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Kohl: Nicht wahr, nicht falsch - aber volksnah

Helmut Kohl als Bundeskanzler, 1987
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F074398-0021 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA
Wie sich jetzt erst herausgestellt hat, hat Kohl im Gespräch mit Frau Thatcher 1982 seine Begierde ausgesprochen, dass die Zahl der Türken sich doch bitte um die Hälfte verringere. Er wolle dafür auch einiges abgeben an Geld. Beziehungsweise, was nicht ganz so deutlich zum Vorschein kam, eben durch Abschreckungsmaßnahmen aller Art den Zuzug eindämmen.

Angeblich war eine solche Meinung damals die aller volkstümlichste. Mir zwar nicht ganz so gegenwärtig wie Kohl. Aber - wenn er so meint.

Das Merkwürdige an der heutigen Stellungnahme des Altkanzlers ist seine Selbsterklärung. Er traut sich nicht, zu sagen, dass er ja in Wirklichkeit das schöne Programm gar nicht anwandte. Er packt auch keineswegs das Problem an den Hörnern und erwähnt, dass die Parteifreunde inzwischen gottfroh sind um eine Heerschar von Einfacharbeitern. Und deshalb das Ganze der Rede nichts mehr wert sei.

Nein. Kohl erfindet, dass im Jahr 1982 eine ganze Schar von Wissenschaftlern und Laien genau derselben Meinung gewesen seien. Also nicht wahr. Nicht falsch. Einfach konform.

Gerade mit dieser - an sich idiotischen - Fassung erweist sich Kohl als Stammvater der heutigen CDU-Besinnung. Es geht die längste Zeit auch bei ihr nicht mehr um richtig oder falsch. Es geht um rechtzeitige Anpassung an die Volksmeinung. Bis zum nächsten Mal. Man denke nur an die verblüffende Drehung in einem Augenblick von der Bejahung der Atom-Industrie zur striktesten Ablehnung. Nicht ja, nicht nein - aber immer der veröffentlichten Meinung nach dem Mund geredet. Hauptsache, man gewinnt die nächsten Wahlen. Was am Ende draus wird - das muss man erst sehen. Kohl bildet sich ein, wie ein Hai zu schwimmen - gerade aus, bissig und zielgenau. In Wirklichkeit krault er mitten in der Menge. Und hat damit der ganzen Partei einen glänzenden Ausblick verschafft.

Buschkowsky - der ausgerutschte Realist beim Eintritt ins Rechtskartell.

Buschkowsky ist verdächtigt worden, den neuen Sarrazin machen zu wollen. Zu Unrecht. Er macht es viel geschickter. Und spielt den ungeheuren Vorteil aus, den Gegenstand genau zu kennen, von dem ein Sarrazin bloß Statistikzahlen träumt. Insofern gelingen ihm ohne weiteres eindrucksvolle Szenerien von Säufern, Schulschwänzern und U-Bahnkrakeelern, die jedem ähnliche Zusammenstöße in Erinnerung rufen. Und jede und jeden ärgerlich zusammenfahren lassen. Selbst zur Satire findet sich Waschkowsky geneigt. Wenn er etwa den Uraltspruch variiert: "Und wenn ich nicht mehr weiter weiß, dann gründ ich einen Arbeitskreis". Bei jedem auftauchenden und natürlich ungelösten Problem drängeln sich Fachleute in Berlin um neue Posten.

Soweit alles in Ordnung. Bei größtem Wohlwollen ließe sich so ein Schilderer mit Balzac vergleichen. Der war politisch bekanntlich eher Königsanhänger, schilderte aber so genau und eingehend seine Aufsteiger und Absinker in der frühen bürgerlichen Epoche, dass Marx und Engels ihn als einen der genauesten Widerspiegler der Zeitumstände nach Napoleons Abgang in Frankreich anerkannten.

Allerdings rutscht unser Berliner regelmäßig aus.Bei Buschkowsky prescht leider grundsätzlich die propagandistische Absicht vor - und aller Realismus wird ins Ideologische verdreht. So gelangt er zum Beispiel zu Folgerungen aus seinen Erfahrungen, die als Maxime ohne jeden Beweis einmarschieren. Etwa sinngemäß in der Behauptung: "Nicht jeder Schulschwänzer wird einmal Verbrecher. Aber alle Verbrecher waren einmal Schulschwänzer." (Ohne Seitenangabe zitiert, da nur eine Kindle-Ausgabe als Quelle vorliegt). Hat Buschkowski da die Himmlers und Goebbels ganz vergessen,die richtig schulgeil waren - oder auch nur die Hochstapler in intellektuellen Kreisen, die ohne ziemliches Vorwissen wohl kaum durchgekommen wären?

Hauptmangel des Buches, auch wenn alle aufgeführten Details stimmen sollten: der Denkstil. Von Anfang an schmiedet Buschkowsky die gesamte Leserschaft zu einem Block zusammen. Den Block der unter sich einverstandenen Ureinwohner, die mit vollem Recht verlangen können, dass jeder Hinzukommende sich nach ihnen richtet. Und zwar nicht nur im rechtlichen Sinn. Sondern in jeder Einzelheit ihres alltäglichen Verhaltens. Immer wieder im Anklageton: Wenn welche schon zu uns kommen wollen, dann ist es wohl das Mindeste, dass sie unsere Bräuche kennenlernen und sich danach richten.Nur, wenn ich mich auf mich selbst zurückwende, finde ich in der Eile in mir solche Maßstäbe gar nicht. Was hätte ich gern, dass solche Neubürger beachten sollten? Weniger Lärm vielleicht, wenn sie gruppenweise in Kneipen zusammensitzen. Nur den Wunsch würde ich ohne Klassenrücksichten auch an viele andere Ur-Einwohner richten, wenn ich zufällig in ihre Mitte gerate. Und in einem solchen Fall ist
Buschkowkis Rat wahrscheinlich zu akzeptieren. Wenn es Dir im Lokal "zum Löwen" nicht gefällt, zieh einfach aus und um zum "Restaurant Fasan".

Recht hatte der bekannte Autor gestern bei Maischberger, als er betonte, dass seine Verbesserungsvorschläge sich nicht an eine bestimmte Art Einwanderer richteten, sondern an alle, die "unseren" Ansprüchen nicht entsprechen. Damit verfällt allerdings das ganze Prekariat seinem Urteil. Und seine Denkweise enthüllt sich nicht so sehr als rassistisch, denn als Heilmittel gegen jede Art von Denken in Kategorien des Klassenkampfs.

