisierung“ das Buch „Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt“ von Peter Ullrich, welches den Versuch unternimmt, zwischen den antiimperialistischen und antideutschen Positionen zum Thema zu vermitteln. „Im Trüben gefischt" hat Friedrich Burschel bei der Lektüre zu „Europas radikale Rechte" von Andreas Speit und Martin Langenbach, deren Reportagenstil zwar angenehm sei, an Tiefe jedoch zu wünschen übrig lasse. Die Reihe „Philosophie für Einsteiger“ hat sich an der bildlichen Vermittlung der Marxschen Thesen versucht. Torsten Bewernitz beschreibt in „Mal mal Marx“ das Dilemma dieses gut gemeinten Sachcomics.

Wir wünschen Euch ein tolles Jahr und viel Spaß beim kritisch-lesen!

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kritisch-lesen.de Nr. 30: Umkämpfte Migration

Flüchtlingscamp in Stuttgart
August 2013Foto: facebook.com/RefugeeProtestStuttgart
Ob auf hoher See, durch die Errichtung von Knästen, die Modifizierung von Aufenthaltsgesetzen oder Racial Profiling im deutschen Grenzgebiet –“ in allen Fällen zeigt sich: Einwanderung unterliegt einem Kontrollregime mit einem immer weiter ausufernden Einzugsbereich. In der Mainstream-Migrationsforschung dominiert die Vorstellung von Migration als linearem Ortswechsel, an dessen Ende die „Wiedereinpflanzung“ in ein anderes staatliches Territorium steht. Über Folgen von Migration wird öffentlich meistens in Verbindung mit Themen wie Sozialhilfe, Kriminalität, Verfassungstreue, Sexismus und Bildung gesprochen –“ mit der für die Betroffenen dahinter stehenden Anweisung zur „Integration“. Aber warum wird der historische Normalzustand, die Existenz von Migrationsbewegungen, als derart kontrollbedürftig begriffen? Kritische Perspektiven skandalisieren nicht nur den Rassismus in Institutionen und Alltag, sondern zeigen auch auf, dass der Nationalstaat durch Migrationsbewegungen und Praktiken von Migrant_innen fortwährend herausgefordert wird. Denn die Ideologie des Nationalstaats besagt, dass sein Souverän durch ein sesshaftes Volk gebildet werden muss. Altbekanntes wird neu erinnert, wenn Grenzen, Ausbeutung und Rassismus unter der Perspektive des Widerstands betrachtet werden. Wir fragen deshalb in dieser Ausgabe, was es bedeutet, Migration nicht als an- und abstellbaren Wasserhahn zu begreifen, wie es staatstragende Perspektiven tun. Diese Kämpfe stehen auch im Fokus einer am 4. September erschienenen Erklärung des Netzwerks kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet), die wir unterstützen. Darin heißt es: „Wir antworten dem alten, neuen Rassismus mit einem kosmopolitischen, den nationalen Albtraum hinter sich lassenden Verständnis von Gesellschaft, das die freie Mobilität aller und das Recht auf politische und soziale Teilhabe voraussetzt –“ unabhängig von Papieren und Status. Solidarisieren wir uns mit den Kämpfen der Migration.“ Bei der Betrachtung aus der Perspektive der Kämpfe geht es uns auch um zwei weitere Fragen: In welcher Gestalt treten diese Kämpfe gegenwärtig wo auf? Wie transformieren die Kämpfe von Migrant_innen Kapitalismus, Rassismus und Migrationspolitiken?

