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Adorno: Antithese



Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

Für den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr, daß er sich für besser hält als die andern und seine Kritik der Gesellschaft mißbraucht als Ideologie für sein privates Interesse. Während er danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt. Solchem Eingedenken aber widerstrebt die Schwerkraft des Bürgerlichen in ihm selber. Der Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt. Die eigene Distanz vom Betrieb ist ein Luxus, den einzig der Betrieb abwirft. Darum trägt gerade jede Regung des sich Entziehens Züge des Negierten. Die Kälte, die sie entwickeln muß, ist von der bürgerlichen nicht zu unterscheiden. Auch wo es protestiert, versteckt sich im monadologischen Prinzip das herrschende Allgemeine. Die Beobachtung Prousts, daß die Photographien der Großväter eines Herzogs und eines Juden aus dem Mittelstand einander so ähnlich sehen, daß keiner mehr an die soziale Rangordnung denkt, trifft einen weit umfassenderen Sachverhalt: objektiv verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle jene Differenzen, die das Glück, ja die moralische Substanz der individuellen Existenz ausmachen. Wir stellen den Verfall der Bildung fest, und doch ist unsere Prosa, gemessen an der Jacob Grimms oder Bachofens, der Kulturindustrie in Wendungen ähnlich, von denen wir nichts ahnen. Überdies können auch wir längst nicht mehr Latein und Griechisch wie Wolf oder Kirchhoff. Wir deuten auf den Übergang der Zivilisation in den Analphabetismus und verlernen es selber, Briefe zu schreiben oder einen Text von Jean Paul zu lesen, wie er zu seiner Zeit muß gelesen worden sein. Es graut uns vor der Verrohung des Lebens, aber die Absenz einer jeden objektiv verbindlichen Sitte zwingt uns auf Schritt und Tritt zu Verhaltensweisen, Reden und Berechnungen, die nach dem Maß des Humanen barbarisch und selbst nach dem bedenklichen der guten Gesellschaft taktlos sind. Mit der Auflösung des Liberalismus ist das eigentlich bürgerliche Prinzip, das der Konkurrenz, nicht überwunden, sondern aus der Objektivität des gesellschaftlichen Prozesses in die Beschaffenheit der sich stoßenden und drängenden Atome, gleichsam in die Anthropologie übergegangen. Die Unterwerfung des Lebens unter den Produktionsprozeß zwingt erniedrigend einem jeglichen etwas von der Isolierung und Einsamkeit auf, die wir für die Sache unserer überlegenen Wahl zu halten versucht sind. Es ist ein so altes Bestandstück der bürgerlichen Ideologie, daß jeder Einzelne in seinem partikularen Interesse sich besser dünkt als alle anderen, wie daß er die anderen als Gemeinschaft aller Kunden für höher schätzt als sich selber. Seitdem die alte Bürgerklasse abgedankt hat, führt beides sein Nachleben im Geist der Intellektuellen, die die letzten Feinde der Bürger sind und die letzten Bürger zugleich. Indem sie überhaupt noch Denken gegenüber der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten, verhalten sie sich als Privilegierte; indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs. Die private Existenz, die sich sehnt, der menschenwürdigen ähnlich zu sehen, verrät diese zugleich, indem die Ähnlichkeit der allgemeinen Verwirklichung entzogen wird, die doch mehr als je zuvor der unabhängigen Besinnung bedarf. Es gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg. Das einzige, was sich verantworten läßt, ist, den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im übrigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es längst nicht mehr die gute Erziehung, wohl aber die Scham darüber gebietet, daß einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

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