So genau dieser Sozialdemokrat das Auseinanderfallen aller denkbaren Lebenswelten in seinem Bezirk schildert, in regem Aufgebot des Abwertungsattributs parallel, so fern steht ihm der Gedanke, dass alle Angehörigen der "Unterschicht" zusammen sich auflehnen müssten gegen materielle und psychische Unterdrückung. Gerade wo Buschkowsky holländische Verhältnisse schildert mit den Rechten der dortigen Polizei auf Begutachtung und selbständige Eingriffe, merkt man dem Staatsmann seine Leidenschaften an. Im günstigsten Fall von Kindergartenpflicht - Schulpflicht - Ernstmachen mit allen staatlichen Bedrohungen könnte nichts herauskommen als Dressur. Dressur der Unteren nach dem von Buschkowsky eingebildeten Maßstab von "uns". Es wäre Drill in Reinkultur.

Das Buch hat schon regen Beifall gefunden und wird ihn weiter finden, wenn erst die Buchläden die vorderen Regale freigeräumt haben. Buschkowsky kann und wird sich - cleverer als Sarrazin - als der anständige und gemäßigte Vertreter der gesunden bürgerlichen Belange ins Schaugeschäft einarbeiten und vor allem von seinen SPD-Genossen begeistert herangezogen werden, wenn sie gerade mal wieder Lust auf etwas Polizeiliches in einem Stadtkern verspüren. Also vorwärts mit Buschkowsky!

Freiheitlicher wird es allerdings dadurch auch nicht.

Quelle: Neukölln ist überall. Von Heinz Buschkowsky, 400 Seiten
Verlag: Ullstein Hardcover (21. September 2012)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3550080115
ISBN-13: 978-3550080111

    Was mir heute wichtig erscheint #307

    Fundiert: "Sarrazin hat an den programmatischen Grundlagen der Partei mitgearbeitet"

    Solidarisch: "Die Erpressung Griechenlands zeigt uns, dass die Regierungen in der EU unter dem Druck der Finanzmärkte und unter Anleitung Deutschlands ein neues Gesellschaftsmodell durchsetzen. Öffentliche Dienstleistungen werden radikal eingeschränkt oder ganz abgeschafft; Bildung und Gesundheit werden zu einem Privileg der Reichen. Das Recht auf eine menschenwürdige und sichere Existenz werden beseitigt. Damit einher geht die Einschränkung erkämpfter und verbriefter demokratischer Rechte von der Tarifautonomie, über das Streikrecht bis hin zum Recht auf Widerstand. (...)" Resolution der Veranstaltung: 'Demokratie unter Beschuss' im IG Metallhaus am 13. März 2012

    Gewaltenteilung: Polizisten sollen länderübergreifend zusammenarbeiten

    Aufgetaucht: "(...) Inzwischen ist eine Schallplatte wieder aufgetaucht, auf der Max Reimann, langjähriger KPD-Vorsitzender und antifaschistischer Widerstandskämpfer (er überlebte das KZ Sachsenhausen) spricht und neue Parteimitglieder der 1956 verbotenen KPD begrüßt. Er formuliert darauf auch seine bekannte Position zum Grundgesetz (Wir verweigern die Zustimmung zum Grundgesetz, weil mit ihm Deutschland gespalten wird, aber wir werden die im Grundgesetz verankerten demokratischen Rechte gegen die Verfasser des Grundgesetzes verteidigen.). Sie ist erstmals von ihm persönlich zu vernehmen. Die Schallplatte entstand Ende der 60er Jahre. Sie wird hier in voller Länge wiedergegeben, und zwar als Tondokument, um eine authentische Stimme aus den 40er bis 60er Jahren zu vernehmen. Über sie mag die Zeit in vieler Hinsicht hinweggegangen sein, jedoch für die Positionen zur Demokratie ist sie weiter von Bedeutung." Mehr bei der VVN-BdA NRW, via redblog.

    Zielsetzung: Was wollte und was tat die Gründungsgeneration der VVN?

    Reflektiert: Ein Reporter ist nie bloß Beobachter. "(...) Immer zeigt das Foto nur einen Ausschnitt all dessen, was am Ort des Geschehens zu sehen gewesen wäre. Wir ergänzen die gedachte Wirklichkeit außerhalb der Begrenzung und greifen dabei auf eigene Erfahrungen, Kenntnisse und vom Bild selbst angedeutete Zusammenhänge zurück. Die auf einen Sekundenbruchteil reduzierte Aufnahme kann zudem nicht widerspiegeln, dass die Realität vor allem ein Prozess und eben kein Moment ist. (...)" Der italienische Fotograf Ruben Salvadori räumt mit einer naiven Vorstellung der Realität, die von Bildern vermtitelt wird auf und fordert seine KollegInnen auf, sich und ihr Wirken selbst mehr zu reflektieren.

    Durchatmen: Bei den Blogrebellen gibt es eine interessante Diskussion über GEMA, Tantiemen, die Contentmafia und von Verarmung bedrohten Kulturschaffenden zum Beitrag: Ich, der Google-Lobbyist und Sven Regener in Rage. Der Pantoffelpunk ist der Verlustrechnung mal nachgegangen: Die Verluste der Contentindustrie. Tja. Irritiert zeigte sich Evangelos Papathanassious - via publikative.org: "(...) An vielen Stellen hat Regener recht. Wenn man ihm vorwirft, dass er uncool sei, weil er seine Musik nicht verschenken will, dann ist das Quatsch. Wenn man jemandem vorwirft, er sei eine Nutte, weil er Musik für Geld machen würde, dann ist man ein Idiot. Wenn er sich von solchen Leuten (O-Ton) „ins Gesicht gepinkelt“ fühlt, dann ist das a) tragisch und b) rechtens. Das heißt aber noch lange nicht, dass diese Idioten die Ursache für das sind, was Regener beklagt. (...)"

    nachschLAg: Ein unvollständiger Wochenrückblick über die Entwicklung in Lateinamerika.

    Greenwashing: Zur Räumung des Tacheles in Kreuzberg und den Plänen für ein von BMW gesponsertem Lab - "Es geht mitnichten darum, möglichst viel für kulturelles Engagement auszugeben, sondern um eine langfristige, positive Wahrnehmung des Unternehmens als auch der Reputation der Marke BMW - auch in der Presse."

    Nützlich: Kaum ist "das Internet" als Ursache für die Radikalisierung des faschistoiden Mörders - natürlich wieder ein Einzeltäter - von Toulouse ausgemacht, regen sich wieder die ersten, die nach Vorratsdatenspeicherung rufen. Sehr praktisch. Auch zur Spurenverwischung geeignet.

    Gefördert: (...) Der VS ist weder taub noch blind, sondern ganz einfach rechts. Nach Bekanntwerden der „NSU“ Morde kam es in  Nürnberg/Fürth und in der Region zu mehreren Anschlägen auf Autos von AntifaschistInnen und einen linken Stadtteilladen durch Nazis. Und das ohne Angst vor juristischen Konsequenzen – die Polizei war kein einziges Mal dazu bereit ernsthafte Ermittlungen aufzunehmen. (...)" Aus dem Aufruf zu einer antifaschistischen Demonstration am 31.03., 14:30 Aufseßplatz, in Nürnberg, wo es allein drei Morde gab, die auf das Konto des "NSU" gehen sollen.