Was es heißt, Rassismus in Konjunkturen zu erfassen oder Migrationsgeschichte als Geschichte von sozialen Kämpfen zu untersuchen, zeigt die Arbeit "Die windige Internationale" von Manuela Bojadzijev, die Katharina Schoenes in ihrer Rezension „Perspektiven der Befreiung“ würdigt. Der selbstorganiserte Streik von Migrant_innen bei der Firma Pierburg vor vierzig Jahren ist Gegenstand eines Buches, das Sebastian Friedrich in seiner Rezension „Noise bei Pierburg" als materialreiche Dokumentation eines denkwürdigen historischen Beispiels für erfolgreiche soziale Kämpfe seitens Migrant_innen in Deutschland empfiehlt. Wie es gegenwärtig um die Kämpfe der Migration und die Artikulation von Rechten bestellt ist, zeigt der Band „Wer MACHT Demo_kratie?“, den Heinz-Jürgen Voß gelesen hat. Daran anschließend rezensiert Biplab Basu die Interview- und Essaysammlung „InderKinder“, die Perspektiven auf die indisch-deutsche Migrationsgeschichte versammelt. „Migration und Regulierung“ lautet der Titel eines von Magnus Treiber rezensierten Buches Buches von Ceren Türkmen, die sich kritisch mit der Verhandlung und Vereinnahmung von migrantischen Praktiken unter den Schlagworten Identität und Kultur in der deutschen Kulturindustrie auseinandergesetzt hat.

Auf der Ebene europäischer Migrationspolitik wird stets die Drittstaatenregelung als einschneidende Veränderung benannt, die in Deutschland seit 1993 gilt. Zum anderen sorgen die findigen Praktiken von Migrant_innen auf dem Weg nach Europa für die Entstehung sich stetig verändernder Migrationsrouten, die auch durch Organisationen wie Frontex oder die Internationale Organization of Migration (IOM) beobachtet und analysiert werden. Das von Marika Pierdicca rezensierte Buch „Bilal“ zeigt exemplarisch auf, wie das Bewältigen einer Transitroute wie der vom Senegal nach Lampedusa aussehen kann. Jens Zimmermann bespricht analog dazu den Sammelband „Grenzregime“, anhand dessen er zentrale Thesen von der „Europäisierung der Migrationspolitik“ bis zur „Externalisierung von Grenzen“ erläutert. In welcher Weise sich die rassistische Ausgangslage für Migrant_innen in europäischen Ländern verändert, zeigt der Band „Nation –“ Ausgrenzung –“ Krise“, den Zülfukar Çetin für kritisch-lesen gelesen hat. Den Komplex Abschiebung mit der ihm eigenen Logistik, seinen Bedingungen, seinen verschiedenen Orten der Produktion von Leid ebenso wie des Widerstands beschreibt Miltiadis Oulios in seinem Buch „Blackbox Abschiebung" –“ Martina Benz macht uns seine „Theorie der Abschiebung" zugänglich, die von zahlreichen Porträts von „Leuten, die gerne geblieben wären" begleitet wird. „Im Land der Frühaufsteher“ ist der Titel eines Romans, dem es laut der Rezensentin Sharon Otoo gelingt, die schwierige Frage nach den unterschiedlichen Perspektiven von Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten aufzugreifen und zu lösen. Um die Verschiebung der Perspektive geht es nach Bente Gießelmann auch in dem Buch Antiziganistische Zustände 2, dessen Autor_innen mit ihrer kritischen Intervention die gesellschaftliche Mitte auffordern, ihre eigenen antiziganistischen Stereotype zu hinterfragen.

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Erfahrungen von Krankheit von undokumentierten Lateinamerikaner_innen sind nach Susann Huschke durch mehr als das physische Leiden geprägt: Durch Illegalisierung entsteht auch ein „soziales Leiden", das gesundheitsschädlich ist. Flaminia Bartolini rezensiert Susann Huschkes Studie, in der deutlich wird, dass unter anderem eine gemeinsame Lobbyarbeit der Versorgungsanbietenden noch immer fehlt. Das Wohlergehen von anderen als Aufgabe von Migrantinnen hat hingegen Konjunktur: Im Bereich der durch „Wohlstandsgefälle“ entstandenen Care-Arbeit sorgen Frauen einerseits für „fremde“ Haushalte, andererseits auch für ihren transnationalen Haushalt. Wie das Leben ukrainischer Hausarbeiterinnen sich dadurch verändert und was das über den Komplex Geschlecht, Klasse und Migration aussagt, ist in „Transnationales Haushaltsmanagement“ von Irene Messinger zu erfahren, die das Buch „Hausfrau für zwei Länder sein" rezensiert.

