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kritisch-lesen.de Nr. 41: Medien und Gegenöffentlichkeit

Foto: Continental Standard. Ausschnitt, Sommeregger, Cc-by-sa-3.0, GFDL

Die aggressiven Sprechchöre von Pegida und Co. haben sich in den letzten Monaten in das öffentliche Bewusstsein eingegraben. Und sie haben den hiesigen Abendlandverteidiger_innen ein zentrales Schlagwort geliefert, um sich in den Medien und der Politik zu positionieren: „Lügenpresse“. Journalist_innen sind neben Flüchtlingen das wichtigste Feindbild der Rechten in Deutschland. Linke wissen das –“ eigentlich. Sie wissen, dem Vorwurf der Lügenpresse haftet etwas Verschwörungsmythisches an, sie wissen, die Kampfparole von der Lügenpresse ist verkürzt, sie wissen, dass es sich die Gröhlenden auf den Straßen zu einfach machen.

Doch: In der Abwehr der rechten Medienverteufelung finden sich Linke schnell als Verteidiger_innen der bürgerlichen Medien wieder. Dabei ist linke Medienkritik seit jeher ein wichtiger Bestandteil in der Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaft. Und sie ist notwendig: Kritische Stimmen in Bezug auf das deutsche Diktat gegen die griechische Bevölkerung kamen in der Mainstream-Presse fast nicht vor; gerade zu Beginn der Ukraine-Krise übertrafen sich öffentlich-rechtliches Fernsehen und die großen Tageszeitungen in der Dämonisierung Russlands; als die GDL streikte, wurde der GDL-Chef Claus Weselsky in bester kalter-Krieg-Rhetorik an den Pranger gestellt.

Aktuellstes Beispiel: Als aus Bautzen im September Berichte über Auseinandersetzungen zwischen Asylsuchenden und organisierten Rechten öffentlich wurden, schien für viele Medien die Sachlage klar: Flugs wurde aus Berichten der Polizei übernommen, dass die Gewalt von den jugendlichen Geflüchteten ausging. 20 von ihnen hätten, ohne Vorgeschichte, eine Gruppe von über 80 Rechten, viele von ihnen organisierte Nazis, angegriffen. In einem kritischen Kommentar zur Berichterstattung heißt es: „Die öffentliche Darstellung der Ereignisse in Bautzen grenzt an unterlassene Hilfeleistung und Anstiftung zum Pogrom. Sie deckt die eigentlichen Täter.“

Aber wie kann eine linke Medienkritik vor dem Hintergrund des aktuellen Medienwandels und unter zunehmend prekären Bedingungen überhaupt funktionieren? Einst verstanden viele Linke mit Lenin die progressive Presse als kollektiven Propagandisten, Agitator und Organisator. Doch die meisten linken Presseorgane sind heute „unabhängig" von konkreten Organisationen –“ und damit losgelöst von konkreten politischen Projekten. Das Internet verändert außerdem die Debatte um eine linke „Gegenöffentlichkeit“. Neue Medienakteure, die als Blogger_innen, Twitternde und Facebook-Aktivist_innen unterwegs sind, mögen kurzzeitig den engen Medienkorridor der bürgerlichen Medienlandschaft verlassen. Jedoch sollte einer Vereinzelung linker Meinungen ein starker, kollektiver Diskussionsprozess entgegengesetzt werden. Wie das funktionieren kann –“ vor allem unter Berücksichtigung prekärer Produktionsbedingungen –“ ist eine wichtige Frage und große Herausforderung für eine wirksame Gegenöffentlichkeit.

Kritisch-lesen. de möchte dazu beitragen, diese Diskussion anzuregen und weiter zu führen. Unsere 41. Ausgabe widmet sich deshalb dem Schwerpunkt „Medien und Gegenöffentlichkeit“ –“ und wartet wie gewohnt mit Interview, Essay und natürlich vielen Rezensionen auf. Viel Spaß beim kritischen Lesen!