    Interventionserfolg: Nach einer Intervention der Aktivist_innengruppe Bühnenwatch am Deutschen Theater Berlin im Februar und einem darauf folgenden Gespräch im März wurde die Praktik des Blackface im Stück “Unschuld” von Dea Loher in der Inszenierung von Michael Thalheimer am 21. März 2012 durch weiße Schminke ersetzt.

    Tagesberichte: Die Tagesberichte der Hamburger Newroz Delegation zum kurdischen Neujahrsfest 2012 sind hier zu finden. In nächster Zeit sollen noch verschiedene Interviews veröffentlicht werden. 

    Aufgetaucht: Cajo Brendel hielt auf dem Kronstadt-Kongreß 1971 einen Vortrag, der heute noch in den bei Unrast erschienenen "Ausgewählten Schriften" zu lesen ist. Brendel überarbeitete ihn für die Publikation in dem 1974 beim Karin Kramer Verlag erschienenen Buch: "Die revolutionären Aktionen der russischen Arbeiter und der Bauern. Die Kommune von Kronstadt." Bei der damaligen Drucklegung der Schrift verschwand allerdings ein Teil des Textes im Orkus des Umbruchs. Aus einer Rückübersetzung gelang es nun, erstmals, den vollständigen damaligen Text zu rekonstruieren.

    kritisch-lesen.de Nr. 13 - Feministische Praxen

    Foto: © Jörg Möller
    Für kritisch-lesen.de beginnt das neue Jahr mit Redaktionszuwachs: Sebastian Kalicha und Ulrich Peters haben bereits in der Vergangenheit als Mitglieder des Autorinnen- und Sympathisantinnen-Kreises (ASK) die Redaktion punktuell als Rezensenten und in der Konzeption von Ausgaben bereichert, nun verstärken sie als feste Redaktionsmitglieder das Kollektiv.

    Nach der Femme-Ausgabe vom Juni und der Ausgabe zu Entwicklungen feministischer Politiken vom Juli, verfolgt die erste Ausgabe des neuen Jahres zum dritten Mal eine explizit feministische Fragestellung. Dabei stehen feministische Strategien und Praxen in Feldern wie Sprache, Musik/Popkultur oder Frauengeschichtsschreibung im Vordergrund ebenso wie die Frage danach, wie feministische Theorie verschiedene Praxisfelder besser einbeziehen kann.

    Ganz klar für eine weitergehende Beschäftigung mit Feminismus spricht sich Andrea Strübe in ihrer Rezension zu dem vom Herausgeberinnenkollektiv Affront veröffentlichten Buch Darum Feminismus! aus. Darin macht sie nicht nur die Notwendigkeit einer Kritik deutlich, die die gesellschaftlichen Verhältnisse adressiert, sondern auch einer, welche die eigene Verstricktheit in ebendiese Verhältnisse reflektiert. Als eine wichtige feministische Strategie kann die bewusste Verwendung von Sprache verstanden werden, insofern auch der Sprech- ein Handlungsakt ist, der diskriminierendes Denken (re)produziert. Dies analysiert der vom AK Feministische Sprachpraxis herausgegebene Band Feminismus schreiben lernen, den Peps Perdu genauer unter die Lupe genommen hat. In seiner Lektüre des 1984 erschienen Werkes Die Mystifikation des Sexuellen, in der Volkmar Sigusch die Verwobenheit von Geschlecht und Sexualität mit der kapitalistischen Produktionsweise analysiert, sieht Heinz-Jürgen Voß Anschlussmöglichkeiten für aktuelle (queer)feministische Praxen und Debatten. Martin Brandt unterstreicht anschließend in der Rezension Vom Erbe der Frauenbewegung die Schwierigkeit, auf die die Autorinnen Anne Lenz und Laura Paetau in ihrer Studie “Feminismen und ,Neue Politische Generation‘” stoßen – nämlich die aktuelle Feminist_in kohärent zu beschreiben. Sebastian Friedrich freut sich in seiner Rezension Sichtbar revolutionär nicht nur über neue Wandmotive, die der Band „Revolutionäre Frauen. Biografien und Stencils“ des Queen of the Neighbourhood Collective neben den entsprechenden Kurzbiografien gleich mitliefert. „Revolution Girl Style Now!” lautete hingegen eine der Parolen der feministischen Riot Grrrl Bewegung, die in dem Buch Riot Grrrl Revisited dokumentiert ist. Rezensent Ulrich Peters empfiehlt die Lektüre zur Vergegenwärtigung von Einfluss und Vermächtnis von Riot Grrrl.

    Drei weitere Besprechungen widmen sich aktuellen Erscheinungen aus verschiedenen Themenbereichen. Mit Zapatismus in der Sprechblase beschäftigt sich die Besprechung von Kleine Geschichte des Zapatismus von Sebastian Kalicha, der dem Comic eine vielfältige und weitreichende Auseinandersetzung mit der Bewegung bescheinigt. Der in der deutschsprachigen Literatur eher unterbelichteten Rolle Frankreichs in postkolonialen afrikanischen Staaten geht die Publikation „Frankreich in Afrika“ nach. Stärken und Schwächen des Buches beleuchtet Ismail Küpeli in seiner Besprechung Das postkoloniale Afrika im Netz der Abhängigkeiten. Obgleich Sebastian Kalicha es in seiner Rezension zum Anti-Sarrazin von Sascha Stanicic begrüßt, dass eine weitere Kritik an der „Sarrazindebatte“ auf den Markt gekommen ist, erkennt er darin eher ein trotzkistisches Positionspaper denn eine sachlich-kritische Analyse der Thematik.

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    "Nicht Sarrazin war für die 'Sarrazindebatte' entscheidend"

    Ein Interview aus der graswurzelrevolution 364

    Sebastian Friedrich ist Redakteur von kritisch-lesen.de, freier Mitarbeiter der Opferberatungsstelle ReachOut Berlin, Mitglied des AK Rechts und der Diskurswerkstatt des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Er ist aktiv bei der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP). Im August 2011 hat er bei edition assemblage "Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der "Sarrazindebate"" herausgegeben. Der GWR gab er dieses Interview über das Buch, die "Sarrazindebatte", antimuslimischen Rassismus und was wir dagegen tun können. (GWR-Red.)

    GWR: Kannst du uns, als Herausgeber von Rassismus in der Leistungsgesellschaft, einen kurzen Überblick über die verschiedenen Beiträge und AutorInnen geben?

    Sebastian Friedrich: Der Sammelband besteht aus 15 Beiträgen, die insgesamt von 17 AutorInnen verfasst wurden.

    Zunächst gibt es eine ausführliche Einleitung, in der sowohl die "Sarrazindebatte" nachgezeichnet, als auch der Zusammenhang von ökonomischen und rassistischen Argumentationen untersucht wird.

