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Gesundheit zum Tode


Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

Wäre etwas wie eine Psychoanalyse der heute prototypischen Kultur möglich; spottete nicht die absolute Vorherrschaft der Ökonomie jeden Versuchs, die Zustände aus dem Seelenleben ihrer Opfer zu erklären, und hätten nicht die Psychoanalytiker selber jenen Zuständen längst den Treueid geleistet - so müßte eine solche Untersuchung dartun, daß die zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht. Die libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimmt, sind derart, daß sie nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können, einer Verinnerlichung der Kastration in den extroverts, der gegenüber die alte Aufgabe der Identifikation mit dem Vater das Kinderspiel ist, in dem sie eingeübt wurde. Der regular guy, das popular girl müssen nicht nur ihre Begierden und Erkenntnisse verdrängen, sondern auch noch alle die Symptome, die in bürgerlichen Zeiten aus der Verdrängung folgten. Wie das alte Unrecht durch das generöse Massenaufgebot von Licht, Luft und Hygiene nicht geändert, sondern durch die blinkende Durchsichtigkeit des rationalisierten Betriebs gerade verdeckt wird, so besteht die inwendige Gesundheit der Epoche darin, daß sie die Flucht in die Krankheit abgeschnitten hat, ohne doch an deren Ätiologie das mindeste zu ändern. Die finsteren Abtritte wurden als peinliche Raumvergeudung beseitigt und ins Badezimmer verlegt. Bestätigt ist der Argwohn, den die Psychoanalyse hegte, ehe sie selber zu einem Stück Hygiene sich machte. Wo es am hellsten ist, herrschen insgeheim die Fäkalien. Der Vers: »Das Elend bleibt. So wie es war. / Du kannst es nicht ausrotten ganz und gar, / Aber du machst es unsichtbar«, gilt im Haushalt der Seele noch mehr als dort, wo die Fülle der Güter zeitweilig über die unaufhaltsam anwachsenden materiellen Differenzen täuscht. Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen. Es ist Grund zur Annahme, daß sie in noch frühere Phasen der Kindheitsentwicklung fallen als der Ursprung der Neurosen: sind diese Resultate eines Konflikts, in dem der Trieb geschlagen ward, so resultiert der Zustand, der so normal ist wie die beschädigte Gesellschaft, der er gleicht, aus einem gleichsam prähistorischen Eingriff, der die Kräfte schon bricht, ehe es zum Konflikt überhaupt kommt, und die spätere Konfliktlosigkeit reflektiert das Vorentschiedensein, den apriorischen Triumph der kollektiven Instanz, nicht die Heilung durchs Erkennen. Unnervosität und Ruhe, bereits zur Voraussetzung dafür geworden, daß Applikanten höher bezahlte Stellungen zugewiesen bekommen, sind das Bild des erstickten Schweigens, das die Auftraggeber der Personalchefs politisch später erst verhängen. Diagnostizieren läßt die Krankheit der Gesunden sich einzig objektiv, am Mißverhältnis ihrer rationalen Lebensführung zur möglichen vernünftigen Bestimmung ihres Lebens. Aber die Spur der Krankheit verrät sich doch: sie sehen aus, als wäre ihre Haut mit einem regelmäßig gemusterten Ausschlag bedruckt, als trieben sie Mimikry mit dem Anorganischen. Wenig fehlt, und man könnte die, welche im Beweis ihrer quicken Lebendigkeit und strotzenden Kraft aufgehen, für präparierte Leichen halten, denen man die Nachricht von ihrem nicht ganz gelungenen Ableben aus bevölkerungspolitischen Rücksichten vorenthielt. Auf dem Grunde der herrschenden Gesundheit liegt der Tod. All ihre Bewegung gleicht den Reflexbewegungen von Wesen, denen das Herz stillstand. Kaum daß gelegentlich einmal die unseligen Stirnfalten, Zeugnis furchtbarster und längst vergessener Anstrengung, daß ein Moment pathischer Dummheit inmitten der fixen Logik, daß ein hilfloser Gestus störend die Spur des entwichenen Lebens bewahrt. Denn das gesellschaftlich zugemutete Opfer ist so universal, daß es in der Tat erst an der Gesellschaft als ganzer und nicht am Einzelnen offenbar wird. Sie hat die Krankheit aller Einzelnen gleichsam übernommen, und in ihr, in dem gestauten Wahnsinn der faschistischen Aktionen und all ihren zahllosen Vorformen und Vermittlungen wird das im Individuum vergrabene subjektive Unheil mit dem sichtbaren objektiven integriert. Trostlos aber der Gedanke, daß der Krankheit des Normalen nicht etwa die Gesundheit des Kranken ohne weiteres gegenübersteht, sondern daß diese meist nur das Schema des gleichen Unheils auf andere Weise vorstellt.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

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