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kritisch-lesen.de Nr. 38: Asylpolitik: Wider die Bewegungsfreiheit

Refugee Schul- und Unistreik gegen Rassismus in Berlin
Foto: Christina Palitzsch, Umbruch-Bildarchiv, Berlin
„Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland noch tragen?“ So lautet wohl eine der häufigsten Fragen, die aktuell durch Medien, Politik und Gesellschaft geistern. Bilder von „Flüchtlingsströmen“, die die Grenzen Europas überschreiten und nach Deutschland einreisen wollen, sind überall präsent. Das Boot ist mal wieder voll. Unterteilt werden Flüchtlinge nach denen, die „asylwürdig“ sind, und denen, die angeblich das Recht auf Asyl missbrauchen. Hinzu kommt: Seit den Anschlägen im November in Paris ist die Debatte (mal wieder) von antimuslimischen Stereotypen geprägt, schließlich könnte jeder eingereiste Syrer auch ein Terrorist sein. Grund genug eine europäische Abschottungspolitik zu legitimieren und auszubauen. Gleichzeitig machen Bilder von engagierten Bürgern die Runde, die ehrenamtlich die zahlreichen „wirklichen“ Flüchtlinge mit Bonbons und Blumen willkommen heißen. Das Dilemma ist offensichtlich: Angesichts der aktuellen Verhältnisse ist - auch individuelle, vermeintlich unpolitische - Unterstützung notwendig. Gleichzeitig können staatliche Stellen die Unterstützung nutzen, um öffentliche Aufgaben an Privatpersonen zu delegieren und Willkommenspatriotismus zu propagieren. Brennende Wohnheime, menschenunwürdige Lebensbedingungen, institutioneller Rassismus und alltägliche Hetze gegen Geflüchtete werden nur zu oft unter den schwarz-rot-goldenen Teppich der Menschlichkeit gekehrt. Von Lagerunterbringung, Kriminalisierung und Übergriffen durch Bürgerwehren spricht kaum jemand. Zwar berichten Medien über Zusammenschlüsse wie Pegida, jedoch nur als ein Problem abseits von der Mitte der Gesellschaft: Das hat doch nichts mit uns zu tun!

Auch die jüngsten repressiven Gesetzesänderungen wie das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz und das Entlastungsbeschleunigungsgesetz, die die Lebenssituation von Geflüchteten noch einmal stark verschlechtert haben, sind nur partiell bekannt. Für die Lebenssituation derjenigen, die aus vermeintlich „sicheren Herkunftsstaaten“ nach Deutschland kommen, interessiert sich kaum jemand. Schließlich sind hier oft Sinti und Roma betroffen, die in Anbetracht des nicht neuen Antiziganismus ohnehin wenig Lobby haben. Und schließlich bleibt ein Thema weitgehend ausgeblendet: Fluchtursachen. Waffenexporte, Kriegsbeteiligung - Deutschland und Europa sind direkt involviert in Kriege und Konflikte. Verantwortlich werden sie jedoch nicht gemacht. Die Opferrolle mimen diese Akteure aber mit voller Inbrunst.

Aus einer linken Perspektive ist es vor diesem Hintergrund wichtig, das Thema der deutschen Asylpolitik wieder mehr in den Fokus der Auseinandersetzung zu rücken. Es geht darum die rassistische Unterteilung zwischen nützlichen und nicht asylwürdigen Menschen zu benennen. Während auf der einen Seite die erleichterte Erteilung einer Arbeitserlaubnis gefordert wird, ermöglichen die aktuellen Verschärfungen schnellere Abschiebungen. Auch die Widersprüche zwischen einer Kritik an individueller Unterstützung bei gleichzeitiger Notwendigkeit werfen alltäglich neue Fragen an Linke auf. Deutsche Asylpolitik ist zuletzt erst dann zu fassen, wenn innereuropäische Grenz- und Abschottungspolitiken in eine Analyse miteinbezogen und angegriffen werden. Ein Blick über den nationalstaatlichen Tellerrand ist notwendig, um deutsche Asylpolitik zu erklären.

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kritisch-lesen.de Nr. 37: Antifa anders machen!

