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Stuttgart im Widerstand

Besetzung des Nordflügels
Der Eintrag stand vor einigen Wochen auf der Internetseite der Parkschützer. Eine ältere Frau hat ihn geschrieben. Sie lebt seit vielen Jahren in dieser Stadt. Sie schreibt, sie habe sich nie richtig in Stuttgart einleben können. Doch jetzt sei sie angekommen. Jetzt, da sich so viel verändert. Die Menschen dieser Stadt wachsen zusammen. Mehr als siebzehntausend Parkschützer hauchen der Stadt mit ihrem aktiven Protest gegen Stuttgart 21 neues Leben ein. Ein Hauch, der nicht jedem passt. Man fühlt sich bedroht. Von Aufklebern, Dauermahnwachen, der Aufforderung, die wahren Kosten für den Tiefbahnhof und der dazugehörigen Neubaustrecke Wendlingen-Ulm zu veröffentlichen. Die Polizei muss Camping-Chaoten aus dem Schlosspark vertreiben, schreibt die Bild-Zeitung, als vor vier Wochen fünfzig Menschen Zelte unter den Bäumen aufschlagen, die für den Tiefbahnhof gefällt werden sollen, und die Stuttgarter Zeitung schreibt jedes Ei, das einen Landtagsabgeordneten trifft, dem Protest gegen Stuttgart 21 zu.

Und jetzt das. Am Montagabend vor dem denkmalgeschützten Bahnhof. Es muss zwischen sechs und halb sieben gewesen sein als die Ska-Band Nu Sports vor Tausenden Montagsdemonstranten zu spielen beginnt. Plötzlich öffnen sich die Fenster im zweiten Stock des inzwischen für den Abriss komplett leer geräumten Nordflügels. Die Stuttgarter Zeitung reagiert sofort: Dass sei „nun kein bürgerlicher Protest mehr“, zitiert sie den Polizeisprecher Stefan Keilbach. Knapp zwanzig Stuttgart 21-Gegner sind es, die durch eine offene Tür gelaufen sind, die Treppen hoch in den zweiten Stock. Sie ziehen Banner aus ihren Rucksäcken und hängen sie aus den Fenstern: „Besetzt“ steht da, „Stuttgart 21 entern“ und „Bürgerbahnhof“. Die Montagsdemonstranten jubeln. Der Bahnhof gehört ihnen.

Der SWR spricht zunächst von siebentausend Menschen, die vor dem Bahnhof stünden, in späteren Nachrichten sollen es nur noch dreitausend gewesen sein. Viele hundert Demonstranten bleiben bis tief in die Nacht, um zu verhindern, dass die Polizei die Parkschützer und Robin Wood Aktivisten aus dem Gebäude holt. Obwohl es immer wieder in Strömen regnet. Obwohl die Polizei mit Pferden und Hunden anrückt. Die Menschen bleiben und wollen in den Bahnhof. Mehr als dreißig Demonstranten klettern über Leitern durch die Bahnhofsfenster in das Gebäude. Studenten, ein ehemaliger Lehrer, ein Stadtrat, eine Erzieherin, eine Architektin und ein Bühnentechniker sind dabei. Die Jüngsten sind unter achtzehn, die Ältesten über sechzig. „Oben bleiben“ und „Wir bleiben alle hier“ rufen sie den im Regen stehenden Menschen vor dem Bahnhof zu. Konfetti, Luftschlangen, und -ballons fliegen aus den Fenstern, während von unten über die Leitern und Kletterseile Isomatten, Decken, Kuchen, belegte Brote und Salate hochgezogen werden. „So etwas hat Stuttgart noch nicht erlebt“, ruft jemand. Im SWR-Videotext steht etwas von Tumulten am Bahnhof, von mehreren hundert Stuttgart 21-Gegnern, die im Haus sind. Aber der Regen ist zu stark, die Nacht zu dunkel, die Gefahr zu groß. Niemand steigt mehr über die Leitern ins Haus.

Matthias von Herrmann möchte den Nordflügel am liebsten so lange besetzen, bis die neue Kostenberechnung der Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm veröffentlicht ist. „Die Besetzung soll verhindern, dass mit dem Abriss irreparabler Schaden angerichtet wird", sagt von Herrmann. Fünf Stunden dauert es, bis zweihundert Einsatzkräfte vor Ort sind, und die Polizei mit der Auflösung der Versammlung vor dem Bahnhof und im Gebäude beginnt.

Vor dem Bahnhof versuchen Demonstranten die Wagen der Polizei zu blockieren. Die Polizei schiebt die Menschen zusammen, drückt sie von ihren Wagen und dem Bahnhofsgebäude weg. Einzelne Demonstranten wehren sich mit Fußtritten, andere werden getreten. Drei Personen werden festgenommen, während die Polizei die ersten Besetzer aus dem Gebäude holt. Unter ihnen drei Pressefotografen. Viele lassen sich tragen. Nur ein Mann wehrt sich. Er wurde dem Haftrichter vorgeführt, sagt Polizeipräsident Siegfried Stumpf in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten. Trotzdem werden auch andere in Handschellen abgeführt, einigen werden die Hände mit Kabelbindern auf dem Rücken zusammengebunden. Die Polizei transportiert die festgenommenen Besetzer in vergitterten Mannschaftswagen in das Polizeipräsidium Hahnemannstraße; mit Blaulicht, gefesselt und ohne Gurt.

Auf der Wache werden alle Personalien aufgenommen, Taschen und Personen durchsucht. Alle werden fotografiert. Einige erheben Einspruch gegen die erkennungsdienstliche Behandlung. Doch die Beamten wehren ab. Die Bilder würden nur intern verwendet. Die Aufnahme der Personalien dauert mehrere Stunden. Mehr als eine Stunde werden Schlüssel für Handschellen vermisst, mit denen ein junger Mann gefesselt ist. Der Personalausweis eines Festgenommenen ist verschwunden. Danach könne er in den kommenden Tagen im Fundbüro fragen, erklären die Beamten. Während unermüdliche Helfer die ersten Entlassenen gegen ein Uhr vor dem Revier mit Applaus und Kaffee empfangen, sitzen immer noch einige auf der Wache fest. Erst gegen vier Uhr sind alle frei.

Insgesamt gab es fünfundfünfzig Festnahmen. Die Hausbesetzer müssen laut Polizei mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch rechnen. Doch die Solidaritätsbekundungen reißen nicht ab. Von den Parkschützern wurde ein Ermittlungsausschuss und ein Rechtshilfefonds eingerichtet. Polizeipräsident Siegfried Stumpf betont in den Stuttgarter Nachrichten, dass die Polizei im Sinne von Recht und Gesetz neutral ist. „Das Demonstrations- und Versammlungsrecht ist ein hohes Gut, es müssen Demonstrationen stattfinden können.“

Wenige Stunden nach der Besetzung des Bahnhofs liegt die neue Kostenberechnung für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm auf dem Tisch. Die Kosten sind von 2,025 Milliarden um mehr als 40 Prozent auf 2,89 Milliarden gestiegen. Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) hält sie trotzdem für vertretbar. Das Land wird nicht mehr zahlen, sondern der Bund, sagt Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU). Entsprechend verlangt der Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Bundestag, Winfried Hermann (Grüne), dass noch einmal über das Projekt beraten wird, und der Waiblinger SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer meint, „die Stadt ist gespalten, der Widerstand in der Bevölkerung nimmt offenkundig zu anstatt ab. Zu erwarten ist, dass dies sich auch in der mittleren Zukunft nicht ändert und während der gesamten Baumaßnahmen weitergeht –“ bis hin zu einem vielleicht dreißigjährigen Bürgerkonflikt. Mehr und mehr zeigt sich, dass es ein schwerwiegender politischer Fehler des Gemeinderats von Stuttgart war, das Bürgerbegehren nicht zuzulassen und auch keine andere Form breiter demokratischer Beteiligung zu ermöglichen.“

Helfen Sie mit, spenden Sie. Der Rechtshilfefonds der Parkschützer wird von Rechtsanwalt Markus Mauz verwaltet. Kontoinhaber: Markus Mauz, Kontonummer: 7018 242 800, BLZ: 430 609 67 (GLS-Bank).

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Dieter Hornemann am :

Als frühere Stuttgarter Einwohner und Liebhaber dieser schönen Stadt bewundern wir Alle, die gegen den Wahnsinn von Stuttgart 21 protestieren. Leider können wir dies nur von fern begleiten. Hoffentlich geschieht in letzter Minute noch ein Wunder, dass dieser Milliarden- Verschwendung noch Einhalt geboten wird!!
Dieter und Dorothea Hornemann

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