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kritisch-lesen.de Nr. 2 - "140 Jahre Paris Commune"

Cover Ausgabe 2
Foto: © Jörg Möller
Heute erschien die zweite Ausgabe der Online-Rezensionspublikation kritisch-lesen.de. Schwerpunkt diesmal: Bewegung damals und heute zum 140 Geburts-/Todestag der Pariser Commune.

Das Bild zeigt den Ausschnitt eines Graffito in Paris heute. Diese Ausgabe soll 140 Jahre zurück reichen und die Geschehnisse um die Pariser Commune nachzeichnen. Zum Hintergrund: Nach der Niederlage Napoleons III und seiner Gefangennahme 1870 folgten zwei Oppositionsgruppierungen, die die Regierung Frankreichs in die Hände nehmen wollten. Zunächst die bürgerlich-republikanische Gruppe unter Adolphe Thiers, dann aber –“ zur allgemeinen Überraschung –“ erstmals unter proletarischer Führung, zumindest mit dem Anspruch, dem Proletariat zum Sieg zu verhelfen. Die Welt erlebte den tiefen Riss zwischen zwei Ideen von “Republik–: der Vorfriedens der Vorfrieden von Versailles, der die Diktatur der Bourgeoisie aufrechterhalten wollte gegen die Kämpfer_innen der Commune. Wer dabei gewann und wer verlor, ist inzwischen bekannt. In dieser Ausgabe soll es darum gehen, solche Revolutionär_innen sprechen zu lassen und mit diesen Erfahrungen der Geschichte einen Blick zu wagen in die Gegenwart und Zukunft revolutionären Widerstands.

Den Anfang machen Sebastian Friedrich und Andrea Strübe mit der Rezension zu der Geschichte und dem aktuellen Stand der autonomen Bewegung im deutschsprachigen Raum. Anhand des Bandes Perspektiven autonomer Politik wird die Vielfältigkeit, das Einnehmen verschiedener Perspektiven dieser Bewegung als Stärke hervorgehoben. Anschließend erinnert Fritz Güde in drei Rezensionen an Zeitzeug_innen jener Epoche und Ereignisse: Das Leben der Dichterin Louise Michel wird anhand ihrer Memoiren in ihrer aufbegehrenden und unbeugsamen Haltung gegen Herrschaft –“ auch in der Commune nachgezeichnet. Die Rolle des Malers Gustave Courbet, der umstrittenermaßen dem Realismus zugerechnet wird, und seine politische Motivation werden, auch in Bezug zu den Ereignissen, untersucht. Und schließlich die Memoiren eines Revolutionärs, kein direktes Zeugnis jener Tage in Paris, sondern des Fürsten Kropotkin im zaristischen Russland. Dabei geht es dem Rezensenten weniger um dessen theoretische Auseinandersetzungen, als um dessen Lebensbeispiel als Kämpfer der Revolution.

In der Rezension zu Bertolt Brecht vom Karlsruher Professor Jan Knopf zeichnet Fritz Güde dessen merkwürdigen Versuch nach, die Commune aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen, zumindest in der Art, dass er sie in der Neuauflage seines Buches zu Brecht plötzlich verschwinden lässt. In zwei weiteren Rezensionen fragt zum einen Dirk Brauner, warum es zum Empören den Appell Empört euch! braucht, findet jedoch die Rhetorik des sich in aller Munde befindenden Pamphlets nicht genug. Adi Quarti schildert in der Besprechung zu Identität von Jean-Luc Nancy, wie dieser die französische Debatte um Identität auseinandernimmt.

In dem Archiv-Beitrag zu Wir sind überall betont Adi Quarti den guten Über- und Einblick, den das Buch in die internationale globalisierungskritische Bewegung gibt. Gerald Whittle schließlich widmet sich dem Werk FAU: Die ersten 30 Jahre.

Der Ausgabe liegt eine Zeittafel bei, auf der die historischen Ereignisse vor 140 Jahren skizziert werden.

Abschließend sei noch auf unseren Newsletter hingewiesen. Wer immer rechtzeitig über die neuesten Ausgaben per Mail informiert werden will, sollte sich unbedingt mit Email-Adresse bei unserem Newsletter anmelden.

Viel Spaß beim (kritischen) Lesen!

