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Erziehung - wozu?

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

„Adorno: Wenn ich vorgeschlagen habe, daß wir uns unterhalten über >>Bildung –“ wozu?<< oder >>Erziehung –“ wozu?<<, so sollte das nicht bedeuten zu diskutieren, wozu überhaupt noch Erziehung da oder nötig sei, sondern: wohin soll Erziehung führen? Es sollte also die Frage des Erziehungszieles in einem sehr prinzipiellen Sinn gefaßt werden, und zwar so, daß eine solche generelle Unterhaltung über das Erziehungsziel gegenüber der Diskussion der einzelnen Erziehungsbereiche und Medien den Vorrang hätte.“ (S. 105)

„Adorno: In dem Augenblick, da man fragt: >>Erziehung –“ wozu?<<, wo dies >>wozu<< nicht mehr selbstverständlich, naiv gegenwärtig ist, gerät alles in Unsicherheit und bedarf schwieriger Reflexionen. Man kann vor allem, wenn dieses >>wozu<< einmal verlorengegangen ist, es nicht einfach durch den Willen restituieren, ein Erziehungsziel von außen aufrichten.

Becker: [...] Das Interessante ist, daß nun immer die Forderung auftaucht, die Unschuld wiederherzustellen, eine Forderung, die uns am deutlichsten in der Beschwörung neuer Leitbilder entgegentritt. Georg Picht hat vor einigen Jahren in einem Vortrag >Unterwegs zu neuen Leitbildern< hinter diese ganze Leitbilderideologie zu Recht nicht nur ein Fragezeichen gesetzt, sondern auch deutlich gemacht, daß Erziehung heute nicht mehr Erziehung auf fixierte Leitbilder hin sein kann. Hier hat sich eine entscheidende Wendung in der modernen Pädagogik angekündigt. Ich würde sagen, daß die Erziehung heute viel mehr zum Verhalten in der Welt auszustatten hat, als daß sie uns irgendein vorgegebenes Leitbild zu vermittteln hätte. Denn schon der immer schneller werdende Wechsel der gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert von Individuen Eigenschaften, die sich als Befähigung zur Flexibilität, zum mündigen und kritischen Verhalten, bezeichnen lassen.“ (S. 106)

„Adorno: Ich möchte dabei nur auf ein spezifisches Moment eingehen, das der Heteronomie im Begriff des Leitbildes, das Autoritäre, von außen willkürlich Gesetzte. Ihm eignet etwas Usurpatorisches. Man fragt sich, woher heute irgend jemand das Recht sich nimmt, darüber zu entscheiden, wozu andere erzogen werden sollen. Dieser Denkweise sind die Bedingungen –“ die aus derselben Sprach- und Denk- oder Nichtdenkschicht stammen –“ im allgemeinen auch nicht weit. Sie stehen im Widerspruch zur Idee eines autonomen, mündigen Menschen, wie Kant sie unübertroffen formuliert in der Forderung, die Menschheit habe sich von ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Ich möchte es danach riskieren, auf einem Beine stehend, zu sagen, was ich mir zunächst unter Erziehung überhaupt vorstelle. Eben nicht sogenannte Menschenformung, weil man kein Recht hat, von außen her Menschen zu formen; nicht aber auch bloße Wissensübermittlung, deren Totes, Dinghaftes oft genug dargetan ward, sondern die Herstellung eines richtigen Bewusstseins*. Es wäre zugleich von eminenter politischer Bedeutung; seine Idee ist, wenn man so sagen darf, politisch gefordert. Das heißt: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen. Wer innerhalb der Demokratie Erziehungsideale verficht, die gegen Mündigkeit, also gegen die selbstständige bewußte Entscheidung jedes einzelnen Menschen, gerichtet sind, der ist antidemokratisch, auch wenn er seine Wunschvorstellungen im formalen Rahmen der Demokratie propagiert. Die Tendenzen, von außen her Ideale zu präsentieren, die nicht aus dem mündigen Bewußtsein selber entspringen, oder besser vielleicht: vor ihm sich ausweisen, diese Tendenzen sind stets noch kollektivistisch-reaktionär. Sie weisen auf eine Sphäre zurück, der man nicht nur äußerlich politisch, sondern auch bis in sehr viel tiefere Schichten opponieren sollte.“ (S. 107)