    Es folgt das Kapitel "Migration und Rassismus". Z.B. analysiert hier Yasemin Shooman die dominanten Bilder im antimuslimischen Rassismus, die auch bei Sarrazin ins rechte Licht gerückt wurden.

    Im zweiten Kapitel liegt der Fokus auf "Bevölkerungs- und Biopolitik". Juliane Karakayali zeigt etwa auf, wie die "Sarrazindebatte" sich in aktuelle Geschlechterpolitiken einfügt.

    Im Abschnitt "Kapital und Nation" finden sich vier weitere Beiträge. So entfaltet zum Beispiel Jürgen Link die verschiedenen Dimensionen des von Sarrazin vorgestellten Deutschland und zeigt auf, dass "Sarrazins Deutschland" nicht nur von Neoliberalismus, sondern auch von Neo-Sozialdarwinismus durchzogen ist.

    Schließlich widmen sich zwei Beiträge möglichen "Interventionen und Perspektiven".

    Gabriel Kuhn und Regina Wamper befassen sich in ihrem Essay mit der rhetorischen Figur der Meinungsfreiheit und empfehlen kritischen Analysen, sich nicht auf rechte Opferdiskurse einzulassen.

    Entgegen vieler anderer kritischer Beiträge zur "Sarrazindebatte" fokussiert sich euer Buch weder darauf, Sarrazin als Person zu kritisieren, noch versucht es, die Thesen von Deutschland schafft sich ab zu widerlegen. Wie kam es zu diesem Zugang und wie sieht eure Herangehensweise aus?

    In der Einleitung heißt es, dass nicht Sarrazin für die "Sarrazindebatte" entscheidend war, sondern das Feld, auf dem seine "Thesen" wirken konnten. Fast alles, was Sarrazin geschrieben und gesagt hat, kennen wir aus den Diskursen der letzten Jahrzehnte. Jedoch wurden bei Sarrazin und bei der nachfolgenden Debatte verschiedene Diskurse - wie etwa der Ökonomie-, der Eugenik- und der Einwanderungsdiskurs - weiter und zum Teil engmaschiger verknüpft.

    Um solche komplexen Debatten zu untersuchen, bietet es sich an, die Diskurse und ihr Zusammenwirken, also ihre Verschränkungen, zu analysieren. Im Buch sind aber auch viele andere theoretische Zugänge zu finden. Für eine diskurstheoretische Perspektive jedoch ist entscheidend zu fragen, was wann von wem wie sagbar ist. Bezogen auf die "Sarrazindebatte" zeigt sich deutlich, wie es innerhalb der Debatte zu einer Verschiebung nach rechts im Mainstream kam. Während Anfangs noch Sarrazins Rassismus und in Teilen sogar seine Verwertungslogik kritisiert werden konnten, verlagerte sich die Debatte letztlich auf die Frage, ob in Deutschland Fachkräfte aus dem Ausland im Sinne einer standortnationalistischen Logik benötigt werden. Linke Positionen, die Verwertungslogiken grundsätzlich in Frage stellen, waren gegen Ende der Debatte in den hegemonialen Medien kaum bis gar nicht mehr zu finden.

    Denkst du, dass es dennoch sinnvoll ist, zu versuchen, Sarrazins Thesen schlichtweg durch Studien und Zahlen zu widerlegen?

    Sollten Interventionen darauf beschränkt sein, fände ich das problematisch.

    Wenn Statistiken aufgefahren werden, die Sarrazins Zahlen widersprechen und widerlegen, setzt das den Unterdrückungsdiskursen zwar etwas entgegen, wiederholt aber die Prinzipien, etwa von Nützlichkeit. Was ist, wenn "bewiesen" wird, dass eine bestimmte Menschengruppe doch eine weitaus produktivere Funktion hat, als von Sarrazin dargestellt?

    Da besteht die große Gefahr, die Einteilung von Menschen nach kapitalistischer Verwertung zu akzeptieren und sogar mitzutragen. Es findet dann ein Einlassen auf die von Sarrazin eingeführten Spielregeln statt.

    Jedoch waren Interventionen wie etwa die von Naika Foroutan und ihrem Team gerade zu Beginn der "Sarrazindebatte" sehr wichtig.

    Als Ende August letzten Jahres täglich die Thesen Sarrazins heißer gekocht wurden, waren ihre Entgegnungen in den Talkshows und in Zeitungsartikeln hilfreich, um Sarrazins Image als vermeintlich objektiver, neutraler Statistiker als Farce zu entlarven.

    Yasemin Shooman spricht in ihrem Beitrag davon, dass der Rassismus wandlungsfähig sei. Der Wandel von einem biologistischen Rassismus hin zu einem kulturellen scheint sich größtenteils bereits vollzogen zu haben. Hierfür wurden u.a. Begriffe wie "Rassismus ohne Rassen" oder "Neorassismus" geprägt. Kannst du uns diese Begriffe und Theorien kurz erklären?

    In der Zeit des Kolonialismus wurden die Ausbeutung und Ermordung von Menschen durch die Konstruktion von "Rassen" legitimiert. "Rassen" sind somit biologistische Erfindungen des Rassismus. Im kulturellen Rassismus sind es nicht mehr "Rassen", in die Menschen eingeteilt werden, sondern "Kulturen". Die Begriffe änderten sich, der Inhalt der Begriffe jedoch nicht. "Kultur" wird im kulturellen Rassismus zum unveränderlichen Rahmen, zur quasi-natürlichen Eigenschaft, die Werte und Verhalten determiniert.

    Der von Yasemin Shooman angesprochene antimuslimische Rassismus ist eine Form eines solchen Rassismus. "Der Islam" wird als dem "eigenen" Westlichen gegenüberstehende homogene "Kultur" konstruiert. Es wird davon ausgegangen, dass zwischen "islamischer" und "westlicher Kultur" eine unaufhebbare Differenz besteht.

    Der konstruierten islamischen Kultur werden dabei negative Eigenschaften zugeschrieben. Zugleich findet eine Konstruktion des Westens als überlegene Kultur statt.

    Ein beliebtes Instrument ist der Verweis auf Frauenrechte: In einer binären Logik wird behauptet, im Islam spielten Frauenrechte keine Rolle, was zugleich darauf verweisen soll, dass in Europa dahingehend alles relativ in Ordnung sei.

    Solche Argumentationsformen verlagern gesellschaftliche Unterdrückungsstrukturen ins Außen und schieben sie einer gemachten Gruppe zu. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass Sexismus (aber auch Homo- und Transphobie sowie Antisemitismus) ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Im Buch befasst sich Serhat Karakayali ausführlich mit der Thematik. Er begreift den Rekurs auf Begriffe wie Faschismus ("Islamofaschismus") in Verbindung mit "dem Islam" als Teil eines "reflexiven Eurozentrismus", bei dem es auch darum geht, die "eigene" Läuterung durch vergangene historische Erfahrungen zu verkünden.

    In der "Sarrazindebatte" wurde jedoch auch mit Nützlichkeitskriterien argumentiert. Inwieweit siehst du da ein Novum?


    Zunächst muss gesagt werden, dass nicht erst seit Sarrazin Einwanderung und Ökonomie verknüpft werden. Das sehen wir während des Kolonialismus, im GastarbeiterInnen-Diskurs oder schlicht bei der im Mainstream fest verankerten Unterscheidung von Wirtschaftsflüchtlingen und politischen Flüchtlingen.

    Neben der neokolonialistischen Werbung um Fachkräfte kommt aber in der "Sarrazindebatte" auch ein anderer Aspekt zum Vorschein. Rassismus wird mehr und mehr mit ökonomischen Nützlichkeitskriterien verknüpft. In der "Sarrazindebatte" wurde wesentlich auch der durch Personen wie Peter Sloterdijk geprägte Unterschichtendiskurs bedient. Aber wir sehen deutlich, dass der Unterschichtendiskurs in der "Sarrazindebatte" vor allem den als migrantisch markierten Teil der "Unterschicht" trifft.

    Viele der Argumente von "Leistungsempfängern", die den "Leistungsträgern" angeblich auf der Tasche liegen, wurden wiederholt, aber fast ausschließlich in Verbindung mit "Migranten" gesetzt.

    Der allgemeine, nicht nur auf als migrantisch markierte Menschen bezogene Klassismus von Sarrazin ist offensichtlich vor allem anschlussfähig, wenn er verknüpft wird mit Rassismus.

    Wie sehr das gemeinsam wirkt, zeigt sich auch bei Reportagen und Porträts während der "Sarrazindebatte" in den hegemonialen Medien, die in einem Beitrag von Hannah Schultes und mir analysiert werden.

    In den Porträts scheint eine Art neoliberal gewendeter Rassismus auf.

    Es werden "Musterbeispiele gelungener Integration" dargestellt. Der Erfolg der als "integriert" Begriffenen bildet dabei den Beweis dafür, dass man es eben doch schaffen kann, wenn man sich richtig anstrengt - gleichzeitig werden sie zu Ausnahmen stilisiert, die einer Masse von nicht diesem Ideal entsprechenden Menschen gegenüberstehen und mit diesen kontrastiert werden.

    In eine ähnliche Richtung geht auch der Beitrag von Vassilis Tsianos und Marianne Pieper im Buch. Sie konstatieren eine Veränderung in den rassistischen Formationen. Die Grenzen zwischen "Wir" und "Sie" verlaufen nicht mehr alleinig entlang einer leitkulturellen Norm, sondern sind weitaus flüssiger und werden entlang von vermeintlichen Gleichheitsvorstellungen gezogen, wenn etwa Kopftuchträgerinnen als Unterdrückte gelesen werden.

    Welche Gegenstrategien würdest du vorschlagen, um antimuslimischem Rassismus zu begegnen? Wie in eurem Buch schon richtig festgestellt wird, können die Aussagen von Leuten wie Broder, Schwarzer, Kelek, Sarrazin und Co. ja nur deshalb derartig wirken, weil sie auf einen Nährboden fallen, der offen ist für rassistische Argumente.

    Kann man sich also das Kritisieren von einzelnen bekannten ExponentInnen der islamfeindlichen Szene sparen?


    Sarrazin, Broder, Kelek und Co. sind selbstverständlich nicht die SchöpferInnen von rassistischen Argumenten, sondern bewegen sich auf einem gesellschaftlich verankerten Feld.

    Dennoch sind sie auch zu kritisieren, weil einerseits konkrete Verantwortlichkeiten benannt werden müssen und andererseits eine Kritik an den SprecherInnen von rassistischen Äußerungen auch die Position der Sprechenden aufzeigen kann.

    Gabriel Kuhn und Regina Wamper zeigen das deutlich in ihrem Beitrag, wenn sie darstellen, wie männliche, weiße und sozial Privilegierte sich als Opfer von Meinungsfreiheit gerieren. "Deutschland schafft sich ab" konnte auch deshalb so wirken, weil Sarrazin Zugänge zu großen Verlagen hat, über exzellente Kontakte verfügt und auf verschiedene andere Weisen privilegiert ist.

    Insgesamt müssen Rassismus und Klassismus auf allen Ebenen bekämpft werden: individuell, indem etwa eigene Verstrickungen in ausgrenzende Diskurse reflektiert werden.

    Außerdem können auf einer kulturell-symbolischen Ebene beispielsweise Mediendiskurse untersucht und kritisiert werden. So kann etwa gefordert werden, dass Medien die zu Wort kommen lassen müssen, über die gesprochen wird - und das nicht nur als Anschauungsobjekt in durch weiß-deutsch dominierte Redaktionen produzierten Reportagen. Aber auch die strukturelle Ebene sollte nicht aus dem Blickfeld gerückt werden.

    So kann es etwa beim Angriff des ausgrenzenden Unterschichtendiskurses nicht nur darum gehen, Anerkennung für Betroffene sozialer Ungleichheit einzufordern. Vielmehr müssen die Strukturen und Institutionen bekämpft werden, die "Verlierer" und "Gewinner" produzieren.

    Interview: Sebastian Kalicha

    Sebastian Friedrich (Hg.)


    Rassismus in der Leistungsgesellschaft

    Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“

    farb. Broschur, ca. 260 Seiten, 19.80 EUR [D]

    ISBN 978-3-942885-01-0


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    V-Leute-Krimi - zu Ende phantasiert.

    1. Schon jetzt lässt sich die Handlung in einem Punkt weiterdenken:
    • die zwei oder drei oder vier aus Thüringen müssten mindestens Zuarbeitende gehabt haben, die das erhaltene Video ausgestalteten. Qualität wird allgemein gerühmt
    • Kontaktleute in den Städten der verschiedenen Mordtaten. Es standen überall Fluchträder bereit. Irgendwer muss für die Täter vorher die Bundesrepublik durchforscht haben, welche undeutschen Kleinhändler wann wie leicht zu überraschen und zu erledigen wären. Selbst solche Leute wie die Täter können wohl nicht aufs Geradewohl durch Deutschlands Städte gefahren sein - und Ladentüren aufgereissen. Die Einzeltäter - These wird in Tagen zusammenbrechen.
    • Nach Kräften arbeiten schon jetzt verschiedene Informanten fieberhaft gegeneinander. So sollen nach einigen Dokumente im Schutt des angezündeten Hauses gefunden worden sein, die nur Agenten bekommen. Sofort hieß es in der FAZ, es hätte sich nur um eine gefälschte Bahn-Card gehandelt. Warum dann erst von "Dokumenten" (Plural) grummeln? Das Wort Bahn-Card sollte keinerlei Schwierigkeiten beim Schreiben darstellen. Hauptsache - Nebel!

