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"Mehrdimensional recherchierbar" - wie das BKA Gefährdungslagen produziert

Letzte Woche lehnte Bundespräsident Köhler das Gnadengesuch  von Birgit Hogefeld, Gefangene aus der RAF, ab. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen Text von Birgit Hogefeld, der die Konstruktion von "Gefährdungslagen" durch das BKA  entlarvt. Bei dieser Mischung von BKA- Paranoia und -Hysterie muß man einfach an Brechts Worte denken: "...haben sie den so mächtige Feinde?"
"(...) Am 5.11.93 faxt die Bundesanwaltschaft einen sogenannten Sachstandsbericht zur 'illegalen Kommunikaton' zwischen der Raf-Gefangenen X und dem Besucher Y ans BKA. Einen Tag später kommt es zu einer Besprechung, bei der den nun ermittelnden BKA - Beamten besagter Sachstandsbericht erläutert wird.

Im BKA - Protokoll heißt es dazu:
"Die Korrespondenz der X umfasst etwa täglich einen Brief mit bis zu 10 Seiten Umfang. Die ausgewertete Gesamtmenge beläuft sich auf etwa 1000 Schriftstücke mit ca. 8 Millionen Buchstaben. Die Korrespondenzinhalte werden in einem Datensystem gespeichert und sind mehrdimensional recherchierbar."

Zum Hintergrund:
Verschiedene Raf-Gefangene hatten gemeinsam eine Geschichte mit dem Titel: 'Der lange Weg zum großen Fest' geschrieben, sie sollte ein Geburtstagsgeschenk für die Mutter von X sein. Angesichts dieses Titels blitzten natürlich bei jedem Staatsschützer die roten Lampen auf und so wurde sicherheitshalber auch ein Linguist für die Analyse zu Rate gezogen. Sein Gutachten hatte solche Brisanz, dass es als VS-vertraulich eingestuft wurde.

Der Mann kam zu dem Ergebnis:
"Die Verknüpfung von Metaphern aus dieser Geschichte mit zunächst unabhängig davon zu sehenden Ereignissen setzt voraus, dass der genannte Personenkreis ein einheitliches Belegungsbild metaphorischer Begriffe wie 'Wildschweine, Schweine, Räuber, gebratene Gänse' verwendet. Dies setzt jedoch wiederum mit hoher Wahrscheinlichkeit entsprechende Absprachen voraus."
Desweiteren erscheint den Ermittlern suspekt,dass diese Begriffe nur in großen zeitlichen Abständen in den Briefen auftauchen. Hinzu kommt, dass auch noch Postkarten mit Motiven von Marc Chagall und van Gogh verschickt werden, bei denen "zweifelsfrei der Gedanke des - gemeinsamen - Lebens in Freiheit" zugrunde liegt.
Zwar konstatieren sie, dass ihnen die Texte der Kunstpostkarten "nicht als konspirative Informationen über konkrete Befreiungsaktionen" erscheinen. Aber: nix genaues weiß man nicht und vielleicht ist das der Trick vom Trick.
Und so wendet sich der Bericht dann dem auffälligen Verhalten des Besuchers Y zu. Dazu heißt es:
"Verschiedene auffällige Einzelereignisse und unerklärliche Verhaltensweisen (Massieren der Füße der X bei Besuch, obgleich sie betonte, keine kalten Füße zu haben) seien bei einer Bewertung der Schriften/Kommunikation zu berücksichtigen."

Dann kommt der Bericht zum brisantesten Teil, nämlich zu der ominösen Zahl 11.
Y hat an X einen Strauß mit 11 Rosen geschickt, zwei Raf-Gefangene wurden an einem 11.11. verhaftet, in den Briefen geht es an der Stelle um eine Erzählung von Peter Weiss, in der das Datum 11. November vorkommt, außerdem um die 'Elfertheorie' des Schriftstellers Ronald Schernikau.
So oft die 11 - das kann nur der Code sein!
Einer aus der Ermittlerrunde vom 6.11. meint zwar, es sei nicht auszuschließen, dass gewisse Zufälligkeiten zu Fehlinterpretationen führen können. Aber in der Gesamtschau kommen sie dann doch zu dem Ergebnis, es müsse davon ausgegangen werden, dass eine konspirative Kommunikation bestehe.
Und so heißt es am Ende des Protokolls:
"Die Zusammenfassung indiziert, dass eine 'Lösung der Gefangenenfrage' unmittelbar bevorstehen könnte, wobei dem Datum 11.11. eine tragende Bedeutung beigemessen werden kann."

Nun ist natürlich Gefahr im Verzug.

Am 8.11. kommt es zu einer Besprechung, an der Vertreter des LKA, des Innenministeriums und des Landesamtes für Verfassungsschutz eines Bundeslandes teilnehmen, sowie 4 BKA-Beamte aus verschiedenen TE-Abteilungen.

Sie kommen zu folgendem Resultat:
"Es kann nicht bestätigt oder ausgeräumt werden. dass ein subversives konspiratives Kommunikationssystem besteht, und somit kann eine wie auch immer geartete Befreiungsaktion ab sofort, möglicherweise am 11.11.93, nicht ausgeschlossen werden."

Dann werden die Abwehrmaßnahmen eingeleitet:
- gemeinsame Absprache mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, dem BKA, der Generalbundesanwaltschaft und dem Landeskriminalamt
- Erörterung des Sachverhalts in der KGT-Sitzung am selben Tag
- außerdem sollen die Bundesländer die JVA-Sicherheitschefs und die Personenschutzgruppen der K 106-Einheiten unterrichten und sie sollen Kräfte und Strukturen für den Fall einer Befreiungsaktion bereitstellen

Alle Maßnahmen sind so abzuwickeln, dass Ursprung und Hintergrund nicht öffentlich bekannt werden.

Soweit zur Entstehungsgeschichte einer Gefährdungslage.

Wie hieß es doch: "Die Maßnahmen müssen so gestaltet werden, dass ein Bekanntwerden des Ursprungs bzw. des Hintergrunds den Inhaftierten und dem Umfeld nicht möglich ist."

Entsprechend verlief für mich die Nacht vom 11. auf den 12. November 93. Das Licht war die ganze Nacht eingeschaltet und alle 15 Minuten stürmte eine Schließerin die Zelle, kam zum Bett und fragte: "Frau Hogefeld, leben Sie noch?"

Und die Schlagzeile in der TAZ vom 12. November war: "Selbstmord als letztes Fanal" oder die in der Frankfurter Rundschau, die etwas zurückhaltender formulierte: "Raf-Gefangene unter verstärkter Kontrolle - Staatsschutz befürchtet 'kollektive Selbstmordaktion' (...)".
Quelle: Aus der Prozeßerklärung vom 19. Juli 1996
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