„Adorno: [...] Die Fragen, die Sie aufgeworfen haben, gehören allesamt in eine Praxis, die Mündigkeit herstellen will. Ich denke vor allem an zwei schwierige Probleme, die man nicht übersehen darf, wenn es um Mündigkeit geht. Zunächst, daß die Einrichtung der Welt, in der wir leben, und die herrschende Ideologie –“ die ja heute schon kaum mehr eine bestimmte Weltanschauung oder Theorie ist -, daß also die Einrichtung der Welt selbst unmittelbar zu ihrer eigenen Ideologie geworden ist. Sie übt einen so ungeheuren Druck auf die Menschen aus, daß er alle Erziehung überwiegt. Es wäre wirklich idealistisch im ideologischen Sinn, wollte man den Begriff der Mündigkeit verfechten, ohne daß man die unermeßliche Last der Verdunkelung des Bewußtseins durch das Bestehende mitaufnimmt. Beim zweiten Problem düften sich zwischen uns sehr subtile Unterscheidungen ergeben: bei dem der Anpassung. Mündigkeit bedeutet in gewisser Weise soviel wie Bewußtmachung, Rationalität. Rationalität ist aber immer wesentlich auch Realitätsprüfung, und diese involviert regelmäßig ein Moment der Anpassung. Erziehung wäre ohnmächtig und ideologisch, wenn sie das Anpassungsziel ignorierte und die Menschen nicht darauf vorbereitete, in der Welt sich zurechtzufinden. Sie ist aber genauso fragwürdig, wenn sie dabei stehenbleibt und nichts anderes als
„Becker: Wenn ich vorhin Bildung eine Ausstattung zum Verhalten in der Welt genannt habe, dann dachte ich an dieses dialektische Verhältnis. Natürlich ist die Fähigkeit zum Verhalten in der Welt nicht ohne Anpassungen an sie denkbar. Gleichzeitig kommt es jedoch darauf an, das Individuum so auszustatten, daß es seine personalen Qualitäten behält. Anpassung darf nicht zum Verlust der Individualität in einem gleichmachenden Konformismus führen.“ (S. 109)

„Adorno: Aber ich meine nun doch, die Gesellschaft setzt im allgemeinen heute auf Nichtindividuation eine Prämie; darauf, daß man mitmacht. Parallel dazu läuft jene innere Schwächung der Ich-Bildung, die der Psychologie längst unter der >Ich-Schwäche< geläufig ist. Schließlich ist auch daran zu erinnern, daß das Individuum selber, also der stur auf dem Eigeninteresse beharrende individuierte, sich selbst gewissermaßen als letztes Ziel betrachtende Mensch, auch etwas durchaus Problematisches ist. Geht also heute das Individuum zugrunde –“ ich bin ein alter Hegelianer, ich kann mir nicht helfen -, so wird auch dem Individuum gleichsam heimgezahlt, was es selber verübt hat.

Becker: Ja, aber wenn das Individuum zugrunde geht, geht auch die Gesellschaft zugrunde: das ist ja für den Hegelianer auch klar.

Adorno: Ich würde nur an eines erinnern: es gibt bei Goethe einen Satz, wo er von einem Künstler, mit dem er befreundet war, sagt, er habe >>sich zur Originalität herangebildet<<. Ich glaube, das gleiche gilt für das Problem des Individuums. Ich würde nicht sagen, daß man den Menschen ihre Individualität erhalten kann. Sie ist gar nichts Vorgegebenes. Aber gerade in dem Prozeß der Erfahrung, den Goethe oder Hegel mit >>Entäußerung<< bezeichnet hätten, in der Erfahrung des Nicht-Ichs am Anderen, bildet sich vielleicht die Individualität. Die Situation ist paradox. Eine Erziehung ohne Individuum ist unterdrückend, repressiv. Wenn man aber versucht, Individuen so heranzuziehen, wie man Pflanzen züchtet, die man mit Wasser begießt, dann hat das etwas Schimärisches und Ideologisches. Die Möglichkeit ist allein, all das in der Erziehung bewußt zu machen, also etwa, um noch einmal auf Anpassung zu kommen, anstelle der blinden Anpassung die sich selbst durchsichtige Konzession zu setzen dort, wo das unausweichlich ist, und auf jeden Fall anzugehen gegen das verschlampte Bewußtsein. Das Individuum, würde ich sagen, überlebt heute nur als Kraftzentrum des Widerstands.“

Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit Frankfurt: Suhrkamp 1971, S117 ff.

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