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Herbert Marcuse (19. Juli 1898 - 29. Juli 1979)

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts, 1955
Copyright: Marcuse family, represented by Harold Marcuse

"(...) Sicherlich könnte der Psychiater wie der Arzt vorgehen und mit seiner Therapie das Ziel verfolgen, den Patienten wieder in seine Familie, seinen Beruf, seine Umgebung einzufügen, wobei er nach Möglichkeit versucht, die Umweltfaktoren zu beeinflussen oder gar zu verändern. Er wird jedoch bald auf Grenzen stoßen, beispielsweise wenn die Spannungen und Belastungen des Patienten im wesentlichen nicht durch bestimmte ungünstige Umstände seines Berufs, seiner Nachbarschaft, seines sozialen Status verursacht werden, sondern durch die allgemeine Natur des Berufs, der Nachbarschaft und des sozialen Status –“ in ihrer normalen Situation. Den Patienten auf diese Normalität auszurichten, hieße diese Spannungen und Belastungen normalisieren; oder um es krasser auszudrücken: es hieße ihn in die Lage versetzen, krank zu sein und seine Krankheit als Gesundheit zu erleben, ohne daß er, der sich gesund und normal fühlt, diese Krankheit überhaupt noch bemerkt. Das wäre der Fall, wenn die von ihm zu verrichtende Arbeit ihrer Natur nach "geisttötend", langweilig und überflüssig wäre (obwohl es sich um eine gut bezahlte und "sozial" notwendige Arbeit handelte); das wäre der Fall, wenn die betreffende Person einer im Vergleich zur herrschenden Gesellschaft unterprivilegierten Minderheitengruppe angehörte, die von alters her arm war und der daher meist die niederen und "schmutzigen" körperlichen Arbeiten vorbehalten waren. Dasselbe gälte (wenn auch in anderer Form) für die andere Seite, für die Herren der Industrie und Politik: Leistungsfähigkeit und finanzieller Erfolg verlangen –“ und reproduzieren –“ hier die Eigenschaften raffinierter Rücksichtslosigkeit, moralischer Gleichgültigkeit und ständiger Aggressivität. In allen diesen Fällen liefe "normales" Funktionieren auf eine Verzerrung und Verstümmelung des menschlichen Wesens hinaus –“ wie bescheiden man auch die Eigenschaften eines menschlichen Wesens definieren mag. Erich Fromm schrieb ein Buch: "The Sane Society"; der Titel indiziert eine zukünftige Gesellschaft, während die bestehende Gesellschaft krank, unnormal erscheint. Was nun das Individuum angeht, das als Bürger einer kranken Gesellschaft sich normal, angemessen und gesund verhält: ist ein solches Individuum nicht krank? Und fordert nicht diese Situation eine entgegengesetzte Vorstellung von geistiger Gesundheit –“ eine andere Konzeption, die jene geistigen Eigenschaften festhält (und bewahrt), welche durch die in der kranken Gesellschaft herrschende Gesundheit tabuiert, gehemmt oder verzerrt werden? (...)"

Herbert Marcuse. "Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft"

Über die Drosselung des technischen Fortschritts

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts, 1955
Foto: © Marcuse family, represented by Harold Marcuse
"Es geht nicht darum, den technischen Fortschritt aufzuhalten oder zu drosseln, sondern darum, diejenigen seiner Züge zu beseitigen, welche die Unterwerfung des Menschen unter den Apparat und die Steigerung des Kampfes ums Dasein verewigen."

Herbert Marcuse

Nicht Anklopfen.

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0

"Die Technisierung macht einstweilen die Gesten präzis und roh und damit die Menschen. Sie treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sie unterstellt sie den unversöhnlichen, gleichsam geschichtslosen Anforderungen der Dinge. So wird etwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tür zu schließen. Die von Autos und Frigidaires muß man zuwerfen, andere haben die Tendenz, von selber einzuschnappen und so die Eintretenden zu der Unmanier anzuhalten, nicht hinter sich zu blicken, nicht das Hausinnere zu wahren, das sie aufnimmt. Man wird dem neuen Menschentypus nicht gerecht ohne das Bewußtsein davon, was ihm unablässig, bis in die geheimsten Innervationen hinein, von den Dingen der Umwelt widerfährt. Was bedeutet es fürs Subjekt, daß es keine Fensterflügel mehr gibt, die sich öffnen ließen, sondern nur noch grob aufzuschiebende Scheiben, keine sachten Türklinken sondern drehbare Knöpfe, keinen Vorplatz, keine Schwelle gegen die Straße, keine Mauer um den Garten? Und welchen Chauffierenden hätten nicht schon die Kräfte seines Motors in Versuchung geführt, das Ungeziefer der Straße, Passanten, Kinder und Radfahrer, zuschanden zu fahren? In den Bewegungen, welche die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der faschistischen Mißhandlungen. Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei's an Freiheit des Verhaltens, sei's an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion."

Theodor W. Adorno, Minima Moralia –“ Reflexionen aus dem beschädigten Leben hier als PDF - 513 kB

Adorno über Wahrheit

Horkheimer (links) mit Theodor W. Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Nichts habe ich so stark erfahren, wie die Beziehung zur Wahrheit, die in der Anrede liegt, und zwar in einer ganz spezifischen Weise. Es ist mir nämlich immer schwer gefallen und fällt mir im Grund heute noch so schwer zu verstehen, daß ein Mensch, der spricht, ein Schurke sein oder lügen soll. Mein Gefühl vom Wahrheitsanspruch der Sprache ist so stark, daß es sich über alle Psychologie durchsetzt und daß ich dem Sprechenden gegenüber zu einer Leichtgläubigkeit neige, die in schreiendstem Widerspruch zu meiner Erfahrung steht und die im allgemeinen erst überwunden wird, wenn ich von dem Betreffenden etwas Geschriebenes oder Gedrucktes lese, woran ich dann eben erkenne, daß er doch nicht sprechen kann. Meine fast unüberwindliche Abneigung dagegen, Lügen auszusprechen, hängt nur mit diesem Bewußtsein und gar nicht mit einem moralischen Tabu zusammen. In dem Satz, ein Mensch habe doch etwas gesagt und deshalb müsse es wahr sein, den alle Klugheit verlacht, steckt eben die Wahrheit, welche die Klugheit verrät."

Theodor W. Adorno am 23.09.1941 in einem Brief an Max Horkheimer.

Horkheimer zur Menschwerdung des Menschen

Horkheimer (links) mit Theodor W. Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

“Macht nicht diese Geborgenheit, die Gewißheit sich auf alle Fälle in der Mitte der Gesellschaft zu erhalten und nie wirklich an ihre Grenzen zu stoßen, die Menschen zu Funktionen, die in allem Wesentlichen zu berechnen sind, deren Formel bis an ihr Lebensende fertig vorliegt? In allem Entscheidenden denken, fühlen, handeln sie als bloße Exponenten ihrer Eigentumsinteressen. Der Sinn ihres Lebens ist festgelegt, es hängt nicht von ihrer Menschlichkeit, sondern von einer Sache, von ihrem Vermögen und seinen immanenten Gesetzen ab. Zu einer Art wirklicher selbstständiger Mensch werden sie nur, wo sie spielen oder sonst gleichgültige Dinge tun.“

Max Horkheimer - Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung

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