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Abweichung



Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

Für den Verfall der Arbeiterbewegung spricht der offizielle Optimismus ihrer Anhänger. Er scheint mit der eisernen Konsolidierung der kapitalistischen Welt anzuwachsen. Die Inauguratoren haben niemals das Gelingen für garantiert gehalten und darum den Arbeiterorganisationen ihr Leben lang Unannehmlichkeiten gesagt. Heute, da die Position des Gegners und seine Verfügung übers Bewußtsein der Massen unendlich verstärkt sind, gilt der Versuch, durch Kündigung des Einverständnisses dies Bewußtsein jäh zu verändern, für reaktionär. Jeder macht sich verdächtig, der mit der Kritik am Kapitalismus die am Proletariat verbindet, das mehr und mehr die kapitalistischen Entwicklungstendenzen selber bloß reflektiert. Über die Klassengrenzen hinweg ist das negative Element des Gedankens verpönt. Die Weisheit des Kaisers Wilhelm, »Schwarzseher dulde ich nicht«, ist in die Reihen derer eingedrungen, die er zerschmettern wollte. Wer etwa auf das Ausbleiben eines jeglichen spontanen Widerstands der deutschen Arbeiter hinwies, dem ward entgegengehalten, alles sei derart im Fluß, daß kein Urteil möglich sei; wer nicht an Ort und Stelle, unter den armen deutschen Opfern des Luftkriegs sich befinde, der doch diesen ganz gut gefiel, solange es gegen die andern ging, habe überhaupt den Mund zu halten, und außerdem stünden Agrarreformen in Rumänien und Jugoslawien unmittelbar bevor. Je weiter jedoch die rationale Erwartung entschwindet, daß das Verhängnis der Gesellschaft wirklich gewendet werde, um so ehrfürchtiger beten sie dafür die alten Namen: Masse, Solidarität, Partei, Klassenkampf her. Während kein Gedanke aus der Kritik der politischen Ökonomie bei den Anhängern der linken Plattform mehr feststeht; während ihre Zeitungen ahnungslos täglich Thesen ausposaunen, die allen Revisionismus übertrumpfen, aber gar nichts bedeuten und morgen auf Abruf durch die umgekehrten ersetzt werden können, zeigen die Ohren der Linientreuen musikalische Schärfe, sobald es sich um die leiseste Respektlosigkeit gegen die der Theorie entäußerten Parolen handelt. Zum Hurra-Optimismus schickt sich der internationale Patriotismus. Der Loyale muß zu einem Volk sich bekennen, gleichgültig welchem. Im dogmatischen Begriff des Volkes aber, der Anerkennung des vorgeblichen Schicksalszusammenhangs zwischen Menschen als der Instanz fürs Handeln, ist die Idee einer vom Naturzwang emanzipierten Gesellschaft implizit verneint. Selbst der Hurra-Optimismus ist die Perversion eines Motivs, das einmal andere Tage sah: dessen, daß nicht gewartet werden könne. Im Vertrauen auf den Stand der Technik wurde die Veränderung als unmittelbar bevorstehend, als nächste Möglichkeit gedacht. Konzeptionen, welche sich an lange Zeiträume, Kautelen, umständliche bevölkerungspädagogische Maßnahmen banden, waren verdächtig, das Ziel preiszugeben, zu dem sie sich bekannten. Damals hatte im Optimismus, der der Todesverachtung gleichkam, der autonome Wille sich ausgedrückt. Übriggeblieben ist nur die Hülle davon, der Glaube an Macht und Größe der Organisation an sich, ohne Bereitschaft zum eigenen Tun, ja durchtränkt mit der destruktiven Überzeugung, Spontaneität sei zwar nicht mehr möglich, aber am Ende gewinne doch die rote Armee. Die beharrliche Kontrolle darüber, daß jeder zugibt, es werde schon gut werden, verdächtigt den Unnachgiebigen als Defaitisten und Abtrünnigen. Im Märchen waren die Unken, die aus der Tiefe kamen, Boten des großen Glücks. Heute, da die Preisgabe der Utopie deren Verwirklichung so ähnlich sieht wie der Antichrist dem Parakleten, ist Unke zum Schimpfwort unter denen geworden, die selber drunten sind. Der linke Optimismus wiederholt den tückischen bürgerlichen Aberglauben, man solle den Teufel nicht an die Wand malen, sondern sich ans Positive halten. » Dem Herrn gefällt die Welt nicht? Dann muß er sich eine bessere suchen« - das ist die Umgangssprache des sozialistischen Realismus.

