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Enzensberger: Vom "fliegenden Robert" zum fuchtelnden "Wüterich"

Arno Widmann hat in der "Frankfurter Rundschau" vom 5.1.2011 in tückisches Lob eingekleidet an die größte Erniedrigung, die tiefste Schande des ehemaligen Dichters Enzensberger erinnert. Enzensberger hat in einem leichtfertig "Meine Lieblings-Flops" genannten Buch an Fehltritte seines Schriftstellerlebens erinnert. Sehr schelmisch. Den größten hat er vergessen: Keinen Flop, sondern ein Verbrechen. Mit Recht beendet Widmann seine Besprechung so:

"Angesichts dieses heiteren Räderwerks einer unablässig kluge, fassliche Sätze produzierenden Schule der Geläufigkeit, erinnert sich der Leser an einen der Texte, mit denen Enzensberger die Position des fliegenden Robert aufgab und sein Publikum moralisch unter Druck setzte.
Die Pathos-Maschine angeworfen
Es war im Februar 1991, als er über Saddam Hussein schrieb: „Er kämpft nicht gegen den einen oder anderen innen- oder außenpolitischen Gegner; sein Feind ist die Welt. Die Entschlossenheit zur Aggression ist der primäre Antrieb; Objekte, Anlässe, Gründe werden gesucht, wo sie sich finden. Wer bei der Vernichtung zuerst an die Reihe kommt, ob Iraner oder Kurden, Saudis oder Palästinenser, Kuweitis oder Israelis, hängt nur von den Gelegenheiten ab, die sich bieten. Auch dem eigenen Volk ist dabei keine Sonderstellung zugedacht; seine Vernichtung ist nur der letzte Akt der Mission, zu der sich Saddam berufen fühlt. Der Todeswunsch ist sein Motiv, sein Modus der Herrschaft ist der Untergang. Diesem Ziel dienen alle seine Handlungen. Der Rest ist Planung und Organisation. Er selbst wünscht sich nur das Privileg, als letzter zu sterben.“ Hier hat Enzensberger die Pathos-Maschine angeworfen. Man sieht, wie er von Satz zu Satz ein immer größeres Rad immer schneller dreht. Es gibt an Saddam Husseins Herrschaft nichts zu beschönigen, aber sehr wohl an diesen Sätzen. Woher kommt dieser Wagnerklang?
Diesen Flop hätte man gerne erklärt. Vom Meister selbst"


Doppeltes Verbrechen Enzensbergers: Am eigenen Intellekt und an der Erkenntnisfähigkeit seiner Leserinnen und Leser. In besseren Tagen wusste er sehr genau, dass Faschismus als herrschendes System nicht auf eine einzelne Person und ihren Einfluss zurückgeführt werden konnte. Wenn er jetzt seinen Auswurf im "SPIEGEL" betitelte mit "Saddam- Hitlers Widergänger" verriet er jede bessere Erkenntnis.

Die Schilderung des Regierungs-Systems von Saddat selbst weicht nur gering ab vom BILD-Niveau: Der Irre von Bagdad. Das Schlimme nur: der angesehene Namen Enzensbergers verführte Heerscharen von bisher nur etwas weichbirnigen Studienräten- vor allem peinlicherweise auch solche mit dem Fach Politik oder Geschichte- zum unterwürfigen Nachlallen. Mit seinem Text hat sich Enzensberger zum gedankenlosen Propagandisten eines kriminellen Kriegs gemacht.

Dass Enzensbergers Verfall schon damals eine lange Vorgeschichte hatte, kann der Aufsatz von Olga Tescho aus dem untergegangenen "stattweb" in Erinnerung rufen.

Tescho, Olga:
Der Hass des Aufklärers auf die Massen - zum 80. von Enzensberger 12.November 2009
Wer achtzig wird, muss leiden. Von WELT, FAZ und SPIEGEL gnadenlos gepriesen. In jungen Jahren hatte Enzensberger sie alle angegriffen. Jetzt nahmen sie Rache. Allesamt lobten sie eines an ihm: dass er vom Abitur weg ein Luftikus gewesen sei. Ein Gedankenspieler. Niemals hätte er was ernst gemeint. Damit wäre er inzwischen wirklich der “Harlekin–, als den ihn Habermas nach dem Anschlag auf Dutschke in der bekannten Ansprache in der besetzten UNI Frankfurt hingestellt hatte. Dabei war er in jungen Jahren mit vollem Hass gegen die zugebunkerte Nachkriegs-BRD vorgegangen. Ganz im Sinne der von ihm Bewunderten - d–™ Alembert und Diderot, den Meistern der Aufklärung.

Seine Vorschläge für Atomwaffen-Gegner aus dem Jahr 1958 wirken heute fast rührend: Anzeigen in Zeitungen aufgeben! Versammlungen von Atomfreaks verstören durch schlaue Einwände! usw. Als hätte es auch damals noch viele gegeben, die nichts vom Atom gewusst hätten. Dass trotz alledem so wenige sich durch die Erkenntnis aufschrecken ließen, übersah Enzensberger im Eifer. Solange der Eifer ihn obenhielt und trug. Bei den Demos der 68er war er noch voll dabei. Nach Kuba zweigte er ab - von einer Vortragsgastreise in den USA. Selbst seine Enttäuschung angesichts der dortigen Verhältnisse führte noch nicht zu dem inneren Gebrochensein, das ihm heute manche nachsagen. Die Gesänge “Der Untergang der TITANIC–, die er danach verfasste, enthalten noch in der Wut, im Impuls der Abstoßung, dem verstörten “NEIN– ein festhaltendes “JA– - an der Hoffnung, der eigenen, gehabten und der einstigen der Menschen in Kuba.

Inzwischen muss aber der Zorn des Aufklärers sich in ihm gesammelt haben: der auf die Gleichgültigkeit der Massen. Mehr und mehr ergab sich Enzensberger den üblichen massenpsychologischen Hass-Ergüssen in SPIEGEL-Artikeln “Sie denken nicht! Sie denken nicht!– wie der König Peter aufschreit in Büchners “Leonce und Lena–. Aus dem Willen zur gemeinsamen Erkenntnis “mit allen– wird die immer dicker kochende Wut auf die Reglosigkeit der Vielen.

Nur aus der Erbitterung gegen die, die die Samenkörner des Aufklärers steinig verweigern, lässt sich Enzensbergers tiefster und verächtlichster Fall erklären. Verächtlich nicht etwa nur die Gutheißung der Verbrechen von Bush Senior! Geistiger Selbstmord dabei die Schnapsidee, Saddam, einer der gewöhnlichsten Militärdiktatoren, sei Hitlers Widergänger. Enzensberger beliebte das Bad in der Jauche - mit den entsetzlichsten Wesen tummelte er sich als Kriegshetzer. Man muss erlebt haben, wie in jedem gymnasialen Lehrerzimmer ein ergrauter Kollege den SPIEGEL mit - dieses Mal begeistertem! - Rotstift markierte und mehr und mehr vergaß, wie der Erzschleimschütter selbst, was beide jemals über Entstehung und Fortbestand von Faschismus gehört hatten. Man war wieder in die sechziger Jahre zurückgesunken. Faschist war einfach ein anderes Wort für “Arschloch– geworden. Zwanzig Jahre Analyse dahin...

Seither ging es mit Enzensberger bergab. Wenn er gerade mal Geld brauchte, setzte er beim SPIEGEL was Verzerrtes ab - “voller Hass gegen die Niedrigen–. Was hat er - der wirklich große Geist - falsch gemacht, dass er jetzt das volle Lob all derer über die Ohren geschüttet bekommt, die er einst angriff?

Vermutung: Er nahm Aufklärung zeitlebens als Flug des Wissenden - über die Köpfe der Unwissenden weg. Er weigerte sich am Ende, sich auch am Irrtum der Massen zu beteiligen, aus dem vielleicht Stücke von Mehrwissen, ein wenig genauerer Erkenntnis sich entwickeln. Seine Stelle wurde die des “Fliegenden Robert–, des ewigen Drüberfliegers

–Drun sollt ihr Menschen nicht in Zorn verfallen/ Denn jede Kreatur braucht Mitleid von uns allen– - frei nach Villon. Die Leiden aller Kreatur auch an sich selber zu entdecken - dazu war er zu unberührbar. Auch zu eitel. Und versank im Massenhass in dem Schlamm, aus dem ihn die Anbeter jetzt ausgegraben und aufgebahrt haben.

Quellen: Enzensberger: Verhör von Havana (1970) / Enzensberger: Untergang der Titanic (1978)

Angelika Ebbinghaus: Aufspürerin einer anderen Vergangenheit

Freya von Moltke, 2007
Foto: HopsonRoad / WikiPedia
Creative Commons Lizenz 3.0"
Für Freya v. Moltke. Zum Jahrestag ihres Todes am 1.1.2010 und zum hundertsten Geburtsag im März 2011

Hinzuweisen wäre hier zunächst auf ein wichtiges Buch. Eine Art Festschrift zum 65. Geburtstag von Angelika Ebbinghaus. Die ungeheuer vielfältige und weitreichende Tätigkeit dieser Frau wird hier in heraufgerufen. Ebbinghaus wird in den sie ehrenden Erinnerungen von mitkämpfenden Frauen zwar auch "Feministin" genannt - falls der Begriff damals schon so geläufig war wie heute. Ihre Untersuchungen gehen aber weit über das hinaus, was mit dem Begriff gemeinhin gefasst werden soll.

Es ist unmöglich, hier gleich mit einer Rezension aufzuwarten über all ihre Schriften. Womit hat sie sich beschäftigt oder nicht beschäftigt die lange Zeit ihres wissenschaftlichen Arbeitens! (Dazu vielleicht einmal später mehr)

Hier soll nur herausgegriffen werden das, was sie mit Karl Heinz Roth zusammen herausbekommen hat über die verschiedenen Ausprägungen des deutschen Widerstands gegen das Nazi-Regime. Im vorliegenden Band findet sich dazu S.149 ff. eine ganze Reihe von mails, die sie ausgetauscht hat mit Freya v. Moltke, die damals in den USA lebte und so lange über den Tod von James Moltke hinweg ausgehalten hat. In diesem mail-Wechsel finden sich die Vorarbeiten des Buchs über die "Kapellen" des Widerstands in der Zeit des deutschen Faschismus.

("Kapelle" ist - wie man weiß - ein Gestapo-Ausdruck. Nachdem einzelne Funker dort "Klavierspieler" genannt wurden, hieß das Zusammenwirken von mehreren dann konsequent "Kapelle" - auch in Fällen wie dem Kreis um die Moltkes in Kreisau, die es nicht nötig hatten zu funken, weil sie seit 1940/41 höchst persönlich zusammenkamen).

Angelika Ebbinghaus und Karlheinz Roth entdeckten gerade in der Gruppierung um Kreisau die fruchtbarsten und weitestreichenden Überlegungen zur Schaffung einer Zeit nach dem Krieg, die gründlich aufräumen sollte nicht nur mit dem Nazismus selbst, sondern auch mit allem, was diesen in Deutschland möglich gemacht hatte. Insofern wurde der Anschluss an sozialistische Gedanken ausdrücklich gesucht. Ein Umstand, den die schon wieder staatstragende Historikerzunft um Ritter und Fest unerbittlich zu verschweigen beabsichtigte.

Insofern war das Buch über die "Kapellen" nur gegen den starrköpfigen Widerstand der etablierten Geschichtsinhaber herauszubringen.

