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S21 und das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Oder: "Wessen Stadt? Unsere Stadt? Wessen Straßen? Unsere Straßen?"

Polizeieinsatz gegen "S21" GegnerInnen am 30.09.2010

(Klick auf das Bild für mehr Fotos)
Am 27.02. fand in Stuttgart der "Demokratiekongress 21" statt. Mehreren hundert TeilnehmerInnen ging es in zahlreichen Workshops, Plenas und diversen Diskussionsrunden darum "die Entwicklungen, die zu diesem Notstand geführt haben, aufzuarbeiten und Alternativen zu entwickeln." Der Kongress sollte eine "„Auftaktveranstaltung“ zu einer breiten Demokratiediskussion sein, in der an die Situation und den politischen Strukturen in Stuttgart angeknüpft" wurde.

Zusammen mit Cuno Hägele führte ich den Workshop "Wessen Stadt? Unsere Stadt? Wessen Straßen? Unsere Straßen?" durch. Mein Einleitungsbeitrag dokumentiere ich hier, gerne auch zur Diskussion:

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde der Versammlungsfreiheit,

das Thema Versammlungsfreiheit war in den letzten Tagen bundesweit in Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom Dienstag in den Schlagzeilen. Das Gericht entschied, daß das Grundrecht der Versammlungsfreiheit auch im Frankfurter Flughafen gilt –“ und damit in einem privatisierten Unternehmen in Staatsbesitz:

„(...) Ein umfassendes Verbot, in einer Abfertigungshalle des Flughafens zu demonstrieren und dort Flugblätter zu verteilen, sei unverhältnismäßig und verfassungswidrig.

Der Schutzbereich des Grundrechts der Versammlungsfreiheit sei nicht auf öffentliche Straßen beschränkt, heißt es im Urteil. Erlaubt seien Demonstrationen auch an Orten, an denen ein öffentliches Unternehmen einen »Kommunikationsraum« mit vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten nach Art eines »öffentlichen Forums« biete. Dies sei etwa in Terminals von Flughäfen der Fall.

Die Verfassungsbeschwerde einer Aktivistin, die sich gegen die Abschiebung von Ausländern unter Mitwirkung privater Fluggesellschaften wendet, hatte damit Erfolg. Sie hatte am 11. März 2003 zusammen mit fünf weiteren Personen in der Abflughalle des Frankfurter Flughafens an einem Abfertigungsschalter Flugblätter gegen die Zwangsabschiebung eines Ausländers verteilt. Das danach vom Flughafenbetreiber Fraport AG verhängte Hausverbot wurde in den Vorinstanzen bis hin zum Bundesgerichtshof bestätigt. Diese Urteile wurden jetzt aufgehoben.

Erstmals entschieden die Karlsruher Richter, daß eine private Gesellschaft wie die Fraport AG, deren Anteile mehrheitlich von der öffentlichen Hand gehalten werden, unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist.

Nach Ansicht des Verfassungsrechtlers Günter Frankenberg ist das Urteil für Flughäfen, aber auch für Bahnhofshallen relevant. Künftig könne es selbst für große Shopping-Center, die »Stadtteilfunktion« haben, Bedeutung erlangen.“
(„junge Welt“, 23. Februar 2011)

Für uns in der Region Stuttgart hat das Urteil aktuell natürlich vor allem in Zusammenhang mit Stuttgart 21 eine besondere Bedeutung. Sie belebt auch die Diskussion um die Verschärfung des Versammlungsgesetzes, die sich die Landesregierung auf die Fahne geschrieben hat. Die Föderalismusreform 2006 bot den Landesregierungen die Möglichkeit, anstelle des Bundesversammlungsgesetzes eigene Versammlungsgesetze zu beschließen. Die Landesregierung wollte diese Möglichkeit nutzen und brachte im Sommer 2008 den Entwurf für ein neues Versammlungsgesetz ins Gespräch, der das Bürgerrecht auf Versammlungsfreiheit erheblich einschränkt.