In weiteren aktuellen Rezensionen außerhalb des Schwerpunkts diskutiert zunächst mit „Staatsverschuldung: Geliebter Feind“ Patrick Schreiner Ingo Stützles Buch „Austerität als politisches Projekt“, das unter anderem die dominante Rolle der neoliberalen Wirtschaftspolitik Deutschlands innerhalb der europäischen Währungsunion aufarbeitet. Christian Baron lobt in „Der elitäre Blick auf soziale Probleme“ die Neuerscheinung des Elitenforschers Michael Hartmann, die –“ den Zusammenhang von Armut und Reichtum voraussetzend –“ Einstellungen in der sogenannten Elite und ihre Hintergründe sowie Erklärungsansätze für fehlendes Klassenbewusstsein der Lohnabhängigen präsentiert. In „Die menschliche Seite der Dekonstruktion“ beglückwünscht Philipp Dorestal den Autor Benoît Peeters für eine gelungene Biografie über den Philosophen Jacques Derrida. Anders Sebastian Kalicha, der nach dem Lesen der Autobiografie des Jazz-Musikers Charles Mingus dessen Musik nicht mehr unbeschwert hören kann, wie er in „Jazz + Sex hoch zwei“ erklärt. Christian Stache erläutert in seiner Besprechung des Buches „Antispeziesismus“ von Matthias Rude aus materialistischer Sicht, warum erst mit einem konsequenten Antikapitalismus die Beendigung der Ausbeutung von Mensch und Tier gelingen kann. Zu welchem Denken etwas theoretisch so unhaltbares wie die Extremismustheorie führen kann, zeigt Friedrich Burschel in „Lenin heißt jetzt Jesus“. Darin polemisiert er gegen Sabine Rennefanz, die meint, aufgrund ihrer DDR-Sozialisation Verständnis für die rassistischen Morde des NSU aufbringen zu müssen. Eine neue Veröffentlichung zum Thema Intergeschlechtlichkeit lässt Inters* selber zu Wort kommen –“ „jenseits ihres Status als Betroffene“. Nach der Lektüre lobt Andreas Hechler viel und kritisiert Weniges in seiner Besprechung „Hermstories“. Martin Brandt fokussiert in seiner Rezension „Sprachpolitik als Klassenprivileg“ schließlich einige theoretische Schwachstellen der aktuellen sprachpolitischen Intervention Lann Hornscheidts und plädiert für einen entspannteren Umgang in der politischen Praxis.

kritisch-lesen.de Nr. 28: Sport - Zwischen Unterwerfung und Emanzipation

Glasmosaik "Sport" von Eduard Bargheer
Foto: Michael Gäbler
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Profisport. Freizeitsport. Breitensport. Leichtathletik. Ski fahren. Tischtennis. Sport ist Mord. Sportschau gucken. Männersport. Rad fahren. Badminton. Extremsport. Sportskanone. Unsportlich. Sporthalle. Sportgeschäft. – Sport ist, wie diese kurze Aufzählung zeigt, vor allem sehr vielschichtig und unübersichtlich, eine klare Bestimmung dessen, was ihn ausmacht, ist schwer zu treffen. Ausbruch aus oder Bestätigung der bestehenden Unterdrückung? In jedem Falle ist Sport ein Spiegel der jeweiligen Verhältnisse, in denen er stattfindet. Wir versuchen in dieser Ausgabe, zumindest einige seiner Aspekte näher zu beleuchten.