Der Kreisauer Kreis

Roth und Ebbinghaus gehen im Buch über die "Kapellen" ausdrücklich nur am Rande auf den Widerstand von unten ein, der schon oft behandelt wurde, auch von den beiden selbst. Roth hatte sich vorgenommen, für dieses Mal gerade die Konzeptionen der militärischen und bürgerlichen Gruppen zu untersuchen über das “danach–. Wie und mit wem sollte es weitergehen nach dem - als geglückt vorausgesetzten Attentat?

Joachim Fest beanspruchte seinerzeit das Monopol der finalen Deutung deutscher Geschichte. Nach „Hitler“ und vor „Untergang“ hat er im "Staatsstreich" den 20. Juli endgültig eingereiht und abgefertigt. Sein Buch endet zustimmend mit dem Zitat: „Ich glaube, es war gut, dass es gemacht wurde, und vielleicht auch gut, dass es misslang" (Staatsstreich S. 346). Fest und viele staatstreue Nachbeter heften sich an Tresckows letzte Meldung: „Das Attentat muss gemacht werden, coûte que coûte“. Die Handlung aufs äußerste ausgedünnt, aufs Zeichen reduziert. Die Gräte statt des Fischs. Als hätten die Verschwörer alles nur getan, damit wir dem Ausland einen Gedenktag zum Feiern vorzeigen können. Gerade umgekehrt gehen Karl-Heinz Roth und Angelika Ebbinghaus vor. Sie versuchen den Vorgang, der zum 20 Juli führte, nicht zu verarmen, sondern zu bereichern.

Was hatten nicht nur die Offiziere, nicht nur der Goerdelerkreis, sondern auch die Gruppe um Graf Moltke für Vorstellungen? Was sollte nach dem Schluss der NS-Diktatur kommen? Was davon hätte Eingang finden können in die Diskussionen unmittelbar nach Kriegsende? Dabei arbeitet vor allem Karl Heinz Roth die scharfen Gegensätze heraus, die die Verschwörer nur mühsam überbrücken konnten. Goerdeler, ehemals Bürgermeister von Leipzig, Sparkommissar in der Weimarer Republik und auch noch in den ersten Jahren der Naziherrschaft, war stark vom Ordo-Liberalismus geprägt. Im Überlebensfall hätte er ohne weiteres den Ludwig Erhardt geben könnten. Er suchte eine Sanierung des Staatshaushalts durch Steuererhöhung, unbezahlte Mehrarbeit und einen rigiden Sparkurs. (Der gegebene Mann für heute). Wie die meisten seines Kreises wollte er keineswegs zurück zu einem Parlamentarismus irgendeiner Art. Er schwärmte dem Präsidialsystem Hindenburgs und Brünings am Ende der Republik nach. In der Durchführungsplanung des Aufstandes führte das dazu, dass ängstlich jede breite Volksbeteiligung, auch Streiks, ausgeschlossen wurden. Die Massen als Gefahr - ein Gedanke,der sich bis in die verfassunggebende Versammlung 1949 durchfraß. Ebenso wurde kein Gedanke an die Beteiligung einfacher Soldaten verschwendet. Brutal gesagt: Gerade die angstvolle Erinnerung an die Soldatenräte von 1918 beschleunigte den Willen zu einer Einigung mit den Kriegsgegnern. Um Gottes Willen, nicht noch einmal die wilde Rotte, die Offizieren die Achselklappen herunterriss.

So wundert es nicht, dass sowohl Stauffenberg und die Offiziere um ihn den als Reichskanzler vorgesehenen Goerdeler nur als „Kerenskilösung“ ansahen. Kerenski: das war derjenige, der in der ersten Zeit der russischen Revolution unbedingt den Krieg fortführen wollte, bis die Bolschewiki ihn stürzten. Die Überlegung war: 1918 haben sich die Sozialisten in Deutschland vor allem verhasst gemacht, weil sie den Kapitulationsvertrag unterzeichnet hatten. Dafür sollte Goerdeler herhalten: Danach: Adieu... Es gibt einen witzigen kleinen Roman Christian v. Ditfurths, in dem er davon ausgeht, das Attentat sei geglückt. Allerdings: die SS erwiese sich am 21. Juli als Mitinhaber der Macht. Schließlich gäbe es 1953 vielleicht einen Bundeskanzler Himmler... (Der 21. Juli. Roman. Droemer, München 2001, ISBN 3-426-27199-0; Knaur, München 2003, ISBN 3-426-62415-X)

Der Roman bohrt sadistisch in der Unentschlossenheit des Goerdelerkreises. Diese Gruppe wollte Reich ohne Hitler. Nur dass ohne stärkste Volksbeteiligung eine erfolgreiche Umwälzung sich nicht einmal denken lässt. Notwendig blieben alte Machtblöcke dabei ungestürzt. Herausgearbeitet wird von Ebbinghaus und Roth, dass zum Beispiel Offiziere, die selbst in der Partisanenabwehr tätig waren, und die aktiv den Sturz Hitlers betrieben, trotzdem niemals auch nur den Gedanken fassten, etwa mit Partisanen zusammen einen gesamteuropäischen Aufstand zu planen. Gerade darin zeigt sich der Unterschied zum Widerstand von unten, dem im Buch zwar ein zusammenfassendes Kapitel gewidmet ist, der dieses Mal für die Verfasser aber nicht im Mittelpunkt steht. Zu erinnern wäre zum Kontrast an den halbjüdischen Peter Brückner, dem es gelungen war, in der Armee unterzukommen. Kaum war er zur Bewachung eines Gefangenenlagers abgeordnet, knüpfte er Kontakte sowohl zu russischen Gefangenen wie auch zu Mitgliedern der im Untergrund immer noch tätigen Kommunistischen Partei Österreich. Ebenso berichtet Angelika Ebbinghaus vom Bruder der Freya von Moltke. Er benutzte die Gelegenheit, als er in Italien als hoher Funktionär Arbeitskräfte für Bauten im Reich anwerben musste, selbst sich der Partisanengruppe „Giustizia e Libertà“ anzuschließen.

Stark heben Roth und Ebbinghaus die Rolle des Moltkekreises hervor - nach dem Gut der Familie: Kreisauer Kreis genannt. Sie, in der offiziellen Literatur immer etwas geringschätzig als bloßer Diskutierclub behandelt, verzichteten bewusst auf gewaltsamen Sturz der Diktatur. Sie sahen die Notwendigkeit der Kapitulation voraus und beschäftigten sich mit den Möglichkeiten eines Neuanfangs. Dabei setzte Moltke selbst vor allem auf „kleine Einheiten“ unten, die sich fast räteartig selbst verwalten sollten. Als zusammenfassendes Element sollte hinzutreten ein wirklich geeintes Europa, an dem deutsche Teilstaaten gleichberechtigt teilnehmen sollten. Ein Auseinandertreten des Blocks "Großdeutschland" in einzelne selbständige Staaten wurde also willentlich angestrebt. Um alle neuen Großmachtgestikulationen zu blockieren, wie sie heute wieder auftreten. Vergeblich...

Gerade der Kreisauer Kreis nahm am ehesten sozialistische Elemente in sein Denken auf. Zwar rühmte Moltke sich im Abschiedsbrief, dass Freisler im Volksgerichtshof ihn wegen bloßen Denkens verurteilt hatte. Also war Denken als solches im Dritten Reich schon ein Verbrechen. Das könnte den Vorwurf gegen den blassen Nur-Denker bestärken. Nur dass Moltke bei „denkendem Begreifen“ stets ans Eingreifen dachte - wie es im Wort Begriff ja selber steckt: Wer so denkt, ist in Gedanken immer schon beim künftigen Zugriff.

Zur Roten Kapelle wusste Fest im Jahre 94 nur zu sagen: “Die Gesinnungsbedürfnisse dieses vorwiegend intellektuellen Zirkels, dessen Mitglieder der einen Ideologie den Vorzug vor der anderen gaben... waren nur auf Unverständnis gestoßen“ (ebendan S. 237). Das, nachdem die „Ästhetik des Widerstandes“ von Peter Weiss ein Jahrzehnt lang vorlag, in deren drittem Band die Tätigkeit der Roten Kapelle ausführlichst gewürdigt wurde. Stefan Roloff im vorliegenden Band räumt mit diesen Gönnerhaftigkeiten auf. Er weist nach, dass über hundert Personen in engerem und weiterem Zusammenhang mit der Gruppe standen. Vor allem geht er gegen das gängige Klischee vor, die von der Gestapo so genannte Rote Kapelle hätte ihre Haupttätigkeit im Funken für die Rote Armee gefunden. Die Tatsache, dass sie über einen erstmaligen Funkkontakt mit einem neuen Gerät aufgespürt wurden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein wesentlich linker Zusammenschluss sich organisatorisch und gedanklich für die kommende Zeit vorbereitete.

Inzwischen ist es bei allen Gedenkfeiern so weit gekommen, dass vor allem Goerdeler gepriesen wird als vorausschauender Geist.

Den Kreisauern wird, wenn überhaupt, mürrisch ein anerkennendes Wort nachgesandt. Um so wichtiger, dass Historikerinnen wie Angelika Ebbinghaus gerade noch rechtzeitig auftraten, um Geschichte in ihrem wahren Wert und wirklichen Verlauf gegen allen hochnäsigen Widerspruch zu retten.

Insgesamt ein Buch über Kreisau im Rahmen des Gesamtwiderstands, das im Jahr 2011 sein Gewicht immer noch finden sollte, wenn –“ hoffentlich –“ auch darüber diskutiert werden wird, was an Vorarbeiten vorlag, woran anzuknüpfen war, als endlich im Frühjahr 45 die Bunker sich öffneten.

Bibliographische Angaben:
• Karl Heinz Roth / Angelika Ebbinghaus (Hrsg.): Rote Kapellen - Kreisauer Kreise - Schwarze Kapellen: Neue Sichtweisen auf den Widerstand gegen die NS-Diktatur 1938-1945 ISBN 3-89965-087-5 VSA-Verlag Hamburg 2004

• Angelika Ebbinghaus: Ein anderer Kompass: Soziale Bewegungen und Geschichtsschreibung. Texte 1969-2009 Hamburg 2010 Assoziation A

Somalier in den Niederlanden gefasst- im Dienst der Innenminister Gesamteuropas

Fernsehen vor Weihnachten: Helle Aufregung in Ländern, die ziemlich weit weg liegen von den Niederlanden. Gleich zwölf Terroristen gefasst. Und dann noch solche aus Somalia. Somalia, man weiß, wo sie im Grunde gar keine Regierung mehr haben. Und sicher zu jedem Attentat bereit stehen. Wenn auch aus Farbgründen beim Anschleichen etwas auffällig. Vor Weihnachten hörte sich alles so an, als sei das Dutzend frisch und tatenfroh in Holland eingefahren.

Am Montag kam heraus, aber nur für Internetforscher, dass von den zwölfen gleich mal fünf am Sonntagabend hatten freigelassen werden müssen. Weil selbst nach den verdachtsfreudigen Prinzipien der Dienste nichts gegen sie vorlag. Kein deutscher Sender berichtete am Montagmorgen über die Freigelassenen. Die Hauptsache war schließlich erledigt. Aufheizung kollektiver Angst. Forderung nach mehr Polizei.

Wie eine angesehene Zeitung - FAZ- auf Resten von Solidität beharrend - den Fall nachträglich darstellt, ist aufschlussreich für die Propagandapflicht auch in den oberen Etagen des Formierungsbetriebs. Der Artikel ist der FAZ-online vom Montag 27.12.10 entnommen und nicht namentlich signiert. Wir bieten zur Illustration einige Auszüge.

"Die Niederlande sind Weihnachten möglicherweise nur knapp einem Anschlag islamistischer Terroristen entgangen."