Antifaschistischer Protest in Edinburgh
Foto: Mohammed Abushaban
Lizenz: CC BY-SA 3.0
Deutschland im Herbst 2015: Willkommensinitiativen, Prominente, kleine und große Unternehmen, die Bundeskanzlerin, die Bahn, die Bild, alle wollen den Flüchtlingen helfen. Es scheint sich etwas geändert zu haben in dieser Gesellschaft: Deutschland einig Einwanderungsland − einig? Auf den Demonstrationen der Pegida in Dresden versammeln sich nach der Sommerpause wieder Tausende, um gegen Geflüchtete und gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes zu protestieren. Beinahe täglich brennen bundesweit geplante oder bereits eröffnete Flüchtlingsunterkünfte. In Arbeiterbezirken und Reichen-Ghettos organisieren sich Menschen, damit ja keine Flüchtlinge in ihre Nachbarschaft ziehen. Ob in bürgerlichem Gewand, im Tarnanzug des „besorgten Bürgers“ oder in Neonazi-Kluft: Es läuft derzeit bei den Rechten in Deutschland. Vor diesem Hintergrund erscheinen einige Fragen, die sich Linke in den vergangenen Jahren häufig gestellt haben, zunächst abwegig: Braucht es überhaupt noch eine Antifa-Bewegung, hat sich das »Konzept Antifa« überholt, haben wir uns zu intensiv mit der extremen Rechten beschäftigt? Und doch zeigen auch die aktuellen Entwicklungen, dass sich Antifa in einer Krise befindet. Die Organisation des Selbstschutzes gegen militante Neonazis, so wichtig sie ist, war zu lange für viele Gruppen Zweck genug. Eine wichtige Erkenntnis der bisherigen Debatte über Antifa ist für uns daher, dass die Dynamik der Gesellschaft im Mittelpunkt stehen muss, die ökonomischen und sozialen Verhältnisse Ausgangspunkt antifaschistischer Politik sein sollten. Wenn wir das ernst nehmen, was wären aktuell Aufgaben, vor dem die (Post-)Antifa-Bewegung steht?

Inmitten des vermeintlich offenen gesellschaftlichen Konflikts zwischen „Flüchtlingsgegnern“ und „Unterstützern“ gibt es bereits Versuche, einen Konsens zwischen beiden Lagern zu schaffen. Die Bundesregierung beschloss im Schatten von „Willkommenskultur“ und rassistischem Protest die Asylrechtsverschärfung und erklärte Staaten, in denen offenkundig Menschen rassistisch diskriminiert werden, zu sicheren Herkunftsstaaten. Diesen Konsensversuchen gilt es entschieden zu entgegnen. Auch reicht eine antifaschistische Praxis nicht aus, die bloß die rechte, rassistische Einstellung der einzelnen Person fokussiert. Es muss auch geschaut werden, wer von Rassismus profitiert. Es gibt bereits Vorstöße, den Mindestlohn auszuhebeln, um Flüchtlinge besser ausbeuten zu können. Unter den sich formierenden Rechten sind auch Menschen, die sich selbst in einer beschissenen sozialen Lage befinden und ihre Wut in die falsche Richtung kanalisieren. Und auch die Profiteure der Fluchtgründe geraten allgemein gerne aus dem Blick: Die deutsche Rüstungsindustrie verdient weiterhin fleißig am Krieg; im nahen und mittleren Osten richten Regime ihre Waffen auf ihre Bevölkerung; Imperialisten aus Ost und West mischen kräftig mit; von den Folgen von jahrhundertelanger weltweiter Ausbeutung von Mensch und Umwelt mal ganz abgesehen.

Antifaschismus hat sich keineswegs überholt, dennoch bedarf es einer grundlegenden Erneuerung − und einer Einbettung des Antifaschismus in eine allgemeine antirassistische, klassenkämpferische, internationalistische Praxis.