BESPRECHUNGEN ZUM SCHWERPUNKT

Bewegte Blicke
ak wantok (Hg.): Perspektiven autonomer Politik


Im Sammelband wird umfassend und abwechslungsreich der Ist-Stand der autonomen Bewegung im deutschsprachigen Raum nachgezeichnet.
Von Sebastian Friedrich und Andrea Strübe | 28. April 2011

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Das „Flintenweib“ als Rächerin allen ungelebten Lebens
Louise Michel. Memoiren. Übersetzt von Claude Acinde


Louise Michel, nach ihrem Auftreten an den Barrikaden der Commune vom Bürgertum als pétroleuse verabscheut, vom Proletariat zur roten Jungfrau geheiligt, entzog sich bei Abfassung ihrer Memoiren beiden Festlegungen, um sich als Vertreterin des Lebensrechts alles Geschaffenen neu darzustellen und zu erfinden.
Von Fritz Güde | 28. April 2011

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Realismus - Ausweitung des Blickfelds
Georges Riat: Katalog: Gustave Courbet. Übersetzt von Caroline Eydam


Das Reale, welches Gustave Courbet aus dem Dunkel der Nichtbeachtung hervorzieht, entzieht sich jeder vorwegnehmenden Beurteilung - und allen Herrschaftsrücksichten.
Von Fritz Güde | 28. April 2011

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Memoiren eines Revolutionärs
Peter A. Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs. Band I und Band II


Die Erinnerungen Kropotkins sind zu weitreichend, um sie an dieser Stellenachzuerzählen - Anlass zur Würdigung bieten sie allemal.
Von Fritz Güde | 28. April 2011

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Brechts unterschlagene Commune

Bertolt Brecht: Leben Werk Wirkung (Suhrkamp BasisBiographien)

In der früheren DDR wurde die Commune von 1871 oft gerühmt, selten als Vorbild studiert. Konkrete Erinnerung störte. Was aber brachte Professor Knopf dazu, im freien Westen die Existenz der Commune von Brecht völlig zu verschweigen?
Von Fritz Güde | 28. April 2011

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WEITERE AKTUELLE BESPRECHUNGEN


Kritik der nationalen Identität
Jean-Luc Nancy. Identität: Fragmente, Freimütigkeiten

Jean-Luc Nancy untersucht die philosophische Tragweite der französischen Debatte um „nationale Identität“.
Von Adi Quarti | 28. April 2011

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Leider nur ein Hauch
Stéphane Hessel: Empört Euch!


Das Pamphlet "Indignez-vous!" (Empört euch!) sorgt derzeit für einige Aufregung, was verwundert, weil nichts Aufregendes geschrieben steht.
Von Dirk Brauner | 28. April 2011

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REZENSIONEN AUS DEM ARCHIV

Wir sind überall
Notes From Nowhere (Hg.): Wir sind überall: weltweit. unwiderstehlich. antikapitalistisch


Der globalisierungskritische Reader "Wir sind überall" stellt eine umfangreiche und ausführliche Einführung in dieses komplexe Thema dar.
Von Adi Quarti | 1. April 2007

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FAU: Die ersten 30 Jahre
Roman Danyluk/ Helge Döhring (Hg.): FAU: Die ersten 30 Jahre


Der Band beleuchtet die Geschichte der mittlerweile seit 30 Jahren bestehenden anarcho-syndikalistischen Freien ArbeiterInnen Union (FAU).
Von Gerald Whittle | 1. Dezember 2008

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Petr Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs

Peter Kropotkin ca. 1900
Thomas Trueten verwies letzte Woche auf einen wichtigen Gedenktag. Gestorben am 8. Februar 1921, wurde fünf Tage später in Moskau Fürst Peter Kropotkin –“ neben Proudhon und Bakunin einer der bedeutendsten Klassiker des Anarchismus –“ unter Anteilnahme einer vieltausendfachen Menschenmenge zu Grabe getragen. Es war das letzte Mal, dass Anarchisten und Marxisten sich auf den Straßen Moskaus frei bewegen konnten. Seitdem nie wieder!

Fürst Kropotkin hat auf seine alten Tage sein vielleicht schönstes Buch geschrieben: die "Memoiren eines Revolutionärs".1969 ist es im Insel-Verlag herausgekommen und wirkte trostreich auf alle, die selbst zwar empört waren - und wie! - aber zugleich ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie im gewöhnlichen Leben immer das Gegenteil dessen taten,was ihnen eigentlich als richtig vorkam. Kam man aus der Gemengelage je heraus?

Da wirkte der Weg des Fürsten im zaristischen Russland vertrauenerweckend und beispielgebend. Er - unter dem Schlächterzaren Nikolaus geboren - selbst Abkömmling der Rurik-Familien, die vor den Romanows den Thron innegehabt hatten, schildert zunächst ganz ohne Groll die behütete Kindheit. Eine - ohne Vater und Mutter. Mutter tot, Vater lebte noch und trainierte müde, um noch einmal den Familienvorstand und General zu markieren. Vor allen Ferien gab er seitenlange Ukase heraus, wie und von wo bis wo die Wagen mit Möbeln und Proviant ins Ferienhaus gefahren werden sollten. Die riesige Dienerschaft samt den Kindern hörte geduldig zu, nickte anständig und gab sich gleich an der nächsten Straßenecke dem freudigsten Gejohle hin. Chef weg! Drei Monate lang!!!

Wie die Adligen im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich wurden die Kinder dieser Grufties von allen anderen erzogen als von den eigenen Eltern. Ammen, Kindermädchen, Hauslehrer hatten sich zu kümmern - und taten das hingebungsvoll. Alles Leibeigene- die sich mit den Kindern identifizierten und gegen die Machthaber mit ihren Listen eisern zusammenhielten.

Die ewig langen Sommerferien! Die inhaltsleeren anstrengungslosen Auswendiglernstunden! Die behütete Zeit ohne Ende! Wie ein Turgenjew schildert der spätere Revolutionär so friedvoll die vergangene Welt. Wahrscheinlich findet nur der die Kraft zum härtesten Widerspruch, der das immer noch in sich findet –“ aufgehoben - was zu zerstören er doch auf sich nimmt.

Und schaffte es wirklich, aus den Windeln der Privilegien sich herauszuwickeln. Er wird nicht nur Page beim neuen Zaren Alexander II, sondern gleich Sergeant der übrigen Pagen - Leibdiener sozusagen beim gesalbten Oberhaupt der Christenheit. Dennoch entschließt er sich am Ende der Kadettenzeit nicht für einen der herrlichen Regimentsposten, die ihm offengestanden hätten, sondern für das verachtete Sibirien - und dort für Teile am Amurfluss, die erst vor kurzem annektiert worden waren.

Vom Bewunderer des Zaren, der –“ angeblich - die Bauern befreit hatte, wird Kropotkin allmählich zum Kritiker, als er entdeckte, dass alles auf ein riesiges Bauernlegen hinauslief. Wie in den USA gegenüber den Sklaven,ungefähr zur gleichen Zeit, fordert das Kapital eine Mobilisierung der riesigen Werte, die in den Leibeigenen und in deren Winzgütern sozusagen begraben lagen. Wie in Preußen wird den ehemaligen Gutsbesitzern als Entschädigung für den Verlust der Leibeigenen im Voraus Entschädigung gezahlt. Diese soll durch alljährliche Steuern –“ Abgaben - der Befreiten wieder hereinkommen. Das Unglück dabei nur, selbst aus kapitalistischer Sicht: es gab keine - oder kaum - produktiv gesonnenen Gutsbesitzer, die das gewonnene Geld produktiv z.B für mechanische Pflüge oder Sämaschinen angelegt hätten. Das Geld wurde verplempert.

Kropotkin, noch als Offizier, benutzt die Zeit, um Vermessungen des unbekannten Amurgebiets zu machen. Was könnte man damit alles anfangen? Macht auch Reisen ins damals noch russische Finnland. Und immer deutlicher stellt sich die Frage: Wozu das? Abstrakt gesagt: Der wissenschaftliche Fortschritt, die Entwicklung der Produktivkraft wird zur Destruktivpotenz, wenn niemand etwas mit dem Erworbenen anfangen kann.

Der Geologe und Agronom stellt sich die Frage:
Seite 280: "Was nützt es aber, zu diesem Bauern von amerikanischen Maschinen zu reden,wenn er kaum Brot genug hat,sein Leben von einer Ernte zur andern zu fristen, wenn die Rente, die er für die harten Lehmschollen zu zahlen hat,im selben Maße, wie der Boden durch seine Bemühungen besser wird,steigt?"
Seite 281: Einschätzung der Lage im Kindheitsgut Nikolskoje nach der Bauernbefreiung:
"Sie sind jetzt frei. Sie schätzen ihre Freiheit sehr hoch.Aber sie haben keine Wiesen. Auf die eine oder andere Weise haben es die Grundherren einzurichten verstanden, dass sie fast alle Wiesen besitzen...
Familien, die früher drei Pferde besaßen, halten jetzt eins oder keins. Wozu ist aber ein einziges erbärmliches Pferd nütze? Keine Wiesen, keine Pferde, kein Dünger."


Was folgt daraus? Es müssen erst alle Verhältnisse umgestürzt werden,damit auch nur die kleinste Verbesserung verfängt.

Im Anblick des Zaren-vor dem Abschied nach Sibirien - erscheint dem noch Unschlüssigen die Leere. Das unvermeidliche Verlorengehen. Die Verdunklung.

Nach der Ernennung aus dem Pagencorps zum Offizier. Der Zar versammelt die neuernannten Offiziere um sich.

Seite 196. "In ruhigem Tone begann er:"Ich wünsche ihnen Glück.Sie sind Offiziere."Er sprach dann von Soldatenpflicht und loyaler Gesinnung, wie es bei solchen Anlässen zu geschehen pflegt." Sollte aber einer von ihnen "fuhr er fort, wobei er jede Silbe scharf betonte und sein Gesicht sich plötzlich vor Zorn verzerrte,"sollte einer von ihnen - was Gott verhüten möge -sich illolyal gegen Gott, Vaterland und den Zaren verhalten, merken sie wohl, was ich sage, so wird ihn die volle Strenge des Gesetzes treffen ohne das geringste Erbarmen." Die Stimme versagte ihm,sein Gesicht trug einen feindlichen Ausdruck blinder Wut,wie ich ihn als Kind in den Gesichtern der Grundherren bemerkt habe, wenn sie ihren Leibeigenen drohten, sie bis aufs Blut peitschen zu lassen.Heftig stieß er seinem Pferde die Sporen in die Weichen und sprengte davon. Am nächsten Morgen wurden auf seinen Befehl in Modlin drei Offiziere erschossen,während ein Soldat, namens Szur, unter den Spießruten seinen Geist aufgab.(Im Rahmen der brutalen Niederschlagung des Polenaufstandes 1863) "Reaktion, mit Volldampf rückwärts"sagte ich zu mir, als wir zum Korps zurückgingen".
(Noch eine letzte Unterredung)
"Alexander fand mich heraus und fragte:..Fürchtest Du Dich nicht, so weit zu gehen? (In gerade frischerschlossene Teile Sibiriens). Ich erwiderte mit Wärme:"Nein, ich will arbeiten. Es muss in Sibirien so viel zu tun geben, um die großen Reformen,die gemacht werden sollen, dort einzuführen". Er schaute mir gerade ins Gesicht und wurde nachdenklich;schließlich sagte er: "Nun so geh! Man kann überall nützlich sein."Und dabei nahm sein Gesicht einen so müden Ausdruck an,und verriet so völlige Willenlosigkeit, dass ich sofort dachte: Er ist ein gebrochener Mann und wird alles aufgeben".


Zuspitzung: Zwei Männer, Produkte der gleichen Klasse, am Kreuzweg. Einer im Versinken. Im Absprung der andre.

Im Rückblick kommt Kropotkin noch einmal auf diesen Augenblick zurück.1881. Nachdem "Narodnaja Wolna" mit der allerletzten verbliebenen Bombe am Zaren gerechtes Gericht geübt hatte.
Es hatte unter den gegebenen Umständen so kommen müssen.

Es kann hier nicht der ganze Weg Kropotkins nacherzählt werden. Nur eines noch: der Anblick Petersburgs, als Alexander II den Weg des Wüterichs eingeschlagen hatte und weiterstolperte. Kropotkin war lang weg.

Was ist aus den Zukunftsplanern und Quasi-Liberalen geworden, denen 1861 die Backen schwollen vor lauter Reform und Perspektive? - Keiner traut sich mehr das leiseste Wort. Jeder schwört ab, jemals an etwas anderes gedacht zu haben, als an Selbstherrschaft und Majestätsbrummertum. Kropotkin schildert die Verbissenheit des Geheimdienstes, der alles niedertrampelt. Der jeden Anflug eines Gedankens mit Knast bedroht. ES DARF NICHTS NEUES MEHR GEBEN! Mit vollem Recht - von den Herrschenden aus gesehen. Denn jeder Gedanke brächte nur eines heraus: DER ZAR MUSS WEG! ZUSAMMEN MIT UNS ALLEN!
Auch das nahm die Stimmung der mittleren siebziger Jahre für uns Leser vorweg. Mit vollem Mund das Fortschrittsbrot in der Mundhöhle wälzen - damit nur ja keine einzige Erkenntnis herauskommt.

Bibliographische Angaben:
Neue Übersetzung aus dem Englischen, herausgegeben von Heiner Becker und Niclas Walter Und mit Einleitung, Anmerkungen und ausgewähltem Personenregister versehen:
Memoiren eines Revolutionärs, Band 1 / 2
ISBN: 3-89771-901-0
Ausstattung: br., 248 Seiten
Preis: 14.00 Euro
Memoiren eines Revolutionärs, Band 2 / 2
ISBN: 3-89771-902-9
Ausstattung: br., 304 Seiten
Preis: 14.00 Euro

(Die Besprechung basiert auf der Ausgabe des Insel Verlages von 1969)
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