Also doch! Aber dann gleich halbherzig die Entwarnung:

"Doch bei der Festnahme von zwölf verdächtigen Somaliern wurden weder Sprengstoff noch Waffen gefunden. Und bei fünf von ihnen bestätigte sich der Verdacht nicht!"


Jetzt wahrheitsgemäß Details über das demonstrativ brutale Vorgehen der Polizei:

"Zersplitterte Scheiben, zerstörte Rollläden. Geklingelt oder angeklopft haben die Männer vom „Dienst Speciale Interventies“ - der niederländischen Anti-Terror-Spezialeinheit DSI - nicht, als sie Heiligabend den Internetshop „Banadir“ in Rotterdam stürmten. Kein Wunder, denn der Geheimdienst AIVD hatte Alarm geschlagen: „Eine Anzahl Somalier will in Kürze einen terroristischen Anschlag in den Niederlanden verüben.“


Hierauf sanfte Zweifel an der Bedrohung des ganzen niederländischen Volkes:

"Der Großeinsatz, bei dem zwölf Somalier unter Terrorismusverdacht festgenommen wurden, riss Holland aus der Weihnachtsruhe. Doch wie ernst war die Bedrohung wirklich? „Ich habe noch gesagt: Hier habt ihr den Schlüssel“, erzählte der Somalier Nuur am ersten Weihnachtstag Reportern vor dem demolierten Internetshop in der Rotterdamer Middellandstraat. „Aber die wollten sie nicht, sie traten lieber die Türen ein“, sagte der 36-jährige, der als Teenager nach Holland kam und bestens Niederländisch spricht."

Vorsichtige Absetzung von den schlimmsten Hetzern in den Niederlanden. Ohne aber dieser Hetze offen entgegenzutreten.

"Geert Wilders, der Rechtspopulist, der immer wieder Muslime mit islamfeindlichen Ausfällen zur Weißglut bringt, macht sich einmal mehr zum Sprachrohr der „schweigenden Mehrheit“. Gleich nach den Razzien in der Hafenstadt twittert der Chef der Partei für die Freiheit (PVV): „Die zwölf festgenommenen somalischen Terrorverdächtigen haben meiner Ansicht nach in den NL nicht gerade nach dem gesucht, was uns verbindet.“"

"Doch die Terrorismusbekämpfer haben bei ihnen weder Waffen noch Sprengstoff gefunden - Nach der halben Distanzierung die volle Rechtfertigung von Polizei und Geheimdienst:
Zweifellos sind die Niederländer nervös. Mit Anschlägen wird schon lange gerechnet. Der AIVD hatte 2009 gewarnt, von Extremisten in Somalia gingen Gefahren aus. Im September wurden die Holländer durch Aufrufe eines Hasspredigers geschockt, Wilders zu enthaupten. Die Festnahmen an Heiligabend erklärte dieser nun, zeigten die „Verwundbarkeit des freien Westens“ durch den Terrorismus. „Dagegen müssen wir mit allen Mitteln knallhart vorgehen.“"


"Hassprediger" stammen immer aus dem Islam. Auf den wirklichen Vernichtungs-Schnauber Wilders passt so eine Vokabel nicht.

"Der Chef der rechtspopulistischen Partei für Freiheit (PVV), die als Mehrheitsbeschafferin indirekt an der Regierung in Den Haag beteiligt ist, hat immer wieder Muslime in aller Welt provoziert. Mehrfach verglich er den Koran öffentlich mit Hitlers „Mein Kampf“, beschimpfte den Islam als „faschistische Ideologie“ und dessen Propheten als „Barbaren, Massenmörder und Pädophilen“. Rund 27.000 Somalier leben in den Niederlanden. Die meisten kamen als Asylbewerber."

Islam und Islamismus gleich: Faschismus. Alle, die bei uns in der Bundesrepublik von "Islamofaschismus" faseln und träumen, dürfen sich unterstützt fühlen und weiter demonstrieren.

Soviel aus der Berichterstattung eines der angesehensten Blätter Deutschlands. Vom Staatstragen nur ganz leicht verkrümmt.

Silvesterdemonstration in Stuttgart

Freitag, 31.12. findet um 19 Uhr in der Lautenschlagerstrasse gegenüber des Hauptbahnhofs in Stuttgart eine Sylversterdemonstration statt. In dem Aufruf dazu heißt es:

Das Jahr 2010 war in verschiedenen Bereichen von starken Protestbewegungen geprägt: in Dresden wurde einer der größten Nazi-Aufmärsche Europas durch eine antifaschistische Mobilisierung verhindert, gegen das Milliardenprojekt Stuttgart21 gingen Zehntausende auf die Straße, und die Blockadeaktionen gegen den Castortransport im Wendland waren so stark wie selten zuvor. Dazu kam eine Vielzahl an kleineren Protestaktuionen gegen Imperialistische Kriege, gegen Rassismus und Sozialabbau. All diese Aktivitäten müssen natürlich witerentwickelt werden, da die kapitalistischen Verhältnisse für immer mehr Menschen Armut und miserable Arbeits- und Lebensbedingungen mit sich bringen, weitere Kriege aus Kapitalinteressen geführt, die Natur für Profite zerstört und unsere Rechte immer mehr zugunsten eines aufgerüsteten Staates eingeschränkt werden.

Ob staatliche Repression durch Polizeieinsätze, Gesetzesverschärfungen oder Hetze in den bürgerlichen Medien - unser Ziel bleibt die Abschaffung des Kapitalismus und der Aufbau einer befreiten Gesellschaftsordnung!

Her mit dem schönen Leben!

Für ein revolutionäres 2011!

Solidarität und Klassenkampf gegen Repression und Kapitalismus!


Aktuellen Umfragen zufolge befürworten in der BRD immer mehr Menschen eine Alternative zum kapitalistischen System. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Interessen einzelner Profiteure dieses Systems immer deutlicher den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zuwider laufen –“ und rigoros gegen sie durchgesetzt werden.

Die geplanten Sparmaßnahmen der Bundesregierung und die Erhöhung des Renteneintrittsalters wurden trotz breiter Proteste verabschiedet. Milliardenprojekte wie Stuttgart 21 oder Atommülltransporte durchs Wendland müssen von massiven Polizeieinsätzen begleitet werden um gegen massenhafte Proteste durchgeführt werden zu können. Obwohl die Mehrheit der hier lebenden Menschen gegen die Beteiligung Deutschlands an der Besatzung Afghanistans ist, ist die Bundeswehr eine der Hauptstützen des dortigen Kriegseinsatzes.

Die bürgerlichen Parteien verlieren durch diese Politik an Zuspruch und Vertrauen und neben der immer wieder zutage tretenden wirtschaftlichen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus zeichnet sich immer stärker auch eine politische Krise ab. Die Krise dieses Systems ist jedoch nicht unsere Krise und es gibt keinen Grund zu ihrer Abschwächung beizutragen. Vielmehr ist es unser Ziel sie zu verstärken und für die Abschaffung des Kapitalismus und den Aufbau einer befreiten Gesellschaftsordnung einzutreten.

Widerstand organisieren!

Die aktuell breit vorhandene Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen bringt sicher noch nicht in einem ebenso großen Ausmaß antikapitalistisches Engagement mit sich. Sie ist jedoch ein Symptom für die Schwierigkeiten innerhalb des Kapitalismus den Klassenfrieden für längere Zeit auch nur in einem kleinen Teil der Welt aufrecht zu erhalten und die stetig vorhandenen Widersprüche zu überdecken oder entscheidend abzumildern. Immer mehr Menschen bekommen direkt zu spüren, dass es im Kapitalismus kaum wirklich sichere Arbeitsplätze und politische Mitbestimmung, kein Grundrecht auf freie Bildung oder soziale Absicherung gibt. Was davon hier noch vorhanden ist, ist stetig umkämpft, wird nur einem kleiner werdenden Teil der Klasse der Lohnabhängigen zugestanden und letztlich Stück für Stück abgebaut.

Was außerhalb der kapitalistischen Zentren schon immer zur Lebensrealität der meisten Menschen gehörte, die schonungslose kapitalistische Ausbeutung, die Unterordnung aller gesellschaftlichen Bereiche unter Profitinteressen einiger Weniger und die Unterdrückung von Protest und Widerstand, erhalten auch hier immer weiter Einzug. Die Gründe dafür, dass so auch im „ruhigen Hinterland des Kapitals“ immer weniger auf sozialen Frieden und mehr auf die Erfüllung der Bedürfnisse des Kapitals gesetzt wird, sind vielfältig: die im Kapitalismus grundsätzlich vorhandene Schwierigkeit und gleichzeitig Notwendigkeit, die Profite immer weiter zu steigern ist hierbei ebenso von Bedeutung wie die generelle weltweite Konkurrenz verschiedener Unternehmen und auch Staaten, die jeweils durch geringere Lohnkosten, niedrigere Steuern etc. besser dastehen müssen als die anderen. Auch der Wegfall der Systemkonkurrenz durch das Scheitern der sog. realsozialistischen Staaten und die dadurch weniger notwendig gewordene Maske eines sozialen Kapitalismus dürfte von Bedeutung sein. Zentral ist jedoch, dass die Klasse der Lohnabhängigen, sprich diejenigen die nicht andere für sich arbeiten lassen, sondern gezwungen sind ihre Arbeitskraft zu verkaufen und praktisch keinerlei Mitbestimmung über ihre Arbeitsbedingungen, über politische Entscheidungsprozesse etc. haben, nur verlieren können wenn sie sich nicht gemeinsam und entschlossen zur Wehr setzen. Zugeständnisse ans Kapital, ob bei Löhnen bei den Rechten am Arbeitsplatz oder der Verlängerung der Lebensarbeitszeiten, bringen lediglich die KollegInnen in anderen Betrieben oder Ländern in die Situation, unter noch schlechteren, d.h. profitableren Bedingungen leben und arbeiten zu sollen. Lassen sie sich darauf ein –“ glücklicherweise ist das in zahlreichen Ländern weit seltener der Fall als hier –“ geht die Spirale der Verarmung auf einer Ebene tiefer weiter. Die massive Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse in den letzten Jahren, die Intensivierung der Arbeitsanforderungen, aber auch die steigenden Abgabenforderungen an die Klasse der Lohnabhängigen zur Senkung der Ausgaben der Kapitalistenklasse und die Kürzungen in sozialen, kulturellen und weiteren gesellschaftlichen Bereichen, sind Kennzeichen dieser Entwicklung.

Dass wir nur verlieren können, wenn wir nicht kämpfen, bedeutet auch, dass wir nur etwas gewinnen können, wenn wir entschlossen für unsere Interessen, d.h. die Interessen aller Lohnabhängigen, eintreten. Wir haben dabei längst nicht nur ein Ende der Einschnitte zu gewinnen und auch einzelne Verbesserungen sind längst nicht alles was wir erreichen können. In unserer Bereitschaft zur Konfrontation mit dem Kapital und seinem Staat, in unserem bewusstem gemeinsamen Handeln, ob bei Streiks oder anderen Protestaktionen liegt der erste Schritt hin zur Überwindung der Herrschaft der Kapitalistenklasse und dem Aufbau einer befreiten Gesellschaftsordnung. Im Zusammenspiel mit dem Aufbau kontinuierlich arbeitender Strukturen des Klassenkampfes und des politischen Widerstandes, ist unser konkretes Handeln heute der nächste notwendige Schritt den alle gehen sollten, die den Kapitalismus nicht für das unüberwindbare Ende der Geschichte halten.

Feuer und Flamme der Repression!


Wie Eingangs bereits erwähnt, geht die Verschärfung des Klassenkampfes von oben einher mit einer staatlichen Aufrüstung und dem Vorgehen gegen die für uns wichtigen, und für Staat und Kapital zumindest potentiell gefährlichen Protest- und Widerstandsaktivitäten.