    2. Wenn es Absichten eines oder mehrerer Dienste geben sollten, worauf zielten die dann hin?
    • Auffällig, dass an den höchsten Stellen nicht von gekillten Personen die Rede ist, sondern wieder einmal von "Deutschlands Schande" (Merkel). Der Staat hat keine zerfetzte Aorta. Wohl aber die Abgeknallten. Um die geht es den Kampfentschlossenen aber am wenigsten.
    • Sämtliche Dienste werden Staubsauger. Alle bisher ungeklärten Fälle können jetzt den Rechten aus Thüringen zugeschrieben werden.
    • Einige schwärmen schon vom deutschen FBI. Zentralisiert wie in den USA. Eine Behörde, die dann alles dürfte, was uns jeder amerikanische Krimi vorführt.
    • NPD-Verbot hat mit den Verbrechen der Thüringer und ihrer Verhütung zwar absolut nichts zu tun. (Tut mir leid, VVN-BdA Berlin. Auch wenn die Partei weg wäre, gäbe es weiterhin die Klüngel und Gangs, die sich zusammenschließen würden). Aber Verbietenwollen würde sich gut machen als gemeinsames Unternehmen von CDU und SPD. Offenbar bricht sich die Erkenntnis gewaltsam Bahn, dass die meisten V-Leute bisher ihren Auftraggebern nichts eingebracht haben. Aber gut gelebt vom Verrat. Wie, wenn man den ganzen Sauhaufen wirklich austriebe - und stolz, gemeinsam und ehrenfest vors Bundesverfassungsgericht zöge? Es würde einer möglichen großen Koalition einen gefühlsechten Sockel unterschieben. Antifa sei dann das gemeinsame Panier. Selbst Linke sollten einknicken vor dem Projekt.

    3. Schamlos vermutetes Projekt hinter dem Gewusel (nicht alle Beamte werden schnell genug geschaltet haben, worum es ab jetzt geht): Einheitsfront gegen das, was als rechts-extrem abgestempelt wird. Zugunsten des Normal-Rechten, wie es nach der Maßstabverschiebung durch Sarrazin und die Seinigen sich inzwischen durchgesetzt hat. Aufbau einer massiveren zentralisierten Staatsgewalt gegen die immer noch föderale Organisierung der BRD. Zusammenschluss gegen das Ausland, das - wie in Griechenland - immer noch vom zweiten deutschen Raubzug nach dem der Wehrmacht redet. Wie das noch behaupten, wenn Deutschland sich so antifaschistisch aufführt vor aller Welt?

    4. Das einmal als wahr unterstellt - welche Haltung müsste die LINKE dazu einnehmen? Schärfstes Misstrauen gegen die gesamte Staatsgewalt - ohne Zugeständnisse - versteht sich von selbst. ANTIFA ohne Staatshilfe als unerbittliche Untersuchungsarbeit gegen Rechts. Rücksichtslose Veröffentlichung der gemachten Erkenntnisse - unter Ausnutzung der verbliebenen Öffentlichkeit. Organisierung von Schutz-und Austauschketten gegen rechte Überfälle - wie einst das vereinbarte Glockengeläute gegen Besetzung der Startbahn West - durch wen auch immer. Heute zu ersetzen durch verfeinerte Kommunikations-und Alarmierungsmittel.

    Gewiss: Alles nur Fischen im gärenden Abfall der Medien. Aber immer noch besser als stumpfes Warten aufs nächste Bombardement durch die Dienste, die noch aus ihrem Verfall Honig saugen wollen.

    Deutschland, Dein "Verfassungsschutz"...

    In einem Wohnwagen in Stregda bei Eisenach endete das Leben von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Seit dem Fund ihrer Leichen am 4. November kommen täglich neue Details aus der Mordkarriere der beiden Männer mit offenbar faschistischem Hintergrund an das Tageslicht. Wie war es möglich, dass sie - und ihre mutmaßlichen Helfer - unerkannt über dreizehn Jahre behördlich unbehelligt rauben und morden konnten?

    "Eine rassistische Mordserie und eine erschossene Polizistin gehen offenbar auf das Konto von Neonazis. Der Fall wirft brisante Fragen auf: Was wusste der Verfassungsschutz?", so der "Freitag". Die Frage ist durchaus berechtigt, denn bekanntlich stellen die Dienste nicht wenige in den Reihen der reaktionären und faschistischen Kräfte in der BRD:

    „Wenn ich alle meine verdeckten Ermittler aus den NPD-Gremien abziehen würde, dann würde die NPD in sich zusammenfallen“, so der damalige baden-württembergischen Innenminister Rech (CDU) auf einer Veranstaltung in Gechingen. Mit dieser Aussage räumte er am 5. März 2009 im "Scharzwälder Boten" ein, dass die NPD im Lande durch den „Verfassungsschutz“ künstlich am Leben gehalten wird.

    Nun, nach den Enthüllungen über die offenbar rassistische Mordserie an mehreren Kleingewerbetreibenden und dem Mord an einer Heilbronner Polizeibeamtin zeigen sich ausgerechnet die Verfassungsschützer "überrascht" über die Vorgänge, obwohl schon seit 2011 darüber gemunkelt wurde, dass der Verfassungsschutz selber in die Mordserie verstrickt sein könnte: 

    "... Schließlich hatte der Kopf des militanten "Thüringer Heimatschutzes", zu dem die drei gehörten, als V-Mann für den Verfassungsschutz des Landes Thüringen gespitzelt, wie im Jahr 2001 bekannt wurde ..." (taz)

    Natürlich wurde sogleich zurückgerudert, und mittlerweile "(...) verlautbarte der Thüringer Verfassungsschutz, keine der drei Personen habe zu seinen V-Leuten gehört. Allerdings hatte er dies schon bei Timo B. beteuert, dem ehemaligen Kopf der rechtsextremen Gruppe Thüringer Heimatschutz, der das Trio angehörte und die 1998 im Fokus der damaligen Sprengstoffermittlungen stand. (...)" (Peter Mühlbauer bei telepolis).

    Auch Anders Behring Breivik hat seine politisch motivierten Morde wohl jahrelang und systematisch unter den Augen der Behörden vorbereitet. Wie glaubwürdig ist also die Sorge, die der Präsident des niedersächsischen Verfassungsschutzes, Hans-Werner Wargel der "tagesschau" zum Ausdruck bringt? "Wenn sich der Verdacht bestätigt, haben wir es mit dem schlimmsten Fall rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zu tun". Vom Dilletantismus bei den Ermittlungen - man bedenke nur die mehr als peinliche "Panne" bei den Wattestäbchen für die DNA Analyse im Fall der ermordeten Polizeibeamtin bis hin zur schon beinahe penetranten Weigerung, die Zahl der Opfer faschistischer Gewalt anzuerkennen:

    Der Fall wirft mehr Fragen auf, als bislang in den Kommentarspalten aufgeworfen werden. Der bisherige Umgang mit dem Fall gibt Anlass zur Befürchtung, dass einmal mehr das Lied von der "Einzeltäterthese" gespielt werden soll.

    Das hat Tradition in diesem Land. Zumindest hinsichtlich "rechter" Gewalt.

    Einzeltäterthese 2.0?
    In diesem Jahr jährte sich das Oktoberfestattentat zum 31. Mal. Am 26.09.1980 explodierte eine Bombe am Haupteingang des Oktoberfests und riss 13 Menschen in den Tod. 211 Menschen wurden verletzt, zum Teil sehr schwer. Es war der schlimmste Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch gibt es noch immer kein öffentliches Bewusstsein für die Hintergründe, kaum jemand kennt die Verbindungen des Attentäters zur rechten Szene. Auch dort führte die blutige Spur zu Neonazis. Doch die Ermittler haben diese Spur zu den Akten gelegt und stattdessen die Theorie vom "Einzeltäter" in die Welt gesetzt und festgeschrieben. So ist der größte Terroranschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute nicht aufgeklärt, die Akten des Wies‘n-Attentats sind seit 1982 geschlossen, neue Erkenntnisse und offene Fragen sind offensichtlich unerwünscht. Der erneute Antrag auf Wiederaufnahme der Ermittlungen im Jahr 2009 brachte ans Tageslicht, dass sämtliche Beweisstücke, die sogenanten Asservate bereits 1997 vernichtet worden sind.

    Sollte nicht ein wenig mehr kritischer Umgang mit rechten Ideologien an den Tag gelegt werden? Diese Hoffnung - zumindest, sofern sie an staatliche Stellen gerichtet ist - erscheint jedoch reichlich hoffnungslos. Vor allem angesichts dessen, dass heute erneut Feindbilder konstruiert werden, Hass auf Muslime, auf MigrantInnen geschürt, Hartz IV Empfänger, Arme und Kranke stigmatisiert und zu inneren Feinden hochstilisiert werden, um von den Ursachen der kapitalistischen Krise, Kriegen und sozialem Kahlschlag abzulenken.

    Diese Diskussion wäre so nicht denkbar ohne diejenigen, die dafür die ideologische Munition liefern. Und diejenigen, die diese in sich aufsaugen und unwidersprochen lassen. Der zu zweifelhaftem Ruhm gekommene Bestseller "Deutschland schafft sich ab" wurde innerhalb zweier Monate nach Erscheinen das meistverkaufte Politiksachbuch des Jahrezehntes eines deutschen Autors. In diesem Fakt kommt eine breite gesellschaftliche Verschiebung nach rechts, die Enttabuisierung rassistischen Denkens und die Verbindung von Rassismus mit Elite- und Nützlichkeitsdenken zum Ausdruck, die so nicht mehr nur sogenannten "Extremisten" zugeordnet werden kann, sondern breit in allen gesellschaftlichen Schichten hoffähig ist.

    Was wäre hier los?
    "Eingedenk der Tatsache, dass ein paar brennende Bonzenautos in der Öffentlichkeit bereits hysterisch als neue R.A.F. gehandelt werden, stelle man sich vor, in den letzten 11 Jahren seien 10 Unternehmer und zwei Polizisten erschossen und mehrere Banken ausgeraubt worden, man fände zwei aus dem linken Spektrum stammende Aktivisten tot in einem Wohnwagen, deren Wohnung würde ohne Rücksicht auf andere Bewohner des Hauses in einem Feuer vernichtet und eine zugehörige Frau, ebenfalls aus dem linken Umfeld, würde verhaftet werden und zu allen Vorfällen schweigen. Man fände dann im Schutt dieser abgebrannten Wohnung Waffen, die die Aktivisten mit all den vorgenannten Verbrechen eindeutig in Verbindung bringen. Was wäre hier los?" (pantoffelpunk, via woschod.de)

    Querfunk-Interview mit Sebastian Friedrich zur “Sarrazindebatte”

    „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, so titelte die BILD-Zeitung zur sogenannten Sarrazindebatte. Nach der Veröffentlichung des Buches „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin im letzten Herbst waren Schlagwörter wie HartzIV-Empfänger_innen, Integration, Islam oder Fachkräftemangel häufig in den Medien zu lesen. Inzwischen ist die Berichterstattung der Medien wieder abgeflaut. Welche Auswirkungen die Debatte hatte und warum ein solches Buch überhaupt so große Aufmerksamkeit erreichen konnte, darüber sprach Querfunk mit Sebastian Friedrich. Er ist Herausgeber und Mitautor des Buches „Rassismus in der Leistungsgesellschaft –“ Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der Sarrazindebatte“. Vergangene Woche hielt er dazu einen Vortrag in Karlsruhe.

    Querfunk-Interview mit dem Herausgeber und Mitautor Sebastian Friedrich vom 19.10.2011 –“ Anhören: hier.

    Sebastian Friedrich (Hg.)
    Rassismus in der Leistungsgesellschaft
    Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“
    farb. Broschur, 264 Seiten, 19.80 EUR [D]
    ISBN 978-3-942885-01-0

    kritisch-lesen.de Nr. 10 - Überschneidungen von Unterdrückungen

    Foto: © Jörg Möller
    Foto: © Jörg Möller
    Am 4. Oktober erschien die 10. Ausgabe von kritisch-lesen.de. Schwerpunkt diesmal: "Überschneidungen von Unterdrückungen".

    In dieser Ausgabe geht es um verschiedene Unterdrückungsverhältnisse, den Versuch, ihre unterschiedlichen Funktionsmechanismen zu erfassen, sie trotz ihrer Verwobenheit analytisch zu trennen und sie dann wieder zusammen zu führen, denn eine Unterdrückungsform kommt nicht einzeln vor, sondern ist häufig mit anderen verknüpft.

    So kann zum Beispiel eine weiße katholische Kassiererin sowohl sexistisch als auch aufgrund ihrer Klassenposition unterdrückt werden. Es handelt sich dabei aber nicht einfach um eine Aufaddierung von Unterdrückungen, sondern vielmehr darum, wie sie ineinander greifen, sich gegenseitig beeinflussen und verstärken.

    Ein Ereignis, in der das Zusammenspiel verschiedener Unterdrückungsverhältnisse deutlich wurde, ist die „Sarrazindebatte“ im Herbst 2010. Sowohl bei Sarrazin als auch in der anschließenden Debatte wurde kapitalistische Verwertungslogik mit genetischem und kulturellem Rassismus verknüpft, beide Argumentationsmuster stützten sich gegenseitig. Dazu erschien jüngst der Sammelband Rassismus in der Leistungsgesellschaft, der in dieser Ausgabe von Siegfried Jäger als “wichtiger und äußerst verdienstvoller Beitrag– bezeichnet wird. Verschränkungen von Kapitalismus und Rassismus sind kein durch die „Sarrazindebatte“ neu entstandenes Phänomen, sondern unterliegen einer Kontinuität, die zum Beispiel auch in der Trennung von Wirtschaftsflüchtlingen und politischen Flüchtlingen ihren Ausdruck fand und findet.

    Einen Ansatz, Ungleichheitsdimensionen und ihre Überschneidungen darzulegen und zu analysieren, bietet das Konzept der Intersektionalität. Mit diesem beschäftigt sich die Rezension Über die Verflechtung von Herrschaftsverhältnissen von Peps Perdu. Forschung zur Intersektionalität befindet sich im deutschsprachigen Raum zwar noch am Anfang, dennoch verwiesen Debatten innerhalb der feministischen Bewegung schon ab den 1970er Jahren auf das Zusammendenken unterschiedlicher Unterdrückungsformen. Der Zusammenhang von Rassismus und Kapitalismus aus dieser Perspektive heraus wurde im deutschsprachigen Raum insbesondere ab Anfang der 1990er Jahre diskutiert. Aus dieser Debatte dokumentieren wir zwei Rezensionen von Detelef Georgia Schulze und Antke Engel zu den Büchern Scheidelinien von Anja Meulenbelt und Entfernte Verbindungen, herausgegeben von May Ayim u.a. Es zeigt sich, dass bereits damals Themen diskutiert wurden, die bis heute ganz oben auf der Agenda stehen. In seiner Rezension Antiklassistische Perspektiven zu „Klassismus“ unterstreicht Sebastian Friedrich die intersektionale Perspektive. Er kommt zu dem Schluss, dass das Bändchen viele Anstöße für die Auseinandersetzung um Klassismus liefert und fordert zugleich, Antiklassismus nicht von Antikapitalismus zu trennen.

    Außerdem diesmal: Unter dem Titel „Im Griff der Medien“ fand im Herbst 2010 das alljährliche Kolloquium des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialwissenschaften (DISS) statt. Dem gleichnamigen Sammelband widmet sich Chantal Stauder in Wenn Medien ihre Macht missbrauchen und lobt darin die vielschichtigen Auseinandersetzungen zum Umgang von Medien mit Ausnahmesituationen und ihrem Anteil an der Produktion dieser. Das Thema der Angst spielt hier, wie auch in Adi Quartis Rezension Geschwindigkeit und Angst eine große Rolle. In seiner Rezension zu Paul Virilios „Die Verwaltung der Angst“ streicht Quarti die Produktion der Angst als Effekt des technologischen Fortschritts heraus.

    Das mediale Feiern seiner „Heiligkeit“ zum Papstbesuch mag für viele Bevölkerungsgruppen schon zynisch daher gekommen sein, zumal die rigide Geschlechterpolitik der katholischen Kirche mal wieder nur marginal Thema war. Hierzu gehört beispielsweise auch der (nicht nur kirchliche Umgang) mit intersexuellen Personen, dem sich Anja Gregor in Im Zweifel für den Zweifel annimmt. Dass Katholizismus und Anarchismus nicht völlig unvereinbar sind, zeigt Sebastian Kalicha in Zwischen Kropotkin und Papst –“ eine Rezension zur Biographie von Dorothy Day. Mit einer speziellen Form des Glaubens beschäftigt sich Gabriel Kuhn in Es sieht düster aus: Im Buch „Gegenaufklärung“ wird versucht, den Poststrukturalismus der Barbarei zu bezichtigen.

    Zur aktuellen Ausgabe

    »Rassismus in der Leistungsgesellschaft« - Buchpräsentation und Lesung in Stuttgart

    Veranstaltungsflyer
    Anders Behring Breivik, der für mindestens 87 Tote und viele Verletze verantwortlich ist, als er in Norwegen einen schweren Bombenanschlag in Oslo verübte und wenig später auf der Insel Utøya wahllos auf die Besucher eines Camps der Arbeiterpartei schoss, bezeichnete sich selbst als "nationalistisch und antimuslimisch" und stellte sich im Internet als konservativer Christ dar.

    Breiviks Taten wurzeln in dem geschürten Hass auf Muslime, in sorgsam gehegten Feindbildern, mit denen Ausländer, Muslime, Hartz IV Empfänger, Arme und Kranke weltweit stigmatisiert und zu inneren Feinden hochstilisiert werden sollen, um von den Ursachen der kapitalistischen Krise, Kriegen und sozialem Kahlschlag abzulenken.

    In diese Kerbe schlagen reaktionäre Kräfte wie PI, die zu den Veranstaltern des im Juni 2011 in Stuttgart stattgefundenen sogenannten „islamkritischen Wochenendes“ gehören. In Zusammenhang mit den antirassistischen Protesten dagegen und den Gründungsparteitag der rassistischen Kleinstpartei „Die Freiheit“ wurde trotz dünner Beweislage und widersprüchlicher Zeugenaussagen der Stuttgarter Antifaschist Chris zu 11 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt.

    Die ideologische Munition dafür liefern Reaktionäre wie das SPD Mitglied Thilo Sarrazin. Sein Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ markiert einen Höhepunkt in der „Sarrazindebatte“. Diese führte zu einer breiten gesellschaftlichen Verschiebung nach rechts, enttabuisierte rassistisches Denken und verbindet in besonderer Weise Rassismus mit Elite- und Nützlichkeitsdenken.

    Dieses komplexe Ereignis wird dem kürzlich erschienenen Sammelband „Rassismus in der Leistungsgesellschaft: Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der "Sarrazindebatte"“ in 15 Beiträgen mit unterschiedlichen theoretischen Perspektiven kritisch analysiert. Der Sammelband gibt Anstöße für den Alltag, die politische Praxis und die kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung.

    Die Veranstaltung soll jedem Interessierten als Anregung dienen. Nach der Vorstellung des Buchs soll über das Vorgestellte und Handlungsmöglichkeiten diskutiert werden.

    Schwerpunktthemen der Lesung sind:
    • Rückblick auf die "Sarrazindebatte"
    • Elite- und Leistungsdiskurs während und vor der "Sarrazindebatte"
    • Verschränkung zwischen Rassismus und Neoliberalismus
    Diskussionsveranstaltung am 11.10.2011 mit dem Herausgeber Sebastian Friedrich im Linken Zentrum Lilo Herrmann, Böblinger Str. 105 70199 Stuttgart.

    Sebastian Friedrich lebt in Berlin, ist Redakteur von kritisch-lesen.de, freier Mitarbeiter der Opferberatungsstelle ReachOut Berlin, Aktiv bei KOP (Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt), Mitglied des AK Rechts und der Diskurswerkstatt des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS) und aktiv im Netzwerk der edition assemblage in Münster.

    Die Veranstaltung wird unterstützt von: Antifaschistische Aktion Aufbau Stuttgart, Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart und Region, Antifaschistische Initiative Leonberg, VVN-BdA Kreis Esslingen, VVN-BdA Kreis Leonberg, VVN-BdA Kreis Stuttgart, Offenes Antifaschistisches Bündnis Kirchheim, Rems-Murr Nazifrei, Weiler schaut hin! e.V.
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