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Inge Viett: Diskussionsverbot - jedesmal, wenn Folgen möglich.

Forderung nach alternativen Abrüstungsmethoden bei Anti Siko Protest München 2010
Foto: woschod
Choral der Anbeter unserer liberalen Justiz: Ist doch noch mal gut weggekommen, die Inge, mit den 1200 Euro, die ihr aufgebrummt wurden. Mann, wie großzügig isse doch, unsere Obrigkeit. Der Staatsanwalt hatte 3 Monate fest verlangt - wegen der Vorstrafen! War das nicht verdient, wo doch die Sozialprognose so ungünstig ausgefallen war. Wer mit 61 immer noch so ist, was ist von dem noch zu erwarten?

Nur, dass es um Milde und Strafhöhe gar nicht gehen kann. Es geht um Freiheit der Rede, in Augenblicken, wo diese ausnahmsweise wirklich Wirkung erzielen kann. Nach der Normalansicht, die der gütige Gesetzgeber seinen Richtern und Staatsanwälten beigebracht hat, soll das Reden schleierig über uns hinziehen. Folgenlos. Idealfall: Bundestagsbeitrag. Da hat wirklich - außer Langeweile und Wut - zum Beispiel heute - niemand einen anderen Impuls erlitten als: ABSCHALTEN! Aber sofort.

Wie hoffentlich noch erinnerlich, hatte Inge Viett erwogen, ja gebilligt, gegen Kriegsmaßnahmen des deutschen Staates mit allen Mitteln vorzugehen - auch mit solchen, die nachher von staatswegen als Sachbeschädigung etc. verfolgt werden würden.

Immerhin - das ist dem Staatsanwalt zuzugeben - könnten sich bei der Lektüre der "jungen Welt", wo der Aufruf abgedruckt worden war, und den leibhaft beim Vortrag Zuhörenden einige befunden haben, die bisher noch zweifelig herumgoren, jetzt aber - nach Vietts Zuspruch - an entsprechende Handlungen dachten. DACHTEN. "Los! Schieß endlich!" Während das Gesetz an solche Aufforderungen in einer konkreten Situation gedacht hatte, welchen unmittelbar körperliche Handlungen folgten, wird hier eine abstrakte Überlegung zu Widerstandsformen kriminalisiert. Die Verfolgungsabsicht wird überdeutlich, die konkrete Tatwürdigung minimal.

Hinzu tritt das Fragwürdigste der gesetzlichen Bestimmung: die Äußerung muss den "sozialen Frieden" gefährdet haben. Den "sozialen Frieden"!! Wo gibt es den überhaupt? Inge Viett, aber auch außerordentlich viele andere - geht davon aus, dass auch die nach außen friedlichsten Gesellschaften immer und von vornherein vom Klassenkampf durchzogen und beherrscht sind. Wo versteckt sich da der arme Friede, der juristisch bandagiert werden soll?

Konkret hatte Inge Viett in ihrer Verteidigungsrede darauf hingewiesen, dass vor allem Krieg diese Zerrissenheit der Menschheit im Klassenkampf manifestiert. Nicht als Begriff, nicht als böse Rede, sondern als zehrende, fressende Tatsache, die ganze Länder verwüstet. Und selbst unsere heiligsten Abgeordneten hie und da zum gemeinsamen Abtropfen im Bundestag zwingt.

Hinzu kommt eins: wenn die Staatsanwaltschaft ihre juristisch aufgesteilte Sittlichkeit wirklich ernst nähme, käme sie aus entsprechenden Prozessen gar nicht mehr heraus. Ich zum Beispiel lese - um ja nicht einseitig zu werden - jeden Tag die WELT. Da war vor einer Woche ungefähr jeden Tag einmal zu lesen, dass jetzt endlich gegen Iran losgeschlagen werden müsse. Es war vielleicht ein wenig vorsichtiger ausgedrückt, aber doch niemals weit von dem entfernt, was man Kriegshetze nennt. Wenn man die Naivität besäße, etwas ernstzunehmen aus diesem Potpourri, wäre mindestens ein Beitrag im Kommentar der WELT fällig gewesen wären. Dann ein Brief an den Abgeordneten. Schließlich Auflegen einer Sammel-Liste für den Krieg gegen die Imame. Der innere und äußere Friede also empfindlich gestört.

Dies keineswegs als Aufforderung zu verstehen, an allen möglichen Stellen die juristische Keule zu heben. Im Gegenteil! Es soll nur gezeigt werden, dass das Gesetz - universell ausgeweitet und angewendet - jede Diskussion verhindern würde. Nicht nur die linke! Nein, auch die gehässige der rechten Feuerschnauber! Deshalb muss die Verurteilung weg.

Nicht besonders viele Abgeordnete der LINKEN haben sich in der gleichen Nummer der "jungen Welt" hinter Inge Viett gestellt - darunter Karin Binder, MdB Karlsruhe - und Ulla Jelpke. Gibt es Gründe für das Fehlen anderer?

Das Wichtigste nämlich: wenn solche Urteile durch die Instanzen hindurch Bestand haben, dann wird gerade in aufgeregten Situationen, in denen vom "sozialen Frieden" keine Rede mehr sein kann, jeder ernstgemeinte Diskussionsbeitrag potentiell unter Strafe stehen. Etwa in Stuttgart - nach dem nächsten Sonntag. Der Ausgang ist offen, aber absehbar. Wenn dann am Montag darauf immer noch demonstriert wird - immer noch recht laut in Ansprachen gefordert werden wird, nicht gleich klein beizugeben - werden wir dann nicht alle uns entsprechenden Anklagen gegenübersehen? Und es muss da nicht bei den 1200 Euro bleiben! Es kann bis zu einem Jahr Knast abfallen.

Solidarität mit Inge Viett!

Revolution denknotwendig, aber unmöglich? Zwei Lücken in Inge Vietts Revolutionsentwurf

Bei der diesjährigen Rosa-Luxemburg Konferenz am Vorabend der LLL Demonstration in Berlin ist von den Veranstaltern mutig auch Inge Viett eingeladen worden, um mitzudiskutieren über politische Ziele in der Bewegung. Bekantlich wurde gerade sie von Schlöndorf seinerzeit in einem Film aus der ernstzunehmenden Diskussion ausgeschlossen.

Dankenswerterweise hat "junge Welt" den Diskussionsbeitrag Inge Vietts vorabgedruckt.

Nachdem sie - mit gewissem Recht - die Mängel der drei herrschenden Linien aufgezeigt hat, entwickelt sie die eigene Linie.

Die Mängel: Die sich im gesetzlichen Rahmen bewegende Linie - vor allem die der LINKEN selbst - kommt naturgemäß nicht über die Repsektierung bis Anbetung des Gesetzes hinaus.

Die zweite - auf den gewerkschaftlichen Kampf bezogene - verfällt dem Schicksal des schon von Lenin diagnostizierten Trade-Unionismus.

Als am erfolgreichsten sieht Inge Viett noch an die Teilnahme an sektoriellen Kömpfen - wie gegen den Afghanistan-Einsatz - oder die Bahnhofszerstörung in Stuttgart - oder die erfolgreiche Teilabwehr der Castor-Transporte. Nur fehlt dabei regelmäßig der Klassenbezug. Man ist mit vielen zusammen: Gut. Man lässt jede / jeden, der mitmacht, eine gute Frau/ einen guten Mann sein: Nicht ganz so gut. Es wird nicht tiefer gegraben. Damit entfällt auch hier in den meisten Fällen der Klassenbezug.

Dann das interessante Konzept einer wirklich auf Revolution hinzielenden Organisationsform:
"Marxistisches Wissen, Kritikfähigkeit, linke Politik, ein linkes Parteiprogramm sind nicht identisch mit Klassenbewußtsein. Das ist Wissenschaft, eine fortschrittliche Geisteshaltung –“ aber kein Klassenbewußtsein. Klassenbewußtsein ist ein kämpferischer Antagonismus zur bürgerlichen Rechtsordnung, zur bürgerlichen Moral, zum bürgerlichen Pazifismus. Es ist die Emanzipation von der bürgerlichen Ideologie überhaupt und geht aus von der Legitimität des revolutionären Kampfes für die zukünftige Legalität der proletarischen Klasse. Überhaupt macht Klassenbewußtsein nur Sinn, wenn aus ihm ein bewußter Kampf zur Überwindung der Klassengesellschaft geführt wird. Alles andere ist Proletenkult.

Warum muß sich die marxistische Linke mit ihrer Stellvertreterpolitik für die Arbeiterklasse im Reformismus festfahren? Wenn die Werktätigen sich nicht politisch bewegen, weil sie in den Seilen ihres opportunistischen Gewerkschaftsapparates hängen, dann kann auch sie sich nicht bewegen und muß auf das Niveau der »Verteidigung demokratischer Rechte« zurückfallen. Ist diese Verteidigung nicht immer und ständig unser Alltagsprogramm?"


