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"Leidenschaft"- Keuschwort für Bereitschaft zu Überstunden und politischem Vorfühlen

Die "Berliner Zeitung" gedenkt, die Hauptteile der Redaktionsarbeit in Berlin zu bündeln und entsprechend Stellen in Frankfurt bei der dortigen "Rundschau" einzusparen. Angeblich wegen der Finanzkrise, die oben bei Merkel immer schon erledigt ist, unten für allerlei immer noch herhalten muss.

Die bedrohten Redakteure versuchen sich zu wehren. In jener schamhaften Weise, wie das in gebildeten Kreisen heute zu geschehen hat. Sie sehen die "Leidenschaft" in Gefahr. Ihre Leidenschaft, die sich nicht wie früher bei Goethe mehr privat libidinös auszuleben hat, sondern angeblich unaufhörlich in die Berufsarbeit eingedrungen ist.

"Leidenschaft" - inzwischen eine Zugabe, die wir bei jedem Einkauf zu erwarten haben. Meine  Tüten aus der Backstube "peters.gutebackstube" enthalten zum Beispiel immer die Mitteilung, dass dort mit "Qualität und LEIDENSCHAFT" gearbeitet wird. "Unsere Leidenschaft", heißt es weiter auf der Tüte, "spiegelt sich wider in der Liebe zum traditionellen Backhandwerk...So geben wir unseren Teigen viel Zeit zum Reifen..."

Die Anspielungen auf den  überlieferten Bildungsroman sind unübersehbar.

Woher die Herzwärme? Der Überschwang? Karl Kraus wehrte sich schon gegen die Werbung von Cafés mit ihrer Gemütlichkeit. Gemütlich wollte er schon aus eigener Kraft bleiben, so weit möglich. Gemütlich reicht für den heutigen Kunden nicht mehr aus. Ohne Leidenschaft geht gar nichts. Nur Ware ist zu wenig. Ein wenig Einwickelpapier fürs Gemüt ist unerlässlich.

Real bedeutet es leider für die Hervorbringerinnen und Hervorbringer von Käsestrudeln und Kleinartikeln Bereitschaft zu unbezahlten Überstunden. Und vorwegeilender Gefälligkeit in der Beurteilung der Lage.

Warum das dann nicht gleich sagen? Als die dju noch selbständiger war als heute - als Teilbetrieb in anderen Gewerkschaften - wurde noch offen gefordert: Keine Kündigungen! Gegen unbezahlte Mehrarbeit!
 
Es wirkte auch damals nicht immer. Aber es trug bei zu etwas, das jeder Medienkritik vorausgehen muss: zum Willen zur Klarheit. Zum offenen Aussprechen dessen, was Leserinnen und Leser als ihre, unsere, gemeinsame Angelegenheit verstehen können. Überstunden kennt jeder. Sie bedrohen alle. Bei Leidenschaft ist man am müden Feierabend schon ziemlich aufgeschmissen. Persönlich würde ich gerne tauschen zwei Kilo Leidenschaft gegen zehn Gramm Genauigkeit.

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