In diesem Schwerpunkt stellen wir drei (Auto)Biografien und drei wissenschaftliche Beiträge vor, die sich dem breiten Themenfeld aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Die Autobiografie „Mir wird nichts geschenkt“ von Susi Kentikian, der mehrfachen Profi-Boxweltmeisterin, bewertet die Rezensentin Cora Schmechel als gute Möglichkeit, sich mit der Verwobenheit deutscher Asylpolitik, Geschlecht und Sport auseinanderzusetzen, wenn die Lesenden bereit sind, mit einer gewissen Abstraktionsleistung an die Lektüre zu gehen. Die Rezension „Deutscher Faustkampf“ beschäftigt sich ebenfalls mit dem Boxsport. Bente Gießelmann kommt darin zu dem Schluss, dass es sich bei der Doppelbiografie des Sinto und Boxers Johann Trollmann und des SS-Manns und Fußballers Otto Harder um ein wichtiges Buch handelt, da es eine Geschichte der Verfolgung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus erzählt. Mit „Die Brüder Boateng – Drei deutsche Karrieren“ bespricht Moritz Merten eine dritte Sportbiografie. Wie schon Cora Schmechel in ihrer Besprechung zur Boxweltmeisterin Kentikian, hebt auch Merten kritisch auf die dort romantisierte Erfolgsgeschichte und liberale Lüge des „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ ab. Neben dem Buch über die Boateng-Brüder steht ein weiteres Fußball-Buch im Mittelpunkt. Im Sammelband „Fussball, deine Fans: Ein Jahrhundert deutscher Fankultur“ geht es allerdings nicht in erster Linie um die Sportler_innen, sondern um ihre Fans. Der Rezensent Jan Tölva sieht das Ziel des Buchs, eine umfassende Darstellung deutscher Fankultur zu leisten, als gescheitert an. Martin Brandt kritisiert in seiner Rezension „Sport und Feminismus“ der Sport-Ausgabe der Feministischen Studien die feministische Vereinseitigung von Sport als Körperdisziplinierung. Schließlich lobt Laura Janßen die bereits 1989 erstveröffentlichte Dissertation „Zwischen Turnschuh und Stöckelschuh“ als einen wenn auch nicht widerspruchsfreien, so doch wichtigen Beitrag zur lesbisch-feministischen Sportgeschichtsschreibung.

An unsere letzte Ausgabe erinnert in den weiteren Rezensionen das Thema des neu erschienenen Sammelbands „Banale Kämpfe? Perspektiven auf Populärkultur und Geschlecht“. In „Geschlecht in Pop revisited“ hebt peps perdu deren gelungene intersektionale Analysen hervor. Auch die Besprechung von Toni und Slade Morrisons „Die Kinderkiste“ knüpft an das Thema einer vergangenen kritisch-lesen-Ausgabe an: Die Rezensentinnen betrachten das Kinderbuch der Pulitzer-Preisträgerin und ihres Sohnes durch die Anti-Bias-Lupe. Ein von Sibille Merz rezensierter Sammelband des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung nimmt diskursive Verschiebungen in der Artikulation von Rassismen in den Blick. Sebastian Friedrich stellt abschließend einen Band zum Verhältnis von politischer Bildung und Befreiung vor, das erfreulicherweise den Faden zu einem traditionell linken Auseinandersetzungsfeld wieder aufnimmt.

Vor fast genau zwei Jahren am 31.03.2011 startete das Projekt kritisch-lesen.de. 27 Ausgaben später gibt es uns immer noch – auch dank der Unterstützung durch unseren Autor_innen- und Sympathisant_innenkreis sowie durch andere vernetzungsfreudige Medienmacher_innen. Zwei Neuigkeiten wollen wir euch zum Jubiläum mitteilen: Wir freuen uns, dass seit Januar 2013 Sara Madjlessi-Roudi und Martin Brandt Teil der Redaktion sind. Außerdem wird ab sofort kritisch-lesen nur noch vierteljährlich statt bisher monatlich erscheinen – wundert euch also nicht, wenn ihr im Mai und Juni nichts von uns hört. Die nächste Ausgabe wird am 2.7. erscheinen und sich mit Neoliberalismus und seinen Einflüssen auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche beschäftigen. Der neue Rhythmus ermöglicht uns, die jeweiligen Schwerpunkte intensiver und zufriedenstellender vorzubereiten. Auch möchten wir in Zukunft aus repräsentationstechnischen Gründen verstärkt weibliche Autor_innen dazu ermutigen, bei uns Rezensionen einzureichen.


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kritisch-lesen.de Nr. 27: Wer macht Medien?