Es gab in den letzten Monaten allein in Süddeutschland zahlreiche Fälle polizeilichen Vorgehens gegen Demonstrationen und Proteste, sowie der Kriminalisierung linker AktivistInnen. Ein vergleichsweise stark öffentlich thematisierter Höhepunkt war der Polizeieinsatz gegen Stuttgart21-GegnerInnen am 30. September in Stuttgart. Mehrere hundert Menschen wurden durch Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstöcke verletzt. Nur wenige Wochen später griffen teilweise die gleichen Einheiten des BFE (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten) in Heilbronn eine Demonstration an, die sich gegen das Vorgehen des türkischen und des deutschen Staates gegen die kurdische Befreiungsbewegung richtete. Auch dort wurden mehrere Menschen verletzt, die Demonstration aufgelöst und Dutzende Menschen stundenlang festgesetzt.

Die beiden Beispiele reihen sich in eine Vielzahl von Versuchen ein, politische Aktivitäten durch Auflagen, Polizeiangriffe, Festnahmen und Anzeigen zu verhindern oder einzuschränken und AktivistInnen einzuschüchtern.

Her mit dem schönen Leben!


Wir können an vielen Protesten der letzten Monate und Jahre gegen die kapitalistische Krisenpolitik, an den Streiks, Kundgebungen und Demonstrationen anknüpfen. Von zentraler Bedeutung ist es aber, sich nicht auf reine Protestaktionen zu beschränken, sondern innerhalb dieser Kämpfe Alternativen zu diskutieren, langfristig handlungsfähige Strukturen aufzubauen und in den Gewerkschaften und anderen Organisationen Bedingungen zu schaffen, die zu einer Überwindung des Kapitalismus beitragen und nicht zu seiner Festigung.

Eine Veränderung der Verhältnisse muss letztlich auf vielen Ebenen vonstatten gehen, unterschiedliche Ansätze, Bereiche und Ansprüche sind dabei zu respektieren und vor allem die Gemeinsamkeiten der fortschrittlichen Kräfte herauszustellen. Eine revolutionäre Theorie, Praxis und Organisierung ist darin aber von zentraler Bedeutung. Ein revolutionärer Aufbauprozess, der entschlossene und kontinuierliche Kampf gegen das kapitalistische System und gegen diejenigen die es verteidigen, gegen die Sozialabbauer, Lohnkürzer und Kriegstreiber, ist unabdingbar für eine wirkliche Perspektive. Der Widerstand gegen die Angriffe von Staat und Kapital, Sozialproteste und Kampagnen dürfen schließlich nicht das Ende sein, sondern nur ein Anfang.

Unser heutiges Handeln muss Ausgangspunkt sein für eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse und für den Aufbau einer Gesellschaftsordnung, die Solidarität und Selbstbestimmung an die Stelle von Profitstreben und Konkurrenzkampf stellt.

Die Demonstration am 31.12. soll auch deutlich machen, dass diese Versuche nicht von Erfolg gekrönt sein werden, sondern wir offensiv und selbstbewusst ins neue Jahr starten werden. Ihre Angriffe sind auch weiterhin allenfalls ein Anlass um unsere Seite besser aufzubauen und zurück zu schlagen.

Für Solidarität und Klassenkampf!

Gegen Repression und Kapitalismus!


UnterstützerInnen:

- Antifaschistische Jugend Ludwigsburg/Mannheim
- Interventionistische Linke Karlsruhe
- Kurdische Jugend Stuttgart
- Marxistische Aktion Tübingen
- Revolutionäre Aktion Stuttgart
- Revolutionäre Linke Heilbronn

Verbrechen im Krieg allgemein akzeptiert. Wie viele danach?

Hashim Thaçi
(White House photo by Eric Draper via Wikipedia)
Es ist schon mehrfach ausgeführt worden, dass alle Verweise auf das Völkerrecht heute lahm und ohnmächtig geworden sind, seit die NATO mit besonderer Beihilfe Schröders und Fischers den Überfall auf das ehemalige Jugoslawien vollzogen haben. Seither können alle Anklagen wegen eines Verstoßes gegen das jus gentium - so sehr sie das Gemüt berühren - nur noch historisch interessieren. Wie das Beispiel der USA und aller anderen Großmächte täglich zeigt, wird alles hingenommen, wenn es nur der jeweils eigenen Sache dient.

Das muss vorausgeschickt werden, um die Erkundungen Martys gegen die Mafia Thacys und seiner Kumpane richtig einzuschätzen. Sie werden nicht zum Vorgehen gegen die kosovarische Variante einer Regierung im herkömmlichen Sinn führen.

Auch noch Organhandel - weil kriegsnotwendig - loben?

Schwierigkeit in diesem Fall: Mit den als notwendig angesehenen und gerechtfertigten Verbrechen im Krieg müssten auch aus diesen hervorgegangene und mit ihnen verbundene Handlungen gewöhnlicher Kriminalität gebilligt werden.

In Martys Vorlage beim Europarat wird der gegenwärtige Wahlsieger- nach kosovarischen Prüfungserfordernissen-Thaci  beschuldigt, Boss einer Mafia-Organisation zu sein, dem außer Verschwindenlassen von Kriegsgefangenen und Konkurrenten, Unterschlagung von Geldern und Zeugenerpressung auch profitable Beteiligung am Organhandel nachgesagt wird. Hier droht die martialische Gemütlichkeit der ehemaligen Kriegskumpane doch auf eine härtere Probe gestellt zu werden.

Da die meisten Taten in Albanien stattfanden, das eine gründliche Untersuchung verhindert, da weiterhin - wie schon Carla del Ponte (s.u.) berichtet - viele Zeugen eingeschüchtert oder gleich ermordet wurden vor einer Aussage - wird ein Beweis im gewohnten Sinn bürgerlicher Justiz kaum zu führen sein.

Es stehen auch gleich wieder die seit Schröder/Fischer angelernten Journalisten als journalistische Hilfsarmee bereit, um alle Vorwürfe vor jeder Verhandlung in Zweifel zu ziehen.  Genannt sei nur Rathfelder, jahrzehntelang Schnauber in der taz gegen die bösen Serben. Er winkt - wie alle Abtuer der wikileaks - Mitteilungen - von vornherein ab: Sowieso nur aufgekochte Carla del Ponte. Und die hat doch auch keiner ernst genommen. Zum Zweiten findet er eine Geschichte von einem anderen Zeugen, der vor der Aussage tot im Hotel aufgefunden wurde. Seine Folgerung: Also können noch ganz andere Leute beteiligt sein. Vorwurf an Mathy: Eingleisigkeit. Immer alles auf Thaci schieben!

Marty: Schon bei der Aufdeckung der Entführung des AlMasri über wikileaks nachträglich bestätigt

Zum Vorwurf: Nichts Neues. Wahrscheinlich hat der gelehrte Kenner sich nicht die Mühe gemacht, die Aussage Martys durchzulesen. Dann wären ihm doch ein paar Erträge aufgefallen.

Statt des berühmten "gelben Hauses", das Carla del Ponte besucht und als Folterstätte vermutet hatte, fand Marty ein zusammenhängendes System von sechs "Unterbringungsstätten" - alle im Bereich des souveränen Staates Albanien. Punkt 96 im Vortrag Martys: "Cahan; Kukës; Bicaj (vicinity); Burrel; Rripe (a village southwest of Burrel in Mat District); Durres; and, perhaps most important of all, for the purposes of our specific mandate, Fushë-Krujë."

In den Zeiten des Ansturms der Brigaden Thacis gab es in gewissen Regionen Albaniens keine durchsetzungsfähige Regierung, so dass das Partisanenregime sich frei bewegen und organisieren konnte. Auch hat er neben dem "gelben Haus" in Rripe beim Flughafen Tiranas einen zweiten Ort entdeckt, der u. U. ebenfalls zu Operationen verwendet wurde.Nämlich das schon genannte Fushë-Krujë.

Zur Glaubwürdigkeit Martys, die sicher schon morgen von interessierter Seite angegriffen wird, nur soviel. Alles, was jetzt gegen den Schweizer vorgebracht wird, wurde schon geäußert, als er die Entführung von Al Masri durch Truppen der CIA  aufdeckte. Nichts genaues weiss man nicht. Diverse Regierungsmitglieder verschiedener Koalitionen -von Schily angefangen- weigerten sich erbittert, die Auslieferung der schuldigen CIA-Entführer von den USA  zu verlangen. Verschiedene Enthüllungen von wikileaks gegenüber der Bundesrepublik und der Schweiz haben inzwischen nachgewiesen, wie ohne Scham an Drohungen und Erpressungen gegen die Regierungen nicht gespart wurde. Also: Marty voll bestätigt.

Ist Organhandel aus den finsteren Bergen Albaniens möglich?

Menschenhandel von einem verlassenen Haus in Albanien aus. Am Anfang hielt auch  ich das  für eine der hasserfüllten Erfindungen, die in jedem Krieg aufkommen. Wie sollte eine Niere körperwarm und frisch aus der Einsamkeit in eine Klinik in New York oder Bahrein gebracht werden?

Ich habe mich mit einem ärztlichen Verwandten darüber unterhalten. Unmöglich scheint es dann nicht, wenn ein Verbrechensring vor der Operation sich über Zahlungsfähigkeit eines Interessenten, seine Blutgruppe etc. und seine Zustimmung orientiert. Erst nach erfolgter Erfolgsmeldung müsste dann unter den bereit gehaltenen und gut genährten Organspendern ausgewählt werden. Diese würden zuvor getötet.

Tatsächlich entsprechen die Untersuchungen Martys diesen Anforderungen. Zugleich würde damit bewiesen, dass solche Delikte unmöglich einem Einzeltäter zugeschrieben werden können. Ohne "Gang" funktioniert so etwas nicht. So viel zu der zu erwartenden Zweitausrede, der "Chef" Thaci müsse zwar solche Untaten  - mit Abscheu - zugeben, sei selbst erschüttert und habe keine Ahnung davon gehabt.
Im derzeit in Pristina verhandelten Fall MEDICUS scheinen sich die Sitten gemildert zu haben.

Der Spender wurde notdürftig vernäht am Hafen aufgefunden. In der Arztpraxis selbst fand sich ein über siebzig Jahre alter Patient, der eben eine Niere verpflanzt bekommen hatte. Preis 70 000 Euro. Die Kommunikation konnte also vereinfacht werden.

Carla del Ponte

Wie mehrfach erwähnt, stützte sich Marty zunächst auf die Erinnerungen von Carla del Ponte. (Im Namen der Anklage: Meine Jagd auf Kriegsverbrecher und die Suche nach Gerechtigkeit von Carla Del Ponte, Chuck Sudetic, Gabriele Gockel, und Thomas Wollermann.)

Diese, ehemals Chefanklägerin in Den Haag, wirkt im ganzen Buch penetrant als hauptberufliche Anklägerin. Im Vordergrund geht es gegen "die Serben". Aber das Staatsanwaltliche hat sich in ihr so verselbständigt, dass sie sich im Kapitel "von den Zeugen" auch den möglichen Verbrechen der UCK zu. Dabei stellte sie zweierlei fest: Sterbefälle bei allen, die zu Aussagen geneigt wären, die Thaci und seinesgleichen belasten könnten. Zum zweiten aber: Dass hohe UN-Funktionäre das Verfahren vor dem selbst von der UN gesponserten Verfahren in Den Haag entgegenstellten. Besonders hervorgehoben wird die Rolle des hohen UN-Funktionärs Jessen-Petersen, der sich auch nur der Einleitung eines Prozesses gegen den UCK-Kommandeur  Haradinaj laut widersetzte. Seine rückhaltlose Unterstützung eines Angeklagten ist dokumentiert unter www.unmikonline.org/press/2005/pr1325.pdf. Daran kann also nichts erfunden sein.