Reiner Wein



Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

Ob ein Mensch es gut mit dir meint, dafür gibt es ein fast untrügliches Kriterium: wie jener unfreundliche oder feindselige Äußerungen über dich referiert. Meist sind solche Berichte überflüssig, nichts als Vorwände, Übelwollen ohne Verantwortung, ja im Namen des Guten durchdringen zu lassen. Wie alle Bekannten die Neigung verspüren, von allen gelegentlich Schlechtes zu sagen, wohl auch weil sie gegen das Grau der Bekanntschaft aufbegehren, so ist jeder zugleich gegen die Ansichten eines jeden empfindlich und wünscht sich insgeheim, dort noch geliebt zu werden, wo er selber gar nicht liebt: nicht weniger wahllos und allgemein als die Entfremdung zwischen den Menschen ist die Sehnsucht, sie zu durchbrechen. In diesem Klima gedeiht der Kolporteur, dem es nie an Stoff und Unheil fehlt, und der stets damit rechnen darf, daß, wer möchte, daß alle ihn mögen, begierig lauert, das Gegenteil zu erfahren. Abfällige Bemerkungen sollte man wiedergeben nur, wenn es unmittelbar und durchsichtig um gemeinsame Entscheidungen, die Beurteilung von Menschen geht, auf die man sich zu verlassen, mit denen man etwa zu arbeiten hat. Je uninteressierter der Bericht, desto trüber das Interesse, die verdrückte Lust, Schmerz zuzufügen. Harmlos ist es noch, wenn der Erzähler die beiden Kontrahenten schlicht gegeneinander aufhetzen und zugleich seine eigenen Qualitäten ins Licht rücken will. Häufiger tritt er als unausdrücklich berufenes Mundstück der öffentlichen Meinung auf und gibt gerade durch affektlose Objektivität dem Opfer die ganze Gewalt des Anonymen zu verstehen, vor dem es ducken soll. Die Lüge wird offenbar an der unnützen Sorge um die Ehre des Beleidigten, der von der Beleidigung nichts weiß, um klare Verhältnisse, um innere Reinlichkeit: sobald diese in der verstrickten Welt verfochten wird, befördert man seit Gregers Werle die Verstrickung. Kraft des moralischen Eifers wird der Wohlmeinende zum Zerstörer.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Halblang



Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

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Der Kritik an Tendenzen der gegenwärtigen Gesellschaft wird automatisch, ehe sie nur ganz ausgesprochen ist, entgegengehalten, so sei es immer schon gewesen. Die Aufregung, deren man sich prompt erwehrt, zeuge bloß von mangelnder Einsicht in die Invarianz der Geschichte; von einer Unvernunft, die alle stolz als Hysterie diagnostizieren. Überdies wird dem Ankläger bedeutet, er wolle durch seine Attacke sich aufspielen, das Privileg des Besonderen in Anspruch nehmen, während doch, worüber er sich empört, allbekannt und trivial sei, so daß man niemandem zumuten könne, Interesse daran zu verschwenden. Die Evidenz des Unheils kommt dessen Apologie zugute: weil alle es wissen, soll niemand es sagen dürfen, und gedeckt vom Schweigen mag es denn unangefochten weitergehen. Gehorcht wird dem, was die Philosophie aller Nuancen den Menschen in die Köpfe getrommelt hat: daß, was die beharrliche Schwerkraft des Daseins auf seiner Seite hat, eben damit sein Recht bewies. Man braucht nur unzufrieden zu sein und ist bereits als Weltverbesserer verdächtig. Das Einverständnis bedient sich des Tricks, dem Opponenten eine reaktionäre These von Verfall zuzuschieben, die sich nicht halten läßt - denn perenniert nicht in der Tat das Grauen? -, mit seinem vorgeblichen Denkfehler die konkrete Einsicht ins Negative selber zu diskreditieren, und den, der gegen das Finstere aufbegehrt, als Dunkelmann anzuschwärzen. Aber mag es selbst schon immer so gewesen sein, obwohl doch weder Timur und Dschingis Khan noch die indische Kolonialverwaltung plangemäß Millionen von Menschen mit Gas die Lungen zerreißen ließen, dann offenbart doch die Ewigkeit des Entsetzens sich daran, daß jede seiner neuen Formen die ältere überbietet. Was überdauert, ist kein invariantes Quantum von Leid, sondern dessen Fortschritt zur Hölle: das ist der Sinn der Rede vom Anwachsen der Antagonismen. Jeder andere wäre harmlos und ginge in vermittelnde Phrasen über, den Verzicht auf den qualitativen Sprung. Der die Todeslager als Betriebsunfall des zivilisatorischen Siegeszuges, das Martyrium der Juden als welthistorisch gleichgültig registriert, fällt nicht bloß hinter die dialektische Ansicht zurück, sondern verkehrt den Sinn der eigenen Politik: dem Äußersten Einhalt zu tun. Nicht nur in der Entfaltung der Produktivkräfte, auch in der Steigerung des Drucks der Herrschaft schlägt die Quantität in die Qualität um. Wenn die Juden als Gruppe ausgerottet werden, während die Gesellschaft das Leben der Arbeiter weiter reproduziert, dann wird der Hinweis, jene seien Bürger und ihr Schicksal unwichtig für die große Dynamik, zur ökonomistischen Schrulle, selbst wofern der Massenmord tatsächlich durchs Sinken der Profitrate zu erklären wäre. Das Entsetzen besteht darin, daß es immer dasselbe bleibt - die Fortdauer der »Vorgeschichte« -, aber unablässig als ein anderes, Ungeahntes, alle Bereitschaft Übersteigendes sich verwirklicht, getreuer Schatten der sich entfaltenden Produktivkräfte. Von der Gewalt gilt die gleiche Doppelheit, welche die Kritik der politischen Ökonomie an der materiellen Produktion nachwies: »Es gibt allen Produktionsstufen gemeinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden, aber die sogennannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sind nichts als ... abstrakte Momente, mit denen keine wirkliche Produktionsstufe begriffen ist.« Mit anderen Worten, die Ausabstraktion des geschichtlich Unveränderten ist nicht kraft wissenschaftlicher Objektivität gegen die Sache neutral, sondern dient, selbst wo sie zutrifft, als Nebel, in dem das Greifbar-Angreifbare verschwimmt. Dies genau wollen die Apologeten nicht worthaben. Sie sind einesteils versessen auf die dernière nouveauté und leugnen andererseits die Höllenmaschine, die Geschichte ist. Man kann nicht Auschwitz auf eine Analogie mit der Zernichtung der griechischen Stadtstaaten bringen als bloß graduelle Zunahme des Grauens, der gegenüber man den eigenen Seelenfrieden bewahrt. Wohl aber fällt von der nie zuvor erfahrenen Marter und Erniedrigung der in Viehwagen Verschleppten das tödlich-grelle Licht noch auf die fernste Vergangenheit, in deren stumpfer und planloser Gewalt die wissenschaftlich ausgeheckte teleologisch bereits mitgesetzt war. Die Identität liegt in der Nichtidentität, dem noch nicht Gewesenen, das denunziert, was gewesen ist. Der Satz, es sei immer dasselbe, ist unwahr in seiner Unmittelbarkeit, wahr erst durch die Dynamik der Totalität hindurch. Wer sich die Erkenntnis vom Anwachsen des Entsetzens entwinden läßt, verfällt nicht bloß der kaltherzigen Kontemplation, sondern verfehlt mit der spezifischen Differenz des Neuesten vom Vorhergehenden zugleich die wahre Identität des Ganzen, des Schreckens ohne Ende.



Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Adorno: Antithese



Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

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Für den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr, daß er sich für besser hält als die andern und seine Kritik der Gesellschaft mißbraucht als Ideologie für sein privates Interesse. Während er danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt. Solchem Eingedenken aber widerstrebt die Schwerkraft des Bürgerlichen in ihm selber. Der Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt. Die eigene Distanz vom Betrieb ist ein Luxus, den einzig der Betrieb abwirft. Darum trägt gerade jede Regung des sich Entziehens Züge des Negierten. Die Kälte, die sie entwickeln muß, ist von der bürgerlichen nicht zu unterscheiden. Auch wo es protestiert, versteckt sich im monadologischen Prinzip das herrschende Allgemeine. Die Beobachtung Prousts, daß die Photographien der Großväter eines Herzogs und eines Juden aus dem Mittelstand einander so ähnlich sehen, daß keiner mehr an die soziale Rangordnung denkt, trifft einen weit umfassenderen Sachverhalt: objektiv verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle jene Differenzen, die das Glück, ja die moralische Substanz der individuellen Existenz ausmachen. Wir stellen den Verfall der Bildung fest, und doch ist unsere Prosa, gemessen an der Jacob Grimms oder Bachofens, der Kulturindustrie in Wendungen ähnlich, von denen wir nichts ahnen. Überdies können auch wir längst nicht mehr Latein und Griechisch wie Wolf oder Kirchhoff. Wir deuten auf den Übergang der Zivilisation in den Analphabetismus und verlernen es selber, Briefe zu schreiben oder einen Text von Jean Paul zu lesen, wie er zu seiner Zeit muß gelesen worden sein. Es graut uns vor der Verrohung des Lebens, aber die Absenz einer jeden objektiv verbindlichen Sitte zwingt uns auf Schritt und Tritt zu Verhaltensweisen, Reden und Berechnungen, die nach dem Maß des Humanen barbarisch und selbst nach dem bedenklichen der guten Gesellschaft taktlos sind. Mit der Auflösung des Liberalismus ist das eigentlich bürgerliche Prinzip, das der Konkurrenz, nicht überwunden, sondern aus der Objektivität des gesellschaftlichen Prozesses in die Beschaffenheit der sich stoßenden und drängenden Atome, gleichsam in die Anthropologie übergegangen. Die Unterwerfung des Lebens unter den Produktionsprozeß zwingt erniedrigend einem jeglichen etwas von der Isolierung und Einsamkeit auf, die wir für die Sache unserer überlegenen Wahl zu halten versucht sind. Es ist ein so altes Bestandstück der bürgerlichen Ideologie, daß jeder Einzelne in seinem partikularen Interesse sich besser dünkt als alle anderen, wie daß er die anderen als Gemeinschaft aller Kunden für höher schätzt als sich selber. Seitdem die alte Bürgerklasse abgedankt hat, führt beides sein Nachleben im Geist der Intellektuellen, die die letzten Feinde der Bürger sind und die letzten Bürger zugleich. Indem sie überhaupt noch Denken gegenüber der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten, verhalten sie sich als Privilegierte; indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs. Die private Existenz, die sich sehnt, der menschenwürdigen ähnlich zu sehen, verrät diese zugleich, indem die Ähnlichkeit der allgemeinen Verwirklichung entzogen wird, die doch mehr als je zuvor der unabhängigen Besinnung bedarf. Es gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg. Das einzige, was sich verantworten läßt, ist, den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im übrigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es längst nicht mehr die gute Erziehung, wohl aber die Scham darüber gebietet, daß einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.

Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Nicht Anklopfen.

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
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"Die Technisierung macht einstweilen die Gesten präzis und roh und damit die Menschen. Sie treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sie unterstellt sie den unversöhnlichen, gleichsam geschichtslosen Anforderungen der Dinge. So wird etwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tür zu schließen. Die von Autos und Frigidaires muß man zuwerfen, andere haben die Tendenz, von selber einzuschnappen und so die Eintretenden zu der Unmanier anzuhalten, nicht hinter sich zu blicken, nicht das Hausinnere zu wahren, das sie aufnimmt. Man wird dem neuen Menschentypus nicht gerecht ohne das Bewußtsein davon, was ihm unablässig, bis in die geheimsten Innervationen hinein, von den Dingen der Umwelt widerfährt. Was bedeutet es fürs Subjekt, daß es keine Fensterflügel mehr gibt, die sich öffnen ließen, sondern nur noch grob aufzuschiebende Scheiben, keine sachten Türklinken sondern drehbare Knöpfe, keinen Vorplatz, keine Schwelle gegen die Straße, keine Mauer um den Garten? Und welchen Chauffierenden hätten nicht schon die Kräfte seines Motors in Versuchung geführt, das Ungeziefer der Straße, Passanten, Kinder und Radfahrer, zuschanden zu fahren? In den Bewegungen, welche die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der faschistischen Mißhandlungen. Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei's an Freiheit des Verhaltens, sei's an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion."

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Aufarbeitung der Vergangenheit

Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964 Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Die Idee der Nation, in der einmal sich die wirtschaftliche Einheit der Interessen freier und selbstständiger Bürger gegenüber den territorialen Schranken der Feudalismus zusammenfaßte, ist selbst, gegenüber dem offensichtlichen Potential der Gesamtgesellschaft, zur Schranke geworden. Aktuell aber ist der Nationalismus insofern, als allein die überlieferte und psychologisch eminent besetzte Idee der Nation, stes noch Ausdruck der Interessensgemeinschaft in der internationalen Wirtschaft, Kraft genug hat, Hunderte von Millionen für Zwecke einzuspannen, die sie nicht unmittelbar als die ihren betrachten können. Der Nationalismus glaubt sich selbst nicht ganz mehr und wird doch benötigt als wirksamstes Mittel, die Menschen zur Insistenz auf objektiv veralteten Verhältnissen zu bringen."

Theodor W. Adorno: "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" Gesammelte Schriften 10.2. Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe. Stichworte. Anhang by Theodor W. Adorno (Suhrkamp: Frankfurt/Main, 1977) 555-572.

Auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen

Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964 Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten. Genuß selber würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, »sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung« könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden."

Theodor W.Adorno - Minima Moralia

Adorno zum Zen-Buddhismus

Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964 Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Licht fällt auf die restaurativen Philosphien von heutzutage vom kitschigen Exotismus kunstgewerblicher Weltanschauungen her, wie dem erstaunlich konsumfähigen Zen-Buddhismus. Gleich diesem simulieren jene eine Stellung des Gedankens, welche einzunehmen die in den Subjekten aufgespeicherte Geschichte unmöglich macht. Einschränkung des Geistes auf das seinem geschichtlichen Erfahrungsstand Offene und Erreichbare ist ein Element von Freiheit; das begrifflos Schweifende verkörpert deren Gegenteil. Doktrinen, die dem Subjekt unbekümmert in den Kosmos entlaufen, sind samt der Seinsphilosophie mit der verhärteten Verfassung der Welt, und den Erfolgschancen in ihr, leichter vereinbar als das kleinste Stück Selbstbesinnung des Subjekts auf sich und seine reale Gefangenschaft."
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik


Kaufmannsladen

Theodor W. Adorno (vorne rechts) mit Max Horkheimer (links) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Hebbel wirft in einer überraschenden Tagebuchnotiz die Frage auf, was »dem Leben den Zauber in späteren Jahren« nähme. Weil wir in all den bunten verzerrten Puppen die Walze sehen, die sie in Bewegung setzt, und weil eben darum die reizende Mannigfaltigkeit der Welt sich in eine hölzerne Einförmigkeit auflöst. Wenn einmal ein Kind die Seiltänzer singen, die Musikanten blasen, die Mädchen Wasser tragen, die Kutscher fahren sieht, so denkt es, das geschähe alles aus Lust und Freude an der Sache; es kann sich gar nicht vorstellen, daß diese Leute auch essen und trinken, zu Bett gehen und wieder aufstehen. Wir aber wissen, worum es geht.« Nämlich um den Erwerb, der alle jene Tätigkeiten als bloße Mittel beschlagnahmt, vertauschbar reduziert auf die abstrakte Arbeitszeit. Die Qualität der Dinge wird aus dem Wesen zur zufälligen Erscheinung ihres Wertes. Die » Äquivalentform« verunstaltet alle Wahrnehmungen: das, worin nicht mehr das Licht der eigenen Bestimmung als »Lust an der Sache« leuchtet, verblaßt dem Auge. Die Organe fassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merken der Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist oder für ein anderes; sie ermüden an der falschen Vielfalt und tauchen alles in Grau, enttäuscht durch den trugvollen Anspruch der Qualitäten, überhaupt noch da zu sein, während sie nach den Zwecken der Aneignung sich richten, ja ihnen weithin ihre Existenz einzig verdanken. Die Entzauberung der Anschauungswelt ist die Reaktion des Sensoriums auf ihre objektive Bestimmung als »Warenwelt«. Erst die von Aneignung gereinigten Dinge wären bunt und nützlich zugleich: unter universalem Zwang läßt beides nicht sich versöhnen. Die Kinder aber sind nicht sowohl, wie Hebbel meint, befangen in Illusionen über die »reizende Mannigfaltigkeit«, als daß ihre spontane Wahrnehmung den Widerspruch zwischen dem Phänomen und der Fungibilität, an den die resignierte der Erwachsenen schon nicht mehr heranreicht, noch begreift und ihm zu entrinnen sucht. Spiel ist ihre Gegenwehr. Dem unbestechlichen Kind fällt die »Eigentümlichkeit der Äquivalentform« auf: »Gebrauchswert wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts.« (Marx, Kapital I, Wien 1932, S. 61) In seinem zwecklosen Tun schlägt es mit einer Finte sich auf die Seite des Gebrauchswerts gegen den Tauschwert. Gerade indem es die Sachen, mit denen es hantiert, ihrer vermittelten Nützlichkeit entäußert, sucht es im Umgang mit ihnen zu erretten, womit sie den Menschen gut und nicht dem Tauschverhältnis zu willen sind, das Menschen und Sachen gleichermaßen deformiert. Der kleine Rollwagen fährt nirgendwohin, und die winzigen Fässer darauf sind leer; aber sie halten ihrer Bestimmung die Treue, indem sie sie nicht ausüben, nicht teilhaben an dem Prozeß der Abstraktionen, der jene Bestimmung an ihnen nivelliert, sondern als Allegorien dessen stillhalten, wozu sie spezifisch da sind. Versprengt zwar, doch unverstrickt warten sie, ob einmal die Gesellschaft das gesellschaftliche Stigma auf ihnen tilgt; ob der Lebensprozeß zwischen Mensch und Sache, die Praxis aufhören wird, praktisch zu sein. Die Unwirklichkeit der Spiele gibt kund, daß das Wirkliche es noch nicht ist. Sie sind bewußtlose Übungen zum richtigen Leben. Vollends beruht das Verhältnis der Kinder zu den Tieren darauf, daß die Utopie in jene sich vermummt, denen Marx es nicht einmal gönnt, daß sie als Arbeitende Mehrwert liefern. Indem die Tiere ohne den Menschen irgend erkennbare Aufgabe existieren, stellen sie als Ausdruck gleichsam den eigenen Namen vor, das schlechterdings nicht Vertauschbare. Das macht sie den Kindern lieb und ihre Betrachtung selig. Ich bin ein Nashorn, bedeutet die Figur des Nashorns. Märchen und Operetten kennen solche Bilder, und die lächerliche Frage der Frau, woher wir wüßten, daß der Orion auch in der Tat Orion heißt, erhebt sich zu den Sternen."

Theodor W. Adorno: Minima Moralia, aus dem öffentlich zugänglichen Werk (pdf)

Theodor W. Adorno: Bekämpfung des Antisemitismus heute

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

"... wenn etwa von Antisemiten gesagt wird, die Juden entzögen sich der harten körperlichen Arbeit, so wäre es nicht der Weisheit letzter Schluß, zu erwidern, es habe doch im Osten so viele jüdische Schuster und Schneider gegeben, und es gebe heute in New York so viele jüdische Taxichauffeure.
Indem man so spricht, gibt man den Antiintellektualismus bereits vor und begibt sich auf die Ebene des Gegners, auf der man stets im Nachteil ist.
Man müsste stattdessen aussprechen, daß diese ganze Argumentation eine Rancune-Argumentation [Gehässigkeit, heimliche Feindschaft, Groll. Ressentiment... ] ist: weil man selber glaubt, hart arbeiten zu müssen oder es wirklich muß; und weil man im tiefsten weiß, daß harte physische Arbeit heute eigentlich bereits überflüssig ist, denunziert man dann die, von denen zu Recht oder Unrecht behauptet wird, sie hätten es leichter.
Eine wahre Entgegnung wäre, daß Handarbeit alten Stils heute überhaupt überflüssig, daß sie durch die Technik überholt ist und daß es etwas tief Verlogenes hat einer bestimmten Gruppe Vorwürfe zu machen, daß sie nicht hart genug physisch arbeitet.
Es ist Menschenrecht, sich nicht physisch abzuquälen, sondern sich lieber geistig zu entfalten."

Theodor W. Adorno: Bekämpfung des Antisemitismus heute, in Das Argument 29, Jg.6 1964

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