Die Frage „Wer macht Medien?“ berührt zwei uns wichtig erscheinende Diskussionen. Zum einen steht der von der Frankfurter Schule formulierten Kulturindustrie-These, die eine scheindemokratische Teilhabe an massenhaft verbreiteten Medienprodukten kritisiert, die aus den Cultural Studies stammende Idee entgegen, dass die individuelle Aneignung von Medien und Populärkultur subversives Potenzial birgt. Ob dieses jedoch für die Veränderung der Gesellschaft bedeutsam ist oder auf der rein individuellen Ebene verbleibt, ist weiterhin umstritten. Zum anderen nimmt die Nutzung von Online-Medien und sozialen Netzwerken in letzter Zeit gehäuft Einfluss auf Entstehung, Verlauf und Ausgang medialer Debatten, wie die auch online forcierte Skandalisierung von Sexismus, Rassismus oder einzelner Medien wie der BILD-Zeitung zeigt. Wo die einen eine „Demokratisierung“ durch das Internet sehen, sehen andere den Schwerpunkt „Medienaktivismus“ skeptischer: Immer noch erfüllen Massenmedien entgegen gängiger medienwissenschaftlicher Annahmen, die Information, Meinungsbildung und Kontrolle betonen, vor allem eine herrschaftssichernde Funktion, indem sie Konsens organisieren.

Um den Herstellungsprozess dieses Konsenses zu analysieren, bietet die Neuauflage der vielfach auf Medientexte angewandten Einführung in die Kritische Diskursanalyse Ansatzpunkte, die Sebastian Friedrich in seiner Rezension als „Werkzeug für Veränderung“ bespricht. Er zeigt sich, dass neben Texten auch medial wiederholte Bilder bestehende Unterdrückungsverhältnisse konstruieren, bestätigen und legitimieren. Dr. Daniele Daude beschreibt in ihrer Rezension des Klassikers „Black Looks“ von bell hooks, wie eine Dekonstruktion rassistischer Bilder und eine „Entkolonialisierung“ dieses Archivs von Bildern aussehen kann. Eine andere Form des Widerstands stellt der durch Guppen wie Anonymous vertretene Online-„Hacktivismus“ dar – Sebastian Kalicha bespricht eine Neuerscheinung, die erklärt, was es mit DDoS-Attacken oder LulzSec auf sich hat. Mit der Frage nach einer Wirkmächtigkeit von Massenmedien auf internationale Politik analysiert Alexander Brand in seiner Dissertation ein Thema, das Sara Madjlessi-Roudi in „Vom 'CNN Effekt' und der 'Twitter Revolution'“ rezensiert. Eine Studie zur Darstellung von „Migrantinnen in den Medien“ bietet der Rezensentin Hannah Schultes zufolge zwar einen interessanten Fokus auf die Schnittstelle von gender und race, lässt aber auch einige Fragen hinsichtlich der Repräsentationskritik offen.

In den weiteren aktuellen Rezensionen befasst sich Adi Quarti in seinem Beitrag „Kontroverse Kommunismen“ mit dem zweiten Band von „Idee des Kommunismus“. Christian Stache hebt in der Rezension „Marxistische Antworten auf ökologische Fragen“ anhand des Buches „Der ökologische Bruch“ die Notwendigkeit einer ökologischen Revolution hervor. Eine Neuerscheinung zum Extremismusbegriff und der „Bildungsarbeit“ des Verfassungsschutzes bespricht Lotta Schwedler in ihrem Beitrag „Schulverweis für den Verfassungsschutz“.

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kritisch-lesen.de Nr. 26: Gedenkpolitik - Zwischen Mythos und Kritik

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Gedenken ist allgegenwärtig. Und während das Erinnern an Ereignisse der Geschichte genau diese lebendig erhalten und sich durch die Analyse des Vergangenen Perspektiven für das Kommende ergeben können, wird innerhalb offizieller Gedenkpolitik häufiger Geschichte an das Bestehende angepasst als an sie erinnert und kritisch reflektiert. Alljährig wird etwa der konservative Claus Schenk Graf von Stauffenberg als Widerstandskämpfer geehrt, während der linke Georg Elser allenfalls als Fußnote Erwähnung findet. Die Deutung über die Geschichte ist ein wichtiges Element herrschender Politik. Geschichtsdeutungen und -politik sind aber auch ein Feld, dessen sich traditionell auch Nazis annehmen: Seit vielen Jahren findet in Dresden um den 13. Februar ein „Trauermarsch“ statt, mit dem Nazis der Bombardierung der Stadt im Zweiten Weltkrieg gedenken. Der bürgerliche Protest dagegen versteht sich zwar als antifaschistisch, unterstützt aber dennoch den lange in DDR und BRD aufgebauten Opfermythos. Diese Deutung der Geschichte ist Ausdruck kollektiver Erinnerungspolitik, die durch ein breites bürgerliches Spektrum getragen wird, während linke antifaschistische Proteste jedes Jahr starker Repression ausgesetzt sind. Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Deutung der Geschichte und den Kämpfen im Hier und Jetzt, deren Zusammenhang wir in dieser Ausgabe untersuchen wollen.