Nur dass Del Ponte an dem Vorfall eines nicht erkennt. Nämlich: dass alle die Gerichte in Nachahmung der Nürnberger Prozesse, die derzeit veranstaltet werden, keineswegs im Namen der ewigen Gerechtigkeit stattfinden, sondern ausschließlich zu dem Zweck, den schon Besiegten öffentlich zum mit Recht Besiegten zu stempeln.

Der UN-Beamte ging sehr wahrscheinlich nach geheimer Rücksprache mit seiner Regierung vor. Wichtig war nicht Recht: Wichtig war der stabile Schein einer stabilen Regierung. Eine, deren Rechtspflege, man ohne Skrupel abgewiesene Asyl-Bewerber anvertrauen kann. Wie das die Bundesregierung guten Gewissens fortwährend tut.

Völkerrecht? Adieu!

Die Unabhängigkeit Kosovos als Staat wurde von der Schweiz so schnell wie möglich anerkannt. Der hochberühmten del Ponte wurde von der schweizer Regierung verboten, für ihren Memoirenband in einer Laussaner Buchhandlung  Reklame zu machen. Von der Schweiz aus organisierte der Asylant Thaci  lang vor seinem Einsatz die Organisation der späteren UCK, vor allem über Waffenzufuhr ins damals noch umkämpfte Kosovo. Zusammenhänge? Wir denken uns nichts Böses dabei.

Thaci ist nötig. Thaci muss geschont werden.Wir brauchen seinen Kosovo nicht nur als Kloake zur Versenkung von Abgeschobenen. Je mehr kleine Länderfetzen in der Region, desto leichter die indirekte Herrschaft  Deutschlands über den Balkan.

Was bleibt für weniger Staatstragende? Empörung! Aber die reicht nicht. Wichtiger: Erkenntnis. Erkenntnis, dass unter den bestehenden Verhältnissen kein Verbrechen schändlich genug ist, um verurteilt zu werden, wenn es der Machterhaltung dient.

Neuer Flyer für Versammlungsfreiheit: Versammlungsfreiheit erkämpfen und verteidigen!

Flyervorderseite - Download des Flyers
Das Stuttgarter "Bündnis für Versammlungsfreiheit" hatte anlässlich des Polizeieinsatzes am 30. September in Stuttgart kürzlich einen Flyer veröffentlicht. Dieser Tage ist nun ein neuer Flyer unter dem Titel "Versammlungsfreiheit erkämpfen und verteidigen!" erschienen. Er richtet sich gegen fortgesetzte Angriffe auf die Versammlungsfreiheit in der Region Stuttgart. Wir dokumentieren den Wortlaut:

Versammlungsfreiheit erkämpfen und verteidigen!
In den vergangenen Monaten kam es im Verlaufe vermehrter Proteste in Stuttgart zu einer regelrechten Repressions- und Kriminalisierungswelle gegen Demonstrantinnen und Demonstranten. Der massive Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas am 30. September 2010 im Schlossgarten ist hierbei kein Einzelfall.
 
Beispiel 1 –“ Willkürliche Auflagen / Ablehnung von Anmeldern

Bereits bei der Anmeldung von Demonstrationen erlässt das Amt für öffentliche Ordnung Stuttgart oftmals beliebige und einengende Auflagen. Inzwischen ist es gängige Praxis, dass beispielsweise die maximale Transparentlänge, die Ausrichtung der Beschallungsanlage und die genaue Begrenzung des Platzes (z.B. im Dunkeln, nicht unter den Straßenlaternen) durch die städtische Behörde vorgegeben werden. Eine Besonderheit Stuttgarts ist das faktische Demoverbot auf der Königstraße. Ein Beschluss des Stuttgarter Gemeinderates stellt hier die Interessen des Einzelhandels über die Versammlungsfreiheit.

Ebenso wurden mehrere Anmelderinnen und Anmelder von Protestversammlungen gegen das Gelöbnis der Bundeswehr am 30. Juli als „ungeeignet“ abgelehnt, obwohl keiner der Betroffenen vorbestraft ist und erst recht nicht wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz verurteilt wurde. Damit verweigerten die städtischen Behörden den Anmeldern von Kundgebungen ihr Grundrecht auf die aktive Ausübung der Versammlungsfreiheit. Wenn im geplanten Versammlungsgesetz Kriterien wie „Annahme“ oder „Eignung“ von Veranstaltungsleitern eingeführt werden sollten, so schafft dies einen Ermessens-Spielraum, um auf bürokratischem Wege missliebige Versammlungen unmöglich zu machen.

Deshalb fordert das Bündnis für Versammlungsfreiheit:

- Das demokratische Recht auf Versammlungsfreiheit darf nicht durch willkürliche Auflagen eingeschränkt werden
- Das geplante Versammlungsgesetz darf nicht durch die Ordnungsbehörden vorweggenommen werden

Beispiel 2 –“ Filmen von Demonstrationen / Personenkontrollen von Ordnern

Während Demonstrationen fertigt die Polizei immer häufiger Videoaufnahmen an, obwohl das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich ein Urteil verfasste, in dem das Filmen von friedlichen Demonstrationen untersagt wird.

Ein weiterer Vorgriff auf das geplante Versammlungsgesetz ist die Registrierung und Überprüfung der Personalien von Ordnerinnen und Ordner. So mussten bei einer antifaschistischen Demonstration im November 2010 in Schorndorf alle Ordner ihre Personalausweise abgeben damit die „Verkehrserfahrung“ und „Eignung“ überprüft werden konnte. Dem Anmelder der auf die fehlende rechtliche Grundlage dieser Maßnahme hinwies, wurde angedroht, die Durchführung der Versammlung zu untersagen.
  
Das Bündnis für Versammlungsfreiheit stellt klar:

- Meinungsfreiheit, öffentlich wahrnehmbarer Protest und ziviler Ungehorsam sind in einer offenen Gesellschaft unabdingbar
- Polizeiliche Schikanen und Einschränkungen sind inakzeptabel 

Beispiel 3 –“ Kriminalisierung von Versammlungen

Immer häufiger werden VersammlungsleiterInnen von Demonstrationen, im Nachhinein mit Strafverfahren und hohen Prozesskosten überzogen. So wurde der Gewerkschaftssekretär, der eine Demonstration im Rahmen des Bildungsstreiks 2010 anmeldete, dafür angeklagt, dass der Demonstrationszug auf zwei Kreuzungen kurz gestoppt habe und eine Zwischenkundgebung wenige Meter vor dem eigentlich dafür vorgesehenen Ort stattgefunden habe. Dafür wurde von der Staatsanwaltschaft ein Strafbefehl über 600 Euro ausgestellt, obwohl die Polizei vor Ort nichts beanstandete. In einem anderen Fall wurde der Anmelder der Revolutionären 1.Mai-Demonstration verurteilt, da unterwegs beim Laufen Musik abgespielt wurde. Gegen die Anmelderin der Montagsdemo gegen Hartz IV liefen bereits mehrere Verfahren wegen ähnlicher „Vergehen“ und eine politische Stadtführung zog eine Strafe über 3200 Euro nach sich, da sie nach Ansicht der Richter anmeldepflichtig gewesen sei.

Das Bündnis für Versammlungsfreiheit warnt eindringlich:
- Das Anmelden und Durchführen von Demonstrationen darf keine Sache des Geldbeutels werden
- Kriminalisierung von Versammlungen gefährdet die freie Meinungsäußerung

Solidarität aufbauen, Versammlungsfreiheit verteidigen und ausweiten!

Der Ursprungsgedanke des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit und für die Versammlungsgesetzgebung, Demonstrationen und Kundgebungen einen besonderen Schutz zu verleihen, wird in der aktuellen Praxis der Behörden auf den Kopf gestellt. Diese Tendenz darf so nicht weitergehen. Zeigen wir dem Ordnungsamt, der Polizei und der Staatsanwaltschaft ihre Grenzen auf.  

Trotz aller Versuche das Versammlungsrecht einzuschränken, verteidigen wir das Recht auf Versammlungsfreiheit am besten indem wir es uns nehmen. Die nächste Demonstration kommt bestimmt. Nehmt euch euer Recht! Macht zu zweit die Versammlungsleitung, dokumentiert die Namen der Polizisten mit denen ihr gesprochen habt, verweigert willkürliche Polizeimaßnahmen und nutzt die Gerichtsprozesse, um euch für die Versammlungsfreiheit stark zu machen.
Weitere Informationen findet ihr unter
www.versammlungsrecht.info


Blockieren ist unser Recht!
Insbesondere bei den Protesten gegen Stuttgart 21 aber auch bei den Aktionen gegen den Castortransport oder das Gelöbnis kam es in den vergangenen Monaten zu Blockaden oder provisorischer Besetzung öffentlichen Raums. Immer wieder behaupten Politiker, Blockieren sei rechtlich unzulässig und kein legitimes Mittel einer Demonstration. In einem Grundsatzurteil aus dem Jahr 1995 stellt das Bundesverfassungsgericht fest, welche Blockaden dem Straftatbestand der „Nötigung“ entsprechen: Entscheidend hierbei ist, dass „[...] die Strafbarkeit einer derartigen Handlung von der Wahl bestimmter Nötigungsmittel abhängig gemacht [wird], nämlich Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel“ (Beschluss des Ersten Senats vom 10. Januar 1995).

Liegt das nicht vor, wird Blockieren durch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit geschützt. Zum Beispiel weil man friedlich vor einer Einfahrt sitzt oder sich an einen Baum angekettet hat, der der Allgemeinheit gehört.

Dennoch gibt es in Baden-Württemberg eine sogenannte Wegtragegebühr. Menschen, die sich an einer Blockade beteiligen, begehen nach dieser Regelung eine Ordnungswidrigkeit und müssen 40 Euro Strafe bezahlen.


Das Stuttgarter Bündnis für Versammlungsfreiheit fordert:

- Abschaffung der Wegtragegebühr!
- Ziviler Ungehorsam ist keine Straftat! Einstellung aller Verfahren gegen Stuttgart 21 Gegner!

Die geplante Gesetzesverschärfung
Die schwarz-gelbe Landesregierung will ein neues Versammlungsgesetz, das das Bürgerrecht auf Versammlungsfreiheit erheblich einschränkt. Es schafft bürokratische Hürden, sieht die Registrierung, Überwachung und Erfassung der TeilnehmerInnen vor und gibt Polizei und Behörden die Möglichkeit für willkürliche Erschwernisse, Eingriffe in die Versammlung und die Rechte der Versammelten.

Das Bündnis für Versammlungsfreiheit

Im Oktober 2008 gründete sich unser Bündnis, um gegen die geplante Verschärfung des Versammlungsgesetzes aktiv zu werden. Es wird von über 120 Gruppen und zahlreichen Einzelpersonen unterstützt. Wir haben eine Großdemonstration am 6. Dezember 2008 mit über 6000 TeilnehmerInnen organisiert und Kontakte in andere Bundesländer geknüpft. Wir organisieren diverse Veranstaltungen und Vortragsreihen. Bei zahlreichen Aktivitäten, z.B. gegen Stuttgart 21, weisen wir auf die gegenwärtige Praxis des Versammlungsrechts und die geplante Verschärfung hin. Darüber hinaus stellt das Bündnis auch Demobeobachter auf.

Wir finanzieren uns ausschließlich über Spenden unserer Bündnispartner.

Spendenkonto:
Friedensnetz BW
Kontonummer: 6520706
BLZ: 60010070 (Postbank Stuttgart)
Stichwort: Versammlungsgesetz

Kampagne „Schulfrei für die Bundeswehr“: Aufklärung über die Militarisierung der Gesellschaft

Die Bundeswehr versucht zunehmend größeren Einfluss auf das Bildungswesen zu nehmen, um die Sicherheits- (Kriegs-)politik der Bundesrepublik Deutschland darzulegen. Mittlerweile haben sieben Bundesländer Kooperationsvereinbarungen mit der Bundeswehr unterzeichnet, die der Bundeswehr bzw. den Jugendoffizieren Vorrang in den Bildungseinrichtungen einräumen. In Baden-Württemberg wurde diese Vereinbarung am 4.Dezember 2009 mit dem Kultusministerium getroffen. Die Arbeit von Jugendoffizieren in Schulen soll dabei verbessert werden. Insbesondere in die Ausbildung der ReferendarInnen und die LehrerInnenfortbildung sollen Jugendoffiziere stärker eingebunden, so genannte Bildungsangebote der Bundeswehr in Medien der Kultusministerien veröffentlicht werden.

Die Kampagne „Schulfrei für die Bundeswehr“ will  über die Militarisierung der Gesellschaft am Beispiel Schule in Baden-Württemberg aufklären und ist zunächst auf das Schuljahr 2010/2011 ausgerichtet. Dazu werden sowohl Hintergrundmaterial zur Verfügung gestellt, aber gleichzeitig mit weiteren Materialien SchülerInnen, LehrerInnen, ReferendarInnen, Eltern und Friedensgruppen unterstützt, die sich gegen den Einsatz von Jugendoffizieren an ihrer Schule wehren wollen.

Die Initiative tritt dafür ein, die Kooperationsvereinbarung in Baden-Württemberg zurückzunehmen, auf dem Weg zu einer bundeswehrfreien Schule, um langfristig Militärs aus allen Bildungseinrichtungen zu verdrängen. Schülerinnen und Schüler sollen nicht für das Töten von Menschen angeworben werden, sondern zum Frieden erzogen werden. Es werden ReferentInnen angeboten, die zu diesem Zwecke für Veranstaltungen  „gebucht“ werden können.

Die Kampagne „Schulfrei für die Bundeswehr“ setzt sich aus landesweiten und bundesweiten antimilitaristischen, pazifistischen und gewerkschaftlichen Organisationen zusammen: DFG-VK Baden-Württemberg, Informationsstelle Militarisierung, Ohne Rüstung Leben , Pax Christi Rottenburg-Stuttgart, Werkstatt für gewaltfreie Aktion, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg. Außerdem engagieren sich darin verschiedene Einzelpersonen.

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, gegen die Einflussname der Bundeswehr in den Bildungseinrichtungen des Landes aktiv zu werden. Mehr Informationen: www.schulfrei-für-die-bundeswehr.de
 


"... aber hat nicht gedient - Junge Menschen verweigern den Krieg"

Audio-Slideshow (Film) "... aber hat nicht gedient - Junge Menschen verweigern den Krieg" mit dem Fotografen Timo Vogt

am Mo., 29. November 2010, 19.30 Uhr
im Clash (Mehringhof)
Gneisenaustr. 2a in Berlin
U-Mehringdamm

Der Fotograf Timo Vogt besuchte Kriegsdienstverweigerer in Deutschland, Armenien, Israel und der Türkei. Sie erzählten von ihren Beweggründen und den zuweilen folgenschweren Konsequenzen ihrer Gewissensentscheidung. An der israelischen Sperrmauer, mit der Bundeswehr am Hindukusch, bei Militärparaden in der Türkei und in den Schützengräben der Front von Nagorny-Karabach entstand die fotografische Begleitung der Geschichten von mutigen Querdenkern.

Die Audio-Slideshow verbindet Fotografie und Ton zu einem „Film" der besonderen Art. Die verwobenen Aussagen der Kriegsdienstverweigerer werden von Stills visuell begleitet, die Einblicke in die Welt der Verweigerer geben. Vier Geschichten von einer engagierten Frau und drei Männern, die partout nicht in eine Uniform steigen wollen.

Timo Vogt, geboren 1980, arbeitet unter dem Namen randbild.de als Fotograf. Seit 2003 bereist er überwiegend den Kaukasus für gesellschaftliche und politische Fotoreportagen.

Die Veranstaltung wird durchgeführt von: Umbruch Bildarchiv e.V. und Republikanischer Anwältinnen- und Anwälte Verein e.V. (RAV). Weitere Veranstaltungen finden statt in Frankfurt am Mi., 1.12.2010 und in Köln am Do., 2.12.2010

Für eine andere Welt

Anlässlich der heutigen Sozialproteste zeigen wir die "arte" Dokumentation: "Für eine andere Welt". Aus der Beschreibung:

"Griechenland, Frankreich, Dänemark, Brasilien oder China - überall auf der Welt regt sich entschiedener Widerstand. Hier der Zorn der Jugendlichen, dort die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, der Aufstand der vom System Ausgeschlossenen.

Nie zuvor war der Geist der Revolte so stark und so verbreitet. Allein im Jahr 2009 wurden weltweit 524 Aufstände gezählt, und fast ein Drittel davon fand in Europa statt. Alle Proteste werden von jungen Menschen getragen, die ihrem Unmut über die Globalisierung Luft machen wollen."








Bundeswehrwerbung im Wolkenkuckucksheim - oder: wie Militär spielerisch unverzichtbar gemacht wird

Dokumentiert: Die IMI-Analyse 2010/037 - "Planspiel Pol&IS - Bundeswehrwerbung im Wolkenkuckucksheim –“ oder: wie Militär spielerisch unverzichtbar gemacht wird" von Jürgen Wagner. (Ebenfalls als PDF Dokument verfügbar.)

Mitte Oktober 2010 ergab sich für eine Gruppe Friedensaktivisten erstmals die Möglichkeit, die Simulation „Politik und Internationale Sicherheit“ (Pol&IS) zu spielen, deren Regelwerk und Funktionsweise außerhalb einiger knapper Beschreibungen nicht öffentlich zugänglich sind. Da man deshalb bislang hauptsächlich auf Sekundärquellen angewiesen war, bot sich nun an drei Tagen im sauerländischen Winterberg eine Gelegenheit, sich ein genaueres Bild von der Simulation machen zu können, mit der die Bundeswehr ihre Sicht auf die Zusammenhänge von Wirtschaft, Politik und Sicherheit (der Begriff Krieg wird tunlichst vermieden) vor allem an Schüler der gymnasialen Oberstufe vermittelt.

Das wichtigste Fazit gleich vorweg: Das Spiel zielt keineswegs plump darauf ab, das Militär oder bewaffnete Eingriffe vorbehaltlos hochzujubeln.[1] Auf den ersten Blick spielt das Militär eine eher untergeordnete Rolle –“ und das ist auch gewollt; politische, ökonomische und ökologische Aspekte stehen im Vordergrund. Die Etablierung eines globalen Gleichgewichts, das letztlich zugunsten aller ist, wird als Ziel des Spiels ausgegeben. Um dies zu verwirklichen, werden die Teilnehmer von den Jugendoffizieren, die als Seminarleitung fungieren, zu allerlei Maßnahmen ermutigt, die sich beim besten Willen nicht kritisieren lassen –“ sie reichen von der Etablierung gerechterer Verteilungsmechanismen in der Weltwirtschaft bis hin zu ökologischen Umbaumaßnahmen und selbst Abrüstung wird (bis zu einem gewissen Grad versteht sich) gefördert: "Die Teilnehmer der Simulation sind gefordert ihren Weg zu beschreiten in eine Welt, die sie selber gestalten. - Create your own world."[2]

So entsteht fast der Eindruck, man sitze in einem Attac-Seminar und genau dies macht das Spiel so gefährlich, denn eben dies erschwert es schließlich erheblich, das Spiel pauschal in Bausch und Bogen zu verdammen. Doch bei näherer Betrachtung steckt der (Bundeswehr-)Teufel im Detail. Abseits unzähliger kleinerer Dinge, die sauer aufstoßen[3], sind vor allem zwei Aspekte besonders hervorzuheben. So gibt es zwar großen Spielraum eine friedlichere, ökologischere und gerechtere Welt zu schaffen, weshalb dies in der realen Welt jedoch nicht geschieht und welche Kräfte hierfür verantwortlich sind, lässt man dabei geflissentlich unter den Tisch fallen –“ und das in einem Spiel, das erklärtermaßen den Anspruch erhebt, die Welt möglichst realistisch zu simulieren.

Außerdem trügt natürlich der erste Eindruck gewaltig, bei Pol&IS handele es sich fast um ein pazifistisches Spiel. Denn ungeachtet des komplexen und diffizilen Regelwerks verfügen die Jugendoffiziere über nahezu vollkommene Freiheiten mittels willkürlicher –“ weil nirgends im Regelwerk fixierter –“ Belohnungen und Bestrafungen "richtige" Schritte der Spieler zu forcieren bzw. "falsche" Maßnahmen zu sanktionieren. So lässt sich ein Korridor akzeptablen Handelns vorgeben, in dem letztlich auch das Militär und speziell die Bundeswehr eine wenn auch nicht zentrale so –“ und das ist die Kernbotschaft –“ doch unverzichtbare Rolle spielt.

Aus diesen Vorbemerkungen wird bereits ersichtlich, dass Pol&IS mit dem Argument, es sei offen militaristisch bei weitem nicht beizukommen ist, weshalb im Folgenden versucht werden soll, eine etwas differenziertere Kritik zu formulieren. Zuvor soll jedoch herausgearbeitet werden, weshalb solche Werbemaßnahmen für die Bundeswehr immer weiter an Bedeutung gewinnen.


1. Warum Pol&IS?

Die Bundeswehr sieht sich derzeit –“ auch nach eigener Einschätzung –“ einer doppelten Herausforderung ausgesetzt. Sie steht vor einem Akzeptanzproblem und einem Rekrutierungsproblem. So werden die Auslandseinsätze der Bundeswehr aufgrund wachsender Opferzahlen und Kosten mittlerweile von einer stabilen Mehrheit der deutschen Bevölkerung abgelehnt –“ dies gilt im Übrigen eben nicht nur für den Krieg in Afghanistan, sondern für nahezu sämtliche Einsätze. Gleichzeitig sollen aber offensichtlich sowohl Zahl als auch Umfang der Bundeswehreinsätze weiter erhöht werden. Aktuell befinden sich etwas über 7.000 Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz, womit die Truppe laut eigenen Aussagen an ihre Grenzen stößt. Mit der nun anstehenden "Reform" der Bundeswehr soll die künftige Zielgröße dennoch auf mindestens 10.000 hinaufgeschraubt werden.[4] Vor diesem Hintergrund ist damit zu rechnen, dass die Ablehnung von Auslandseinsätzen weiter zunehmen dürfte und allein schon deshalb eine Imagekampagne dringend erforderlich sein wird.