Der bis heute nicht zurückgezogene Anhörungsentwurf der baden-württembergischen Landesregierung schafft bürokratische Hürden, sieht die Registrierung, Überwachung und Erfassung der TeilnehmerInnen vor und gibt Polizei und Behörden die Möglichkeit für willkürliche Erschwernisse, Eingriffe in Versammlungen unter freiem Himmel - auch in Veranstaltungen wie die heutige - und damit in die Rechte der Versammelten. Unser im Herbst 2008 gegründetes und inzwischen von einem breiten Spektrum von weit über 100 Organsiationen und zahlreichen Einzelpersonen unterstütztes Bündnis kritisierte den Gesetzentwurf von Innenminister Rech sehr konkret:

„Das Recht auf Versammlungen im Saal wird eingeschränkt:

Obwohl das Grundgesetz nur für Versammlungen unter freiem Himmel gesetzliche Beschränkungen zulässt, sieht das neue Versammlungsgesetz nun auch für Versammlungen im Saal Einschränkungen vor:
- Behörden können in das Selbstbestimmungsrecht von Organisationen eingreifen. Z.B. kann demokratisch gewählten Vorsitzenden die Leitung einer Versammlung untersagt werden.
- Die Behörde kann die Benennung einer von ihr festgelegten Zahl von Ordnern (mit Wohnsitz und Geburtsdatum) verlangen und gleichzeitig Ordner als ungeeignet ablehnen und somit Versammlungen undurchführbar machen.
- Der Versammlungsleiter macht sich strafbar, wenn er nicht rechtzeitig „Gewaltbereitschaft“ erkennt und die Versammlung beendet.

Noch dramatischer sind die Einschränkungen für Demonstrationen und Kundgebungen im Freien:
- Schon zwei Personen gelten künftig als Versammlung. Das kann z.B. bedeuten, dass bereits die Aufstellung von Streikposten bei einem Arbeitskampf als Demonstration angemeldet werden muss.
- Die Anzeigefrist soll verlängert werden auf 72 (statt 48) Stunden vor der ersten Einladung zur Versammlung.
- Bei der Entscheidung über Verbot und Auflagen könnten die „Rechte Dritter“ wie z.B Verkehrsteilnehmer und Gewerbetreibende eine Rolle spielen.
- Versammlungsleiter und Ordner werden zum verlängerten Arm der Polizei gemacht, statt die Anliegen der Versammelten zu vertreten. Sie werden registriert und haftbar gemacht und können als „ungeeignet“ abgelehnt werden.
- Bereits gleiche Mützen oder gleichfarbige Streikwesten von Gewerkschaften können als „militant“ und „einschüchternd“ gewertet und verboten werden.
- Die Polizei darf fast ohne Einschränkungen in die Versammlung eingreifen und z.B. die Personalien der TeilnehmerInnen feststellen.
- Versammlungen können nach Gutdünken der Polizei gefilmt und die Aufnahmen nahezu beliebig gespeichert werden.
- Bereits bei der Anreise zu Versammlungen gilt ein Sonderrecht für polizeiliche Kontrollen und Schikanen.

Das vorgebliche Ziel, besser gegen Naziaufmärsche vorgehen zu können, wird verfehlt. Bereits in der Vergangenheit wurden antifaschistische Aktivitäten häufig seitens der Behörden erschwert. Im neuen Gesetz werden nun verstärkt gerade diejenigen behindert, die sich in Versammlungen gegen Rechtsradikale wenden. Um rechtsradikale zu bekämpfen wären u.a. Verbote von Naziorganisationen angebracht, nicht aber Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, die alle treffen.“

(Positionspapier Bündnis für Versammlungsfreiheit Stuttgart, 2008)

Besonders der letzte Punkt wurde durch die juristische und polizeiliche Praxis in Sachsen nochmals deutlich, wo auf der Grundlage eines ähnlichen Versammlungsgesetzes am 13. und 19. Februar Proteste gegen den europaweit größten Naziaufmarsch niedergeschlagen werden sollten. So wurde beispielsweise dem DGB eine Protestkundgebung vor dem 1933 von den Nazis verwüsteten Gewerkschaftshaus in Dresden mit der Begründung untersagt, dies störe die Versammlung der Faschisten.

Der baden-württembergische Entwurf richtet sich mehr nach "polizeilichen Bedürfnissen nach Ordnung und Sicherheit" und nicht danach, eine breite gesellschaftliche Diskussion zu ermöglichen.

Das sahen viele Menschen ähnlich, innerhalb weniger Wochen gelang es uns 2008 daher, eine Großdemonstration mit 6000 Teilnehmern in Stuttgart zu organisieren und uns bundesweit mit ähnlichen Bündnissen zu vernetzen.

Das bayerische Bündnis gegen das von der dortigen Landesregierung geplante Versammlungsgesetz führte gegen das dortige Versammlungsgesetz eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.

Die Eil-Entscheidung des Bundesverfassungsgericht veranlasste den bayerischen Landtag Anfang 2010 ein überarbeitetes Versammlungsgesetz zu verabschieden, das in einigen Kernpunkten vom ursprünglichen Plan abwich: Wie die Vorschriften, mit denen Leiter von Versammlungen quasi als Hilfspolizisten in die Pflicht genommen werden sollten, das von der Staatsregierung eingeführte „Militanzverbot“, das heimliche und offene Belauschen und Abfilmen von Versammlungen.

Weitere Punkte sind nach wie vor offen, wie die Speicherung persönlicher Daten von Ordnern bei bei der Behörde abgeliefert werden sowie die Anmeldepflicht für Kleinveranstaltungen ab zwei Personen. Aus diesem Grund bleibt auch die Verfassungsklage bestehen. Den endgültigen Spruch wollte die baden –“ württembergische Landesregierung abwarten.

Allerdings –“ nicht ohne untätig zu bleiben:

Es wurde in den letzten Monaten zur Praxis der Ordnungsbehörden, Teile des geplanten Versammlungsgesetzes durch offenkundig rechtswidrige Auflagen oder Gemeinderatsbeschlüsse vorweg zu nehmen - wohlgemerkt obwohl in Baden-Württemberg nach wie vor das Bundesversammlungsgesetz gilt:

Bei den Protesten gegen das öffentliche Gelöbnis der Bundeswehr am 30. Juli in Stuttgart wurden beispielsweise die AnmelderInnen bzw. die  vorgesehenen Versammlungsleiter durch das Ordnungsamt wegen „fehlender Eignung“ abgelehnt, obwohl keiner von ihnen vorbestraft gewesen ist.

Bei einer Demonstration in Schorndorf gegen ein Neonazizentrum wurden sämtliche Daten der Ordner von der Polizei registriert. In Balingen soll nicht nur für die Anmeldung einer Demonstration bezahlt werden, die Teilnehmerinnen sollten nur Getränke in Tetrapack mit sich führen. Zudem sollte auch der Fahrer eines Lautsprecherwagens seine Personalien angeben. Da sich die Demonstration sowieso nur auf dem Gehweg bewegen durfte, war der Lautsprecherwagen übrigens ein Einkaufswagen...

„(...) Besorgniserregend sind jedoch insbesondere die Entscheidungen des BVerfG und des VGH Mannheim, die beide davon ausgehen, dass die generelle Möglichkeit von Gebührenerhebung und deren persönliche Zurechnung zu den Veranstalter_innen vom Gesetz gedeckt sei. Die Erhebung der Verwaltungsgebühr für versammlungsrechtliche Auflagen wird in beiden Fällen nicht auf eine konkrete Norm, etwa im Versammlungsrecht, gestützt, sondern auf Umwegen über die Zurechnung begründet. Zunächst werden Gefahren, die bei einer Demonstration entstehen könnten, den Anmelder_innen angelastet. Dies ist überhaupt nur möglich, wenn die Anmelder_innen aufgrund meist vom Verfassungsschutz beigesteuerter „Erkenntnisse" irgendeiner Szene zugeordnet werden. Weil nur für individuell zurechenbare Leistungen, wie etwa für das Ausstellen einer Bescheinigung, Verwaltungsgebühren erhoben werden dürfen, wird die Maßnahme zur Beseitigung der persönlich zugerechneten Gefahr im zweiten Schritt zu einer individuellen Leistung erklärt.

Bedenken gegen eine solche Argumentation ergeben sich schon allein aus dem eingangs erwähnten Demokratieprinzip des Staates. Denn wie auch das Verfassungsgericht richtigerweise feststellte, können sich Kostentragungspflichten bei Versammlungen durchaus einschüchternd auswirken. Indem die Gerichte aber betonten, dass die Veranstalter_innen bei ihnen zugerechneten Gefahren die Kosten der Maßnahmen tragen müssen, stellen sie indirekt den Grundsatz auf, dass es Bürger_innen innerhalb des Staates gibt, die nicht ohne weiteres ein kostenfreies Recht haben, sich zu versammeln. Daraus ergibt sich eine skurrile Gesinnungskontrolle im Vorfeld. Wer reinen Gewissens ist und sich als vorbildliche_r Bürger_in erweist, darf auf Kosten des Staates demonstrieren. Wer dagegen nach Abgleich der Verfassungsschutzakte „zweifelhafte" Ziele verfolgt, muss für die Öffentlichkeitsarbeit bitte zahlen. So wird die Kostenfrage und damit auch das uneingeschränkte Versammlungsrecht zugleich der Willkür und Datensammelwut der Behörden überlassen. (...)“
  (Maria Seitz, „Versammlungsrecht gegen Bares - Zur Konstruktion versammlungsrechtlicher Auflagengebühren“)

Doch es entscheidet sich nicht nur im Vorfeld, wer genug Geld zum Demonstrieren hat.

Die Staatsanwaltschaft warf Marc Kappler, Versammlungsleiter der Bildungsstreikdemo am 09. Juni 2010, vor, dass die Demonstranten die ohnehin gesperrten Straßenkreuzungen am Berliner Platz und am Rotebühlplatz je 6 und 9 Minuten blockiert hätten. Dieser angebliche Verstoß gegen das Versammlungsgesetz sollte mit einer Geldstrafe von 600,- Euro geahndet werden. Auch unter solcher Strafbedrohung wird das Demonstrationsrecht zu einer Sache des Geldbeutels.

Wir unterstützten den ver.di Kollgen ebenso solidarisch wie am 09.02. die Versammlungsleiterin der Montagsdemo gegen Hatz IV, Nuran Cakmakli. Wegen angeblicher Vergehen gegen das Versammlungsrecht –“ Lautsprecher bei einer der Montagsdemos gegen Hartz IV waren angeblich falsch ausgerichtet - wurde gegen sie als Anmelderin und Teilnehmerin einer Protestaktion gegen S 21 eine Geldstrafe in Hohe von 30 Tagessätzen zu je 40 € , insgesamt also 1200,- € plus „Kosten des Verfahrens“ und aller „Auslagen“  festgesetzt.

Dieser kurze Exkurs soll verdeutlichen, dass nicht nur in Sachen „Stuttgart 21“ sondern bei allen der Obrigkeit in diesem Lande unbequemen Protesten in eines der grundlegendsten und ältesten bürgerlich-demokratischen Grundrechte eingegriffen wird.

Am 30. September fand der für viele Menschen am weitesten gehende Angriff auf die  Versammlungsfreiheit statt. Bekanntlich wurden hunderte friedlich protestierende „Stuttgart 21“ - GegnerInnen, darunter Alte, Jugendliche, Behinderte und Mütter mit Kindern mit Wasserwerfern, Reizgas und Knüppeln zum Teil schwer verletzt.

Bis heute werden die Ereignisse dieses Tages trotz monatelanger Arbeit des Untersuchungsausschusses in der Öffentlichkeit verzerrt dargestellt und die Verantwortung hin und her geschoben. Viele Menschen wurden durch die Erfahrungen des 30. September sensibilisiert: Ähnlich wurde von den jeweiligen Regierungen in der Vergangenheit Proteste in Gorleben, gegen Castor Transporte, die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, den NATO Gipfel in Strasbourg, gegen Transrapid usw. gehetzt.

Für uns als Bündnis für Versammlungsfreiheit ist nach wie vor klar:

Protest, der nur symbolisch, in gebührender Entfernung vom Ort des Geschehens, am besten unbemerkt und nicht die Geschäfte störend stattfindet mag eine Veranstaltung sein, mit der die Regierung Mappus leben kann.

Wir brauchen jedoch ein Versammlungsrecht, das spürbare Proteste ermöglicht und denen, gegen die protestiert wird, die Forderungen deutlich macht. Vor einem solchen demokratischen Recht haben nur diejenigen Angst, gegen die sich der Protest richtet.

Wir halten es für ein Unding, trotz offener, grundsätzlicher Fragen zuerst die gesellschaftliche Auseinandersetzung über "Stuttgart 21" für beendet zu erklären und dann zu versuchen, die Proteste zu diffamieren und zu kriminalisieren. Wer gehofft hat, nach dem 30.09. würde sich die Landesregierung besinnen, muss sich eines besseren belehren lassen:

Über 1000 Verfahren gegen S21 GegnerInnen sind augenblicklich am Laufen. Die Polizeibehörden lassen bei der Räumung der morgendlichen Blockaden inzwischen nicht nur die unmittelbar Beteiligten erkennungsdienstlich behandeln, sondern auch unbeteiligte Passanten.

Daher stehen wir nach wie vor zu unseren Forderungen:

  • Abschaffung der „Wegtragegebühr“!
  • Einstellung der Verfahren gegen Protestierende!
  • Keine Einschränkung des Rechts auf  Versammlungsfreiheit durch Polizei - und Stadtverordnungen
  • Übernahme aller Kosten, die den Protestierenden durch juristische Verfahren, Verdienstausfälle, medizinische Behandlung usw. entstanden sind.
  • Das Recht für alle, jederzeit und ohne Anmeldung an demokratischen und antifaschistischen Protesten teilnehmen zu können und diese auch organisieren zu dürfen.
  • Schluss mit den Repressionen gegen die SchülerInnen und Lehrer und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die an den Protesten am 30. September teilgenommen haben.

Es ist aus unserer Sicht für jeden politisch denkenden Menschen notwendig, aktiv für Versammlungsfreiheit einzutreten.

Ebenso wenig wie die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 mit den Landtagswahlen beendet sein wird, gehen wir davon aus, daß es nötig ist, über den 27. März hinaus für die Versammlungsfreiheit einzutreten.

"Über 1000 Strafanzeigen gegen S21-Gegner. Ist das Protest oder schon Anarchie, Herr Innenminister ?"


Mit diesem Salto mortale stellt die BILD-Zeitung vom 19.1.2011 die Wirklichkeit auf den Kopf. Ihr Stichwortgeber ist offenbar Innenminister Rech persönlich. Heißt es doch im Artikel weiter unter Bezugnahme auf Rech: "Ein Teil der S21-Demonstranten bastle sich sein eigenes Recht zusammen."

Tatsächlich bastelt sich die Stuttgarter Polizeiführung seit Ende der Schlichtung ihr eigenes Recht zusammen - richtiger - verbiegt es nach Belieben.

Verdachtsunabhängige Videoüberwachung von Großdemonstrationen mit zehntausenden Teilnehmern bis zu Blockaden mit 50 Teilnehmern - alles wird flächendeckend mit mehreren Kamerateams gefilmt, am Nordflügel und beim Grundwassermanagment wird alles eingekesselt, was rumsteht - ob auf dem Bürgersteig oder sonstwo, ohne Ankündigung, ohne Versammlungsauflösung, ohne Begründung, überfallartig und stundenlang bei Minus-Temperaturen.
Am 1.2.2010 waren Bereitschaftspolizei- und BFE-Einheiten aus Lahr im Einsatz - im Gespräch bekannten einige Beamte, dass ihnen das hiesige Verfahren so aus ihrer Einsatzpraxis nicht bekannt sei - aber es gebe "von oben" die Anweisung, in Stuttgart anders zu verfahren - das "Stuttgarter Landrecht" des Oberstaatsanwalts Häussler eben. Derselbe Häussler, für den schon klar war, dass beim "schwarzen Donnerstag" alles rechtens war, bevor der Untersuchungsausschuss überhaupt "piep" gesagt hatte.

(...)

"Ist das noch Demokratie oder schon Polizeistaat, Herr Innenminister?"

Bei der großen Anzahl der Strafanzeigen und zu erwartenden Verfahren ist das Problem nicht mehr nur am Einzelfall über Rechtsberatung und Rechtshilfe juristischer wie finanzieller Art zu lösen.

Fast wichtiger wie das zahlenmäßige Ausmass, sind die Inhalte der Verfahren, deren Zweck eine umfassende Kriminalisierung des Widerstands und eine Verfestigung und richterliche Legitimierung illegaler Handlungsweisen der Polizei und Ordnungsbehörden ist.
Demgegenüber muss die Legitimität des Widerstands gegen S21, von Aktionen des zivilen Ungehorsams offensiv verteidigt werden. Praktischen Ausdruck könnte das in einer Kampagne unter der Forderung "Einstellung aller Verfahren gegen S21-Gegner" finden.

Der Forderung nach Einstellung aller Verfahren wird oft entgegen gehalten, sie sei unrealistisch. Tatsächlich kennt die jüngere deutsche Geschichte Beispiele, wo das gelungen ist :

Mit dem Straffreiheitsgesetz von 1970 wurden ca. 5000 Strafverfahren hinfällig, hauptsächlich Demonstrationsdelikte im Zuge der 68er-Revolte. 1976 wurde zwischen den Bürgerinitiativen, die den Bau des Atomkraftwerks Whyl bekämpften und der Landesregierung unter Ministerpräsident war Filbinger das "Offenburger Abkommen" - auch eine Art Schlichtung- abgeschlossen, das unter anderem die Einstellung aller Strafverfahren beinhaltete.

Da mit dem Gros der Verfahren vermutlich angebliche Verstösse gegen das Versammlungsgesetz und verwandte Delikte im Zusammenhang mit Sitzblockaden oder Demonstrationen geahndet werden sollen, bietet sich als Plattform für eine solche Kampagne das Stuttgarter Bündnis für Versammlungsfreiheit an.

Die Kampagne - die bei uns momentan in der Diskussion ist - kann auf mehreren Ebenen (auf der Strasse, politisch, juristisch) geführt werden und in ihrem Rahmen Einzelaspekte (Wegtragegebühr, illegales Filmen etc.) thematisiert werden.

Ich möchte Sie –“ Euch dazu einladen, mit uns gemeinsam dafür einzutreten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Es gilt das gesprochene Wort)


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Kommentare

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Hans-H am :

Wenn das Bundesverfassungsgericht löblicherweise sagt:

"Der Schutzbereich des Grundrechts der Versammlungsfreiheit sei nicht auf öffentliche Straßen beschränkt, heißt es im Urteil. Erlaubt seien Demonstrationen auch an Orten, an denen ein öffentliches Unternehmen einen »Kommunikationsraum« mit vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten nach Art eines »öffentlichen Forums« biete. Dies sei etwa in Terminals von Flughäfen der Fall."

so haben Bundesregierung und die betreffenden Landesregierungen nur einen Grund mehr, diese öffentlichen Einrichtungen schleunigst zu privatisieren, um dadurch das Urteil auszuhebeln!

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