Den Anfang macht Selma Haupt, die sich mit den deutschen Mythen hegemonialer Geschichtsschreibung befasst und das Buch „Zwischen Ignoranz und Inszenierung - Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation“ rezensiert, das anhand der Analyse der großen Erzählungen der Geschichte deutlich macht, wie mit dem Mythos die Vereinheitlichung dieser einhergeht und wie wichtig daher Erzählungen aus anderer Perspektive sind. Mit dem „Denkmalwahn“ der Deutschen befasst sich Yves Müller in seiner Besprechung des Buchs „Denken statt Denkmalen“ von Wolfgang Wippermann, der das Gedenken in Deutschland im Kontext eines „völkischen Nationalverständnisses“ sieht. Ulrich Peters stellt mit „Vergessen ist die Erlaubnis zur Wiederholung“ ein Beispiel dafür vor, wie die Auseinandersetzung der radikalen Linken mit Geschichte vonstattengehen kann: Die Besetzung des ehemaligen Geländes der Firma Topf&Söhne in Erfurt. Ein Medium des Gedenkens ist auch die Literatur: Als Beispiel dafür bespricht Thomas Möller die Graphic Novel „Die Kunst zu fliegen“, die die Biographie eines Spaniers im 20. Jahrhundert behandelt und damit eine ganz persönliche Form des Erinnerns schafft.

In den weiteren aktuellen Rezensionen formuliert zunächst Christian Stache mit „20 Jahre deutsche Politik mit anderen Mitteln“ eine Kritik an der Remilitarisierung deutscher Außenpolitik unter dem Label der Sicherheits- und Friedenspolitik. In „Verdacht auf Scheinehe“ skizziert Bente Gießelmann die behördlichen Konstruktionen von Scheinehen und die damit einhergehenden Verdächtigungen und repressiven Forderungen in Österreich. In „Geschlecht als Menschenrecht“ greift Martin Brandt die Arbeit des Bündnisses Stop Trans*-Pathologisierung 2012 auf und unterstreicht die Kritik an der Praxis, Menschen mit Trans*-Erfahrungen als psychisch krank zu stigmatisieren. Eine ähnliche Kritik bringt Anja Gregor in „Konstruierte Nicht-Existenz“ zum Thema Intergeschlechtlichkeit vor: Beide Rezensent_innen unterstreichen, dass mit der Pathologisierung Phänomene der zweigeschlechtlich strukturierten Gesellschaft als Probleme in die Individuen selbst verlagert werden. Schließlich widmet sich Hans See in seiner Rezension des Buches „Aufstand in den Städten" neuen Perspektiven antikapitalistischer Kämpfe.

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kritisch-lesen.de Nr. 25: "Alternative Kinderbücher"

Der Markt an Kinderbüchern ist riesig. Dennoch stehen Menschen, für die die Infragestellung gesellschaftlicher Normen und die Destabilisierung bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse wichtig sind, auf der Suche nach Kinderbüchern nicht selten ratlos vor den Regalen. Vielfach werden in Kinderbüchern Normen reproduziert und nur beschränkt Alternativen zu herrschenden Identifikationsangeboten sichtbar. Aber es gibt auch mutige Versuche, Bücher für jüngere Menschen zu schreiben, die dazu einladen Normen zu hinterfragen, die sich an „schwere“ Themen wagen und die dazu ermutigen, unkonventionelle Wege zu gehen. Nicht selten setzen diese Bücher auf gemeinsames Lesen von Kindern und Erwachsenen, um über das Dargestellte und darüber hinaus ins Gespräch zu kommen.

Der Berliner NoNo-Verlag ist bisher durch zwei explizit nichtnormative Kinderbücher in Erscheinung getreten, die wir uns genauer angeschaut haben. Es würdigen zum einen Joke Janssen in Intersektionen schreiben und zum anderen Laura Janßen und Martin Brandt in Nicht schwerelos durchs All jeweils diese ersten beiden Versuche, arbeiten aber auch offen ihre Kritik daran heraus. Wie in diesen ersten beiden Büchern sind Familien und deren vielfältige Formen auch Gegenstand in „Du gehörst dazu“, das Katja Musafiri in Selbstverständlich vielfältig für uns besprochen hat. Berit Wolter lobt anschließend in ihrer Rezension Coole Mädchen die unproblematisierte Darstellung von Homosexualität und die Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrer negativen Gefühlswelt. Es folgt die Rezension Als die Ente stirbt von Andrea und Nora Strübe, in der nicht nur mit der herkömmlichen Textform bei kritisch-lesen.de gebrochen wird, sondern auch mit dem Tabu, über den Tod zu sprechen. Abschließend bespricht Martin Brandt in seiner Rezension Um die Ecke gedacht das vor kurzem erschienene wortkritische ABC-Buch „machtWORTE!“.

Da wir in unserer Ausgabe nur einen kleinen Ausschnitt alternativer Kinderbücher bieten können, empfehlen wir auf folgenden Kinderbuchlisten selber fündig zu werden: Bücherliste zu unterschiedlichen Lebensrealitäten des Projekts „Gemeinsam für Akzeptanz“ sowie die Buchempfehlungen von Kinderwelten zu vorurteilsbewussten Kinderbüchern.

Außerhalb unseres Schwerpunkts finden sich in dieser Ausgabe vier weitere Rezensionen. Sebastian Kalicha zeichnet anhand der Biografie von Magda und André Trocmé die Geschichte des christlichen Widerstands gegen Nazideutschland und das Vichy-Regime rund um den französischen Ort Le Chambon-sur-Lignon nach. Von (r)echten Kerlen und hegemonialer Männlichkeit spricht Peps Perdu in ihrer Rezension zu einem Sammelband, der die Rechtsextremismusforschung um Ansätze Kritischer Männlichkeitsforschung ergänzen will. „Die Beschneidungsdebatte bedeutet eine neue Eskalationsebene des Diskurses der ,Integration'“ schreiben die Herausgeber_innen des Buches „Interventionen gegen die deutsche ,Beschneidungsdebatte'“. Koray Yılmaz-Günay stellt in seiner Rezension heraus, dass es bei dieser Debatte eben nicht nur um medizinische Eingriffe an Jungen geht, sondern immer auch um einen Verhandlungsrahmen innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Kontext, der eben auch auf verschiedenen Machtstrukturen beruht, die dieses Buch zu benennen weiß. Abschließend beschreibt Adi Quarti Kommunismen anhand des im letzten Jahr erschienenen Sammelbandes Die Idee des Kommunismus I. Ob aktuelle kommunistische Theorien und Praxen nun endlich der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung eine gelebte Alternative präsentieren, lässt unser Rezensent offen, „einen ausgezeichneten Überblick über den (Zu)Stand der Theorie“ liefert ihm der Band aber allemal.

Und noch ein kleiner Hinweis: seit Dezember gibt es kritisch-lesen.de auch zum Hören. Um 16:00 Uhr jeden zweiten Dienstag des Monats sendet Radio Z – das freie Radio aus Nürnberg – im Magazin für Kultur und Politik „Stoffwechsel“ Rezensionen aus unserer jeweils aktuellen Ausgabe. Für alle, die den Sender nicht empfangen können, aber nicht auf den Hörgenuss verzichten wollen, empfehlen wir das Archiv von freie-radios.net. Dort sind alle kritisch-lesen.de-Sendungen zu finden.

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kritisch-lesen.de Nr. 24: Kriegerischer Frieden

Am 10. Dezember ist es wieder soweit: der Friedensnobelpreis wird verliehen. In diesem Jahr darf sich niemand Geringeres als die Europäische Union über den Preis freuen. Während sich gefreut und darüber geredet wird, wie die EU den Frieden nach Europa brachte, ist kaum Kritik zu vernehmen. Dabei sind EU-Länder an kriegerischen Einsätzen auf dem gesamten Globus beteiligt und spielen bei der Rüstungsproduktion eine erhebliche Rolle. So ist Deutschland im Rüstungs-produktionsranking auf Platz drei weltweit und unter anderem seit elf Jahren in Afghanistan im Einsatz. Frieden sähe anders aus. Auch innerhalb der Linken gibt es irritierende Haltungen bei der Frage, wie man es eigentlich halten sollte mit dem Krieg. Befürwortungen werden auch bei sich als links bezeichnenden Menschen immer wieder laut. In den Hintergrund gedrängt wird die sich zwar in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten verändernde, aber noch immer existente imperialistische Dominanz einiger Staaten und Verbündeter, die den Frieden als Legitimation für militärische Einsätze immer wieder in Stellung bringen.

Gründe genug, um einen Blick auf aktuelle linke Antimilitarismus- und Antiimperialismusdebatten zu richten, um Diskussionen und Interventionen nachzuzeichnen. Und so appellieren die ersten drei Rezensionen, Antiimperialismus wieder verstärkt in linke Politik einzubinden: Zu Beginn bespricht Jens Zimmermann in Antiimperialismus revisited einen Sammelband der Linksjugend Solid und stellt heraus, dass in der Broschüre die Reaktualisierung theoretischer Positionen und empirischer Befunde des Antiimperialismus gelungen sind. Christin Bernhold empfiehlt in ihrer Rezension Imperialismus: Alter Wein in neuen Schläuchen den Begriff Imperialismus aus dem Theorie-Museum zu holen, denn dieser sei für die heutige Linke substantiell. In ebenjenes Museum begibt sich Christian Stache mit seiner Rezension Von der bestimmten Negation der klassischen zur neuen Imperialismustheorie. In dem bereits 1978 erschienenen Buch „Marx, Engels und die Imperialismustheorie der II. Internationale“ vertritt Hans-Holger Paul die These, dass durch die direkte Lektüre des Marxschen „Kapital“ (unter anderem durch Engels) die Befürwortung von Imperialismus seitens der RevisionistInnen und ReformistInnen zu erklären ist. Einer auch aktuell immer wieder aufscheinenden Debatte beim Thema Antimilitarismus, die mitunter auch große zivilgesellschaftliche Aufmerksamkeit erregt, widmet sich Sebastian Friedrich mit Forschung und (Anti-)Militarismus: der Zivilklausel an deutschen Hochschulen. Ein weiterer Strang, der linke Antimilitarist_innen seit jeher beschäftigt, ist der Pazifismus. Einen allgemeinen Blick auf „Pazifismus und Antimilitarismus“ wirft Sebastian Kalicha in Den „pazifistischen Hammer“ schwingen und bescheinigt dem Einführungswerk durch seine Facettenvielfalt eine Bereicherung für den linken Diskurs zum Thema. Zu Deserteuren im Zweiten Weltkrieg erschien jüngst das Buch „... und wenn sie mich an die Wand stellen”, welches Zülfukar Cetin bespricht und besonders aufgrund seiner Perspektive aus der Geschlechterforschung sehr lobt. Schließlich wirft Thomas Möller in Vier Jahre Kampf gegen den Kriegsgeist einen Blick in die politische Biographie des Pazifisten und engagierten Kriegsgegners Bertrand Russel.

In den weiteren Rezensionen befasst sich Dr. Daniele Daude in Performativität in der Akademie zunächst mit den Theorien zur Performativität von Erika Fischer-Lichte. Den biographischen Roman „Wie ich im jüdischen Manhattan zu meinem Berlin fand“ von Irene Runge hat Heinz-Jürgen Voß gelesen und ist begeistert von der Gelassenheit, die die Autorin trotz nicht immer schöner Erlebnisse behält. In einer weiteren Roman-Rezension widmet sich Paul Gensler dem neuen Philosophen-Roman von Irvin D. Yalom „Das Spinoza-Problem“, welches beim Rezensenten jedoch nicht so gut weg kommt. Zum Schluss geht Ismail Küpeli auf das Buch „Ordnung und Gewalt“ von Stefan Plaggenborg ein, sieht die angestrebten Intentionen jedoch nicht verwirklicht.

Noch ein kleiner Hinweis für die nächste Ausgabe: Im Januar werden wir nicht wie gewohnt am ersten, sondern ausnahmsweise am zweiten Dienstag erscheinen, also dem 8. Januar.

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