Erschwert wird diese Situation aus Sicht des Verteidigungsministeriums noch dadurch, dass dem steigenden Bedarf nach Rekruten, die es gilt in Auslandseinsätze zu schicken, eine sinkende Bereitschaft sich beim Bund zu verpflichten entgegenläuft. Verschiedene Faktoren tragen hierzu bei, von dem sich abzeichnenden demografischen Knick bis hin zur Tatsache, dass die Risiken und Zumutungen, die mit den zunehmenden Auslandseinsätzen verbunden sind, die Bundeswehr für immer weniger Jugendliche zu einem attraktiven Arbeitgeber machen. Weiter erschwert wird dies durch die sich abzeichnende Aussetzung der Wehrpflicht, die bislang ein wesentliches Mittel war, um an neue Soldaten zu gelangen. Angesichts dieser Schwierigkeiten an Nachwuchs zu gelangen, hat die Bundeswehr mit unzähligen Rekrutierungs- und Werbemaßnahmen begonnen und ihre Aktivitäten und Ausgaben in diesem Bereich in jüngster Zeit erheblich ausgeweitet –“ Pol&IS ist nur eine davon, allerdings eine wichtige.[5] So heißt es im aktuellen Jugendoffizier-Bericht: "Die Simulation 'Politik & Internationale Sicherheit' (POL&IS) galt auch 2009 weiterhin sowohl bei den Jugendlichen als auch in der Lehrerschaft als hochattraktiv und wurde entsprechend nachgefragt. Mit 365 mehrtägigen Simulationen und 16.120 teilnehmenden Schülern und Lehrern sowie Studenten und Referendaren sind die Kapazitäten der POL&IS-Seminare voll ausgeschöpft. [...] So kann erneut festgehalten werden, dass POL&IS ein wesentliches Kernstück in der Arbeit der Jugendoffiziere ist und bleibt."[6]

Die Bundeswehr steht also unter einem erheblichen Legitimationsdruck, ihre zunehmenden Auslandseinsätze gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen und gleichzeitig die "Bedarfsdeckung" frischer Rekruten zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund leitet sich das Aufgabenprofil von Pol&IS ab: Akzeptanzsteigerung durch Überzeugung von der Unverzichtbarkeit der Bundeswehr, ohne gleichzeitig durch allzu offen militaristisches Auftreten ohnehin vorhandenen Vorbehalten in der Bevölkerung weiter Vorschub zu leisten.

Pol&IS –“ ein Kurzüberblick

Die Zielgruppe von Pol&IS sind vor allem Schülerinnen der gymnasialen Oberstufe. Es wird aber auch mit Lehrern, Studenten und anderen Gruppen gespielt, wodurch sich der Wirkungskreis erheblich vergrößert. Entwickelt wurde Pol&IS von dem Politikprofessor Wolfgang Leidhold, der die Rechte an dem Spiel 1989 an die Bundeswehr abtrat. Durchgeführt wird POL&IS stets von zwei der insgesamt derzeit 94 Jugendoffiziere, deren generelle Aufgabe es ist, über die Politik der Regierung in Bezug auf die Armee zu informieren und sie zu legitimieren. Direktes Rekrutieren ist den Jugendoffizieren offiziell verboten, hierfür sind die Wehrdienstberater zuständig. Allerdings wäre es naiv zu glauben, die Jugendoffiziere würden nicht für eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber der Militärpolitik sorgen, wodurch wiederum das Feld für spätere Rekrutierungsbemühungen der Wehrdienstberater bestellt wird.

Die Pol&IS-Welt ist in dreizehn Regionen aufgeteilt, in denen die Rollen des Regierungschefs, Staatsministers (Militär), Wirtschaftsministers und Umweltminister von Spielern übernommen werden (die Opposition spielt, soweit ersichtlich, eher eine untergeordnete Rolle). Darüber hinaus sind auch Nichtstaatliche Organisation wie z. B. Greenpeace oder Amnesty International sowie die Weltbank, die Weltpresse und die Vereinten Nationen (in Form des Generalsekretärs) eingebunden.

Es gibt je einen Umwelt-, Wirtschafts-, und Militärbereich. Im Zentrum des Wirtschaftsbausteins steht die Versorgung der eigenen Bevölkerung, wofür die Produktion in den Sektoren Energie, Rohstoffe, Industrie und Agrar gesteigert werden muss. Unterversorgungen müssen über den Weltmarkt gedeckt werden. Wirtschaftswachstum erzeugt wiederum Verschmutzung, die durch Investitionen in Umweltmaßnahmen abgeschwächt werden muss –“ oder man verschifft den Müll in eine der ärmeren Regionen. Der Militärbereich spielt insgesamt eine eher untergeordnete Rolle, da zwischenstaatliche Kriege gemäß der Spielmechanik äußerst kostspielig und wenig "profitabel" sind.

Während Militär, Ökologie und Ökonomie nach festen Regeln funktionieren, werden im politischen Bereich Programme entworfen, die Maßnahmen in nahezu jedem Politikbereich beinhalten können. Die Bewertung dieser Programme in Form eines Bonus oder einer Sanktion obliegt den leitenden Jugendoffizieren, die hierüber einen massiven Gestaltungsspielraum haben, indem sie Anreize für aus ihrer Sicht "richtige" Maßnahmen geben können.




2. Weltpolitik bar jeglicher Realität


"'Das Hungerproblem in der dritten Welt ist gelöst,' verkündet stolz der Präsident Nordamerikas. 'Die Nationen der Welt haben in enger Zusammenarbeit durch eine gerechte Umverteilung der Weltressourcen das Überleben aller Menschen dieser Erde für die kommende Generation gesichert.' Und seine Amtskollegin aus Westeuropa lobt in ihrer Rede 'das konstruktive Zusammenwirken der internationalen Staatengemeinschaft bei der Lösung dieses Problems.'"[7]

Diese Meldung ist leider zu schön um wahr zu sein und tatsächlich entstammt sie nicht der realen Welt, sondern einer der Pol&IS-Simulationen. Wie bereits erwähnt, werden solche Lösungen globaler Probleme von den Jugendoffizieren bis zu einem gewissen Grad explizit gefördert. So wird aufgezeigt, wie sich Konflikte auch nicht-militärisch lösen lassen könnten, wie wünschenswert gerechtere wirtschaftliche Verteilungsmechanismen wären oder wie zwingend ein ökologischer Umbau eigentlich sei.

Dabei wird durchaus nicht vor Kritik an existierenden Verhältnissen zurückgeschreckt, wie sich beispielhaft anhand der Handelspolitik zeigen lässt. Jedes Land verfügt bei mindestens einer der fünf Handelswaren (Energie, Rohstoffe, Agrar- und Industriegüter, Müll) über einen Überschuss bzw. eine Unterversorgung, die es über den Weltmarkt zu decken gilt, um Wirtschaftswachstum zu erzeugen und die Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Die „Handelsware“ Müll spielt natürlich eine etwas andere Rolle, da dieser von Staaten, die zuviel produzieren, an andere Staaten verkauft werden kann.

Am globalen Handelstisch, auf dem die Waren per Auktion verdealt werden, haben Nordamerika, Europa und Japan zu Beginn einer solchen Handelsphase nacheinander die Möglichkeit, mit den anderen Ländern zu handeln, ohne dass jemand eingreifen könnte. Damit wird versucht, halbwegs realistisch die existierenden unfairen Handelsbedingungen abzubilden, die sich dann auch in der weiteren Auktion fortsetzen. Der Handel findet vor allem am Kopf des Tisches statt, an dem Nordamerika, Europa und Japan sitzen. So müssen ökonomisch und machtpolitisch schwächere Länder auch dort ganz andere Preise bezahlen, um ihre Bedürfnisse decken zu können.

Das Spiel eröffnet –“ und ermutigt –“ jedoch friedenspolitisch, wirtschaftlich und ökologisch weit über die heutigen miserablen Zustände hinauszugehen, was es nicht zuletzt gegenüber Kritik immunisiert und seine hohe Attraktivität bis hinein in linksliberalere Kreise ausmacht. Wenn die Spieler nur eine bessere Welt wollen, so ist dies auch im Rahmen gewisser von den Spielregeln bzw. Jugendoffizieren gesetzter Grenzen möglich, so die Botschaft. "Generell haben wir in der Pol&IS–“Welt kein Versorgungsproblem, sondern ein Verteilungsproblem, wie in der wirklichen Welt auch", so einer der Jugendoffiziere beim Seminar in Winterberg. Als Positivbeispiel, wie diesem Problem begegnet werden könnte, berichtete der Seminarleiter weiter, in einer seiner Simulationen hätten die Spieler etwa entschieden, ihre sämtlichen Ressourcen in die Mitte zu werfen und sich anschließend lediglich das herauszunehmen, was sie benötigt hätten –“ das Verteilungsproblem wurde somit adäquat adressiert, ein Schritt in eine bessere Welt war getan.

Soweit, so gut! Allerdings funktioniert dies nur, weil sich die Schüler und Simulation eben nicht an der Realität orientieren: "Die Schüler verfolgen nicht nationalpolitische Interessen, wie in der Wirklichkeit", so war zu hören. Die Frage also, weshalb solche und andere begrüßenswerte Schritte in der Realität nicht erfolgen, wird nicht adressiert - nationalstaatliche Interessen, Machtpolitik und kapitalistische Konzerninteressen, v.a. innenpolitische Lobbygruppen, kurz: die Systemfrage wird ausgeblendet. Insofern verwundert es natürlich nicht, dass auch für Strategien, wie die Widerstände auf dem Weg zu einer sozialen, friedlichen und ökologischen Welt überwunden werden können, keinerlei Raum existiert. Von einem Spiel der Bundeswehr eine derart kritische Herangehensweise zu verlangen, ist womöglich zuviel verlangt, in jedem Fall wird hierdurch aber der erklärte Anspruch, weltpolitische Zusammenhänge möglichst wirklichkeitsnah zu simulieren, ad absurdum geführt. "POL&IS heißt: Realitätsnah ein paar Tage Weltpolitik zu spielen."[8] Genau dies geschieht bei Pol&IS jedoch gerade nicht. Das Spiel entwirft vielmehr ein globales Wolkenkuckucksheim, das mit den realen Gegebenheiten herzlich wenig gemein hat.

Es fängt bereits bei einer der zentralen Grundannahmen an: das Spiel basiert darauf, dass die Versorgung der Bevölkerung ausschließlich durch Wirtschaftswachstum gewährleistet werden kann und –“ noch besser -, dass es möglich sei, dies global für alle auch zu gewährleisten. Konsequenterweise besteht die Aufgabe der Weltbank –“ der Internationale Währungsfonds ist hier implizit integriert –“ ausschließlich darin, für eine global sinnvolle Verteilung der Güter und Ressourcen zu sorgen, ohne dass ihre tatsächliche Rolle in der Aufrechterhaltung globaler Ungerechtigkeiten thematisiert würde. Welche mächtigen Lobbygruppen und welche Mechanismen in der realen Welt dafür sorgen, die Hierarchie- und Ausbeutungsstrukturen der Weltwirtschaft ad infinitum aufrechtzuerhalten, findet keinerlei Erwähnung.

Die innenpolitische Opposition spielt ebenfalls kaum eine Rolle, wobei auch interessant ist, dass diese für Europa laut Spielvorgabe nur „konservativ“ oder „liberal“ sein kann. Das heißt „Soziale Bewegungen“, die es direkt nicht gibt, erscheinen im Spiel lediglich als Streik oder Aufstand wie ein schädliches Ereignis, nicht wie eine Chance auf Umverteilung und demokratische Teilhabe von unten. Damit bildet das Spiel aber ähnlich genau die Realität ab, wie wenn Monopoly gespielt würde, um genau zu sein, sogar noch schlechter: "Bei Pol&IS gibt es keine Gewinner oder Verlierer. Wie im echten Leben geht es darum, für das Wohl der eigenen Region zu sorgen und gleichzeitig Mitverantwortung für den Rest der Welt zu tragen."[9]

So kommen zwar erfreuliche, aber bedauerlicherweise vollkommen unrealistische Meldungen wie die zu Anfang des Kapitels zustande. Sie verdecken, welche Kräfte eine friedlichere, gerechtere und ökologischere Welt verhindern und dass eine solche Welt erkämpft und durchgesetzt werden muss –“ und zwar nicht am Verhandlungstisch, sondern zuallererst auf der Straße.