Beherrschend in dem Zusammenhang der konstruierte Gegensatz von "Wissenschaft" und "Klassenbewusstsein". Schon vorher fällt auf die Reklamierung von Lenin als "Revolutionär" - im Gegensatz zu seinen Eigenschaften als "Organisator" und "Imperialismustheoretiker".

Hätte aber Lenin nicht gründlich den Weg des Imperialismus über die kapitalistische Welt hin erforscht, wie hätte er den Mut finden können, die Revolution gerade in Russland auszurufen, dem rückständigsten Land innerhalb der imperialistischen Kohorte? Mit anderen Worten: Die "Wissenschaft" ist unablösbarer Bestandteil des Entschlusses zur Revolution, der in die Massen hineingetragen werden soll.

Ganz ähnlich steht es mit der abwertenden Nennung von "Wissenschaft" in der herangezogenen Textstelle Inge Vietts. Mitgedacht wäre nämlich unvermeidlich auch im Erfolgsfall der Revolution- dass -davor wie danach- eine Gruppe von "Wissenden" einer Gruppe von "tatkräftig handelnden" gegenüber bestehen bleibt. Ansatz der von Inge Viett sicher am meisten beklagten Funktionärsherrschaft -als angeblicher, aber verlogener Ausdruck der "Diktatur des Proletariats".

Wie aber könnten größere Teile des Proletariats Anteil an der Wissenschaft bekommen? Vielleicht noch am ehesten, wie Angelika Ebbinghaus in dem kürzlich besprochenen Sammelband es beschrieben hat als positives Erbteil des "Operaismus". ("Was bleibt vom Operaismus. (2007)")

Innerhalb dieser Bewegung wurden Arbeitergruppen ermuntert und aufgefordert, von innen - aus dem Arbeitsverhältnis selbst heraus - etwa die Auswirkungen des technischen Fortschritts - erweiterte Bänderfolge zum Beispiel - zu erkennen, zu beschreiben und auszutauschen. Damit käme die kollektive Erfahrung selbst zu Wort. Und zwar in einer nur so möglichen Erkenntnis- und Darstellungsweise, die dann über die Fabrik hinaus weitergetragen und diskutiert würde. In dieser Form gewänne das leninistische "Aus den Massen schöpfen - in die Massen hineintragen" eine neue produktive Bedeutung.

Auf diesem Wege ließe sich der Abstand zwischen denen, die Wissenschaft als toten Vorrat besitzen, und solchen, die Wissenschaft als lebendigen Prozess betreiben,einigermaßen verringern.

Ein zweiter Gesichtspunkt, aus der revolutionären Vergangenheit Inge Vietts verständlich, aber fast undurchführbar unter den gegebenen europäischen Verhältnissen, war die Forderung nach Geheimhaltung von Parteiführung und Parteifinanzen.

"Eine Organisation/Partei, kann zwar fortschrittlich, antikapitalistisch, marxistisch/leninistisch sein, aber nicht revolutionär, wenn sie nicht in bestimmten Bereichen (Kommunikation, Strukturen, Verantwortlichkeiten) klandestin ist"


Das scheint angesichts des übermächtig ausgebauten Geheimdienstapparats logisch, aber zugleich undurchführbar. Wie Inge Viett selbst ausführt, muss es erkannte Ansprechpartner mit Vor- und Nachnamen geben, um den Prozess des Schöpfens- Hineintragens aus den Massen überhaupt zu organisieren. Meiner Kenntnis nach arbeitete auch im vorrevolutionären Russland der einzelne Revolutionär anonym, die Parteiführung(en) selbst müssen aber bekannt gewesen sein. Geholfen hat damals eine Einrichtung, die sämtliche Staaten weitgehend abgeschafft haben: Das Asyl. Von der Schweiz aus arbeitete Lenin, wenig beunruhigt.

Wo gäbe es das heute noch, nachdem gerade das ehemalige Zufluchtsland aller Flüchtlinge, die Schweiz, Flüchtlinge und Asylanten am schlimmsten bedroht. Der Fall liegt hier ganz anders als bei der Forderung des "comité" nach geheimem Vorgehen der Revolutionäre. "Der kommende Aufstand" setzt Massen gar nicht voraus, die ihm nachfolgen und beistehen könnten. Insofern entfällt Adressennotwendigkeit.

Man darf auf die Diskussion am 7.1.2011 gespannt sein. Inge Viett hat die Denknotwendigkeit einer Revolution so klar wie nur jemand herausgearbeitet.

Damit aber auch ihre Denk-Unmöglichkeit in der gegenwärtigen Epoche?

Vielleicht ist mir etwas entgangen in ihrer Darlegung? Es wäre zu hoffen.
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