Mit dieser Ausgabe wird es eine neue Rubrik geben. In „Wiedergelesen“ besprechen unsere Autor_innen Klassiker kritischer Literatur und Wissenschaft. Damit wollen wir verschüttetes Wissen wieder ans Tageslicht holen und Werke auf ihre Aussagekraft im neuen historisch-gesellschaftlichen Kontext prüfen. Den Anfang machen Christin Bernhold und Christian Stache mit dem Hauptwerk des U.S.-amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein „Das moderne Weltsystem“. In den vier Bänden dieses monumentalen Opus, die im englischen Original zwischen 1974 und 2011 erschienen sind, analysiert er die Geschichte des kapitalistischen Weltsystems von seinen Anfängen Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

Die nächste Ausgabe erscheint am 5. Januar und wird sich im Schwerpunkt mit dem Thema „Flucht und Asyl“ befassen. Wir stecken schon mitten in der Produktion. Parallel grübeln wir bereits über unsere 39. Ausgabe, die im April erscheinen wird. Darin wollen wir uns der EU widmen. Für Buchtipps, Rezensionsvorschläge und weitere Hinweise sind wir offen. Schreibt uns gerne: info[at]kritisch-lesen.de.

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kritisch-lesen.de Nr. 35: Leben und Sterben

Foto: © Matthias Rude
Gemeinhin machen wir Menschen der westlichen Welt uns –“ solange wir jung und/oder gesund sind –“ nur wenige Gedanken über den Tod. Es lebt sich ja so gut und schön ohne ihn. Aber „gestorben wird immer“ –“ unsere Vergänglichkeit ist Lebensrealität. Ob wir dabei den Tod als biologischen Tatbestand einordnen oder ihm in religiöser, moralisch-ethischer, rechtlicher oder psychologischer Hinsicht Bedeutung verleihen: Untergründig ist er allgegenwärtig und wirft viele Fragen auf. Wie werden Sterbeprozesse von den Individuen selbst gestaltet? Wie wird der Prozess des Sterbens biopolitisch organisiert und verwaltet? Und nicht zuletzt: Wie geht man mit der unausweichlichen Endlichkeit der eigenen Existenz um, mit der Angst, keine Spuren zu hinterlassen? Der Soziologe Norbert Elias hat einst den Tod als „Problem der Lebenden“ definiert: Er entreißt einem sozialen Umfeld einen Menschen und gibt ihn nicht wieder her. Allerdings gibt es klare Unterschiede zwischen dem Sterben als individuellem Akt (etwa im Alter oder bei Krankheit) und einem kollektiven Sterben (durch Kriege, Massenvernichtung, Hungersnöte), vor allem bei der Frage: Wer oder was ist für das Sterben verantwortlich? Von welchen Toten nehmen wir Notiz? Mit der aktuellen Ausgabe von kritisch-lesen.de wollen wir die politischen wie sozialen Bedingungen des Sterbens aufzeigen, indem wir darüber sprechen, inwiefern die „Gleichheit vor dem Tode“ nur eine scheinbare ist: Tod und Sterben sind untrennbar mit den Lebensbedingungen der Menschen verknüpft. Wir haben uns gefragt: Wie verhält sich die Linke eigentlich zum Themenfeld Sterben und Tod? Klar scheint zu sein, dass es im salonfähigen Diskurs nur bestimmte Darstellungen des Todes gibt, während zeitgleich eine Verdrängung anderer Realitäten stattfindet –“ etwa der, dass der Tod immanenter Begleiter des Kapitalismus ist. Vielmehr geschieht eine Ausblendung von strukturellen Ursachen, die ihre Wurzeln innerhalb der kapitalistischen westlichen Gesellschaften haben. Welche Toten werden also gesehen –“ und welche scheinen im gesellschaftlichen Wissen nicht zu existieren?