3. Gestaltungsspielräume für die Unverzichtbarkeit des Militärs


Liest man die grob irreführende Beschreibung der Aufgaben der Jugendoffiziere, so drängt sich der Eindruck auf, sie hätten lediglich beratende Tätigkeit und würden für wenig mehr als die Einhaltung der Spielregeln sorgen: "Um die Komplexität der Simulation zu strukturieren und besser zu organisieren, ist der Ablauf in Phasen eingeteilt. Als Simulationsleiter überwachen die Jugendoffiziere die Einhaltung dieser Phasen, geben Anregungen und Hilfestellungen zu Problemlösung und Hinweise zu den Spezifika der jeweiligen Phase."[10]

Insofern war die größte Überraschung des Winterberg-Seminars die Erkenntnis, dass die Spielleiter –“ und im Falle von Pol&IS sind dies nun einmal Jugendoffiziere und damit Militärs –“ über nahezu unbeschränkte Befugnisse verfügen, in ihrem Sinne das Spiel zu lenken. Denn neben den strikt im Regelheft festgehaltenen Wirkungsweisen von Ökonomie, Ökologie und Militär gibt es sozusagen noch ein Spiel im Spiel. Die Spieler sind gehalten, für nahezu jeden erdenklichen Bereich Programme zu entwerfen, um aus ihrer Sicht vorteilhafte Entwicklungen anzustoßen. Hierfür werden ein, zwei Ziele angeführt und Maßnahmen angegeben, wie diese Ziele erreicht werden können. Die Spielleiter in Form der Jugendoffiziere bewerten dann wiederum, ob das Programm "gut" oder "schlecht" ist und vergeben auf dieser Grundlage Spielboni oder Sanktionen: „Es liegt im Ermessen des Jugendoffiziers/Spielleiters, bei Programmen, die in den Sand gesetzt wurden, zu sanktionieren oder nicht", so die Aussage auf dem Seminar.

Es wäre naiv zu glauben, Jugendoffiziere könnten eine „neutrale“ Position einnehmen, sie werden stets –“ und dies verständlicherweise –“ die Sicht des Militärs vermitteln, alles andere wäre ja grotesk. Erscheint den Jugendoffizieren etwas als "falsch", so folgt also die Sanktion auf dem Fuße. Hierdurch eröffnet sich den Jugendoffizieren die Möglichkeit, das Geschehen in die "richtigen" Bahnen zu lenken: "Da wollen wir natürlich gestalten" oder: das Ziel ist "gestaltend in die Simulation einzugreifen", so die Aussagen auf dem Seminar. Entscheidend ist, dass aus dem Regelheft nicht hervorgeht, nach welchen Maßgaben "gestaltend" eingegriffen wird. Auf Nachfrage wurde bestätigt, dass es hierfür keinerlei Vorgaben gäbe. Die Bewertung, was "gut" und "schlecht" ist, erfolgt nach Gutdünken der Jugendoffiziere ohne ersichtlichen Begründungsrahmen, also von Militärs mit einer bestimmten Weltsicht, nämlich derjenigen der Bundeswehr, die sie ausgebildet hat.

Die Jugendoffiziere entscheiden damit letztinstanzlich darüber, welche Maßnahmen und Schritte erfolgreich und damit "realistisch" sind und welche eben nicht; sie geben damit den Grad des Akzeptablen vor. Zwar wird etwa ein Auge zugedrückt, wenn abgerüstet wird, um Ressourcen zu sparen, teils wird dies sogar ermuntert, zu weit dürfen solche Schritte jedoch nicht gehen. Insgesamt wird die Pol&IS-Welt nämlich keineswegs als besonders friedlicher Ort portraitiert: "Die nachlassende Ordnungskraft von den Staaten führt zur Zunahme von Kriegen und Konflikten - weltweit dauerhaft instabile Regionen drohen. Die Reaktion auf diese Bedrohung bedarf eines neuen Mixes von robusten Fähigkeiten."[11]

Vor diesem Hintergrund ist es ausgeschlossen, dass alle Mitspieler auf ihre Armeen verzichten, es ist in diesem Fall davon auszugehen, dass die Spielleitung willkürlich Krisen und Konflikte entstehen lassen würde, um solche Schritte zu sanktionieren. Hierfür lässt sich beispielhaft der Afghanistan-Konflikt anführen. Die Spielleitung bewertete auf dem Seminar das Programm eines Spielers, das eine Erhöhung der Entwicklungshilfe, gleichzeitig aber auch den Verbleib der Truppen vorsah, mit "gut". Begründet wurde dies folgendermaßen: "Die Soldaten abziehen und hoffen, dass das dann funktioniert, das wird zu einfach sein." Insofern hätte eine Erhöhung der Entwicklungshilfe bei gleichzeitigem Truppenabzug vermutlich eine Sanktion nach sich gezogen.

Nicht zuviel Militär, aber auch keinesfalls zu wenig, das ist die Botschaft, die von den Spielleitern mal mehr mal weniger subtil transportiert wird. Sie können immer wieder Aufgaben einstreuen, die gelöst werden müssen, um eine Sanktion in Form geringerer Wirtschaftstätigkeit abzuwenden. Eine solche Aufgabe bestand auf dem Seminar in Winterberg in der Bewältigung des Piraterieproblems vor der Küste Somalias. Die Versorgung der Industriestaaten werde hierdurch beeinträchtigt und gehe zurück –“ es bestehe Handlungsbedarf, so das Szenario. Explizit erwähnt wird die Ursache des Konfliktes, nämlich das leerfischen der Region durch westliche Fischkutter: "Seit über 20 Jahren gibt es in Somalia keinen funktionierenden Staatsapparat. Bisher hat das die internationale Gemeinschaft recht wenig gestört. Seit einiger Zeit versuchen sich allerdings Mittellose als Piraten. Hierbei sind sie sehr erfolgreich. Dies trifft besonders die Industrieregionen. Auffällig ist hierbei, dass einige der gefassten Piraten aussagen, dass sie vorher Fischer waren und aufgrund von chinesischem und europäischem Fischfang keine Perspektive mehr sehen. Nordamerika und Japan verlieren 10 Polisdollar und China und Russland 5$ an Lösegeldern."

Belohnt wird dann, wenn der Spieler hierauf einerseits mit einer Erhöhung der Entwicklungshilfe reagiert, um so die Konfliktursachen anzugehen. Allerdings argumentierten die Jugendoffiziere weiter, dass Entwicklungshilfe lange dauere bis sichtbare Erfolge zu verzeichnen seien und auch unmittelbar "etwas getan" werden müsse. Ohne die Entsendung von Kriegsschiffen gäbe es also unmittelbare Folgen für die Wirtschaftsleistung der Industrienationen, so die Jugendoffiziere, kurzfristig gäbe es dazu keine Alternative, auch wenn dies "tatsächlich die Bekämpfung von Symptomen ist, das ist uns allen klar." Die ebenfalls eingeforderte Ursachenbekämpfung erfolgt in der Realität jedoch nicht, befragt, weshalb dies der Fall sei, antwortete einer der Jugendoffiziere lediglich mit einem viel sagenden Schulterzucken, mehr gibt auch Pol&IS zur Beantwortung dieser entscheidenden Frage leider nicht her.

Fazit


Pol&IS gelingt auf Grundlage von systemimmanenten und herrschaftsorientierten Rahmenbedingungen ein schwieriger Balanceakt: kritisch und bisweilen regelrecht progressiv, um linksliberaler Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, aber nicht so kritisch –“ bzw. realistisch -, dass ansonsten grundsätzliche Fragen oder sogar die Systemfrage gestellt werden müsste; nicht allzu offen militaristisch, in Ansätzen sogar „friedensfördernd“[12], gleichzeitig aber Korridore absteckend, die das Militär als unverzichtbare Notwendigkeit legitimieren helfen.

Und genau dies scheint letztlich das Ziel zu sein, wie aus einer Spielbeschreibung der Bundeswehr deutlich hervorgeht: "Den Teilnehmern wird deutlich, warum falsches Handeln interne und externe Krisen auslösen kann, warum Staaten Konflikte austragen, warum Ressourcenknappheit einen Staat ruinieren kann, warum Ökologie und Ökonomie zusammenhängen und warum Sicherheitspolitik unabdingbar ist."[13] Oder in den Worten eines der Jugendoffiziere beim Seminar in Winterberg: „Militär ist ein politisches Mittel, das leider hier und da in der Welt eingesetzt werden muss.“

Anmerkungen:

[1] "Es gibt Simulationen, in denen [im militärischen Bereich] kaum etwas passiert", teilte einer der Jugendoffiziere auf dem Seminar mit. "Bei Pol&IS ist vieles machbar, aber das Ziel des Spieles ist, friedliche Möglichkeiten zur Konfliktlösung zu finden", betont Karl Wichmann, ein anderer Pol&IS-Spielleiter. Kursell, Gregor: Im Zeichen von Eule und Igel, Die Zeit, Nr. 4/1994.

[2] Die Geschichte von POL&IS, o.j. (Hervorhebung im Original): http://www.polis.jugendoffizier.eu

[3] Um nur ein Beispiel zu nennen, werden Entwicklungshelfer im Spiel "auf- und abgerüstet", womit ihr Zweck mehr als deutlich signalisiert wird, nämlich sicherheitspolitischen Mehrwert zu erbringen.

[4] Vgl. Pflüger, Tobias: Die Reform der Bundeswehr. Sachstand und friedenspolitische Forderungen, in: AUSDRUCK (Oktober 2010), S. 4-5.

[5] Vgl. zu den zahlreichen Bundeswehr-Rekrutierungsmaßnahmen Glaßer, Michael Schulze von: An der Heimatfront: Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr, Köln 2010.

[6] Bundesministerium der Verteidigung: Jahresbericht der Jugendoffiziere der Bundeswehr 2009, Berlin, 31. Mai 2010, S. 4f.: http://www.bundeswehr-monitoring.de/fileadmin/user_upload/media/Jugendoffiziere-Bericht-2009.pdf

[7] Bundesministerium der Verteidigung: POL&IS: Eine Simulation zu Politik und internationaler Sicherheit, Erleben. Verstehen. Gestalten: http://www.polis.jugendoffizier.eu/fileadmin/user_upload/POLIS_Broschuere.pdf

[8] Ebd.

[9] Ebd.

[10] Die Geschichte von POL&IS aaO.

[11] Ebd.

[12] Das kann soweit gehen, dass allzu aggressive, kriegerische Handlungen sanktioniert werden. Ein solches Verhalten brauche dann eine gute Erklärung, so die Aussage eines der Jugendoffiziere. "Ich greife an, weil die blöd sind, genügt da nicht." In solchen Fällen habe er die Simulation auch schon einmal unterbrochen und auf die Folgen blinder Aggression aufmerksam gemacht. Auch hier zeigt sich der immense Gestaltungsspielraum, der mit Realismus überhaupt nicht zu tun hat. In diesem Fall stimmt nämlich entweder die Einschätzung der Friedensbewegung und zahlreicher Experten, das Länder nicht "aus dem Buch heraus" angreifen oder die - offizielle –“ westliche Bewertung von Ländern wie Nordkorea oder dem Iran ist grundfalsch, denen genau dies vorgeworfen wird.

[13] Bundesministerium der Verteidigung: POL&IS deutsch-französisch in Bremen, 22.12.2008 (Hervorhebung JW): http://tinyurl.com/2u62azl Diese Formulierung findet sich inzwischen in zahlreichen Beschreibungen, u.a. auch im Pol&IS-Wikipedia-Eintrag.
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