In Politik und Wirtschaft wird ein Menschenbild propagiert, welches von jedem Einzelnen erwartet, sich flexibel, vorsorgend und eigenverantwortlich zu verhalten –“ auch was den Umgang mit Alter, Sterben und Tod anbelangt. Menschen müssen effizient funktionieren, die leistungsorientierte kapitalistische Warengesellschaft verdrängt und verbannt Tod und Sterblichkeit aus dem Alltag. Damit werden Armuts- und Eigentumsverhältnisse und andere Ungleichheitsstrukturen ausgeblendet. Gleichzeitig lässt sich hierzulande eine zunehmende Debatte um individualisiertes und selbstbestimmtes Sterben feststellen, um Inszenierungen von Tod und Vergänglichkeit, aber auch um das „würdevolle“ Abschied nehmen im Alter, um Palliativmedizin und Patientenverfügungen. Mit der heute verbreiteten Personalisierung des Todes geht also auch eine Individualisierung und Emotionalisierung einher –“ ein weites Feld, in dem sich auch Religion, imaginierte Postmortalität und Esoterik pudelwohl fühlen.

Herbert Marcuse lehnt in seinem Essay „Ideologie des Todes“ die Ansicht ab, der Tod gehöre zum Leben. Für ihn bedeutet ein Leben in Freiheit, den Tod der menschlichen Autonomie zu unterwerfen, diese „Fremdherrschaft“ nicht hinzunehmen. Was aber geschieht, wenn ein Mensch am Leben scheitert? In verschiedenen Veröffentlichungen wird der Suizid als eine Ambivalenz der Freiheit behandelt. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem frei gewählten Tod, der als Handlung aus Unfreiheit heraus gesehen werden kann: Ein Plädoyer dafür, dass ein „Nein!“ zu einem Leben innerhalb dieser menschenverachtenden Welt ebenso gelten muss wie ein bejahender Bezug zur eigenen Existenz. Andernorts wird die Zurückeroberung des Todes kämpferischer thematisiert: Jean Ziegler fordert eine „Reintegration des Todes in das westliche Kollektivbewusstsein“, denn nur mit dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit ließe sich die Freiheit des Einzelnen überhaupt realisieren. Die Verhältnisse, unter denen die Menschen leiden, sind leider nicht mit einem Mal zu ändern. Dennoch bleibt das Greifen nach der Utopie: Eine (sozialistische) Gesellschaft, in der Sterben nicht mehr verdrängt wird und der Tod als „technische Grenze“ der Freiheit eines selbstbestimmten Lebens gesehen werden kann. Die vielfältige Kritik am hegemonialen Sterbe- und Todesdiskurs und die Entwicklung eines anderen Umgangs mit Sterblichkeit und Tod gehören also als Teil einer emanzipatorischen Praxis zusammen. Es gilt die knappe Aufforderung, die Marcuse auf seinem Grabstein an die Nachgeborenen richtet: „Weitermachen!“

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kritisch-lesen.de Nr. 23: Arabische Revolutionen

Szene bei der sog. "Sicherheitskonferenz" in München, 2009
Im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ gingen in Ländern Nord-Afrikas und des Nahen Ostens zahlreiche Menschen auf die Straße. Die Proteste richteten sich dabei mehrheitlich gegen soziale Missstände und politische Unterdrückungen. Dabei kam es in manchen Ländern zu revolutionären Umstürzen, in anderen Ländern waren die Proteste weitaus begrenzter. Die Proteste überraschten, schließlich waren die Vorstellungen in Deutschland bislang durch ein Bild Nord-Afrikas und des Nahen Ostens als rückschrittlich und anti-emanzipatorisch geprägt. In hegemonialen Medien wurden sie jedoch zunächst begeistert aufgenommen. Dabei wurde verstärkt auf die Idee der „arabischen Welt“ zurückgegriffen, die sich von „dem Westen“ abgrenzt. Positiver Bezug wurde vor allem auf die Entwicklungen in Ägypten, Libyen und Tunesien genommen. Syrien wurde aufgrund der politischen Entwicklungen zunehmend als Bürgerkriegsland beschrieben. Auf andere Länder Nord-Afrikas wurde in der Vergangenheit weniger Bezug genommen. Die Verantwortlichkeit deutscher Außenpolitik am Machterhalt der jeweiligen Regime wird dabei oft unter den Teppich gekehrt. Vielmehr wird zunehmend die Verantwortung der Bundesregierung betont, am Aufbau demokratischer Strukturen und marktwirtschaftlicher Reformen zu helfen. Während Deutschland als demokratischer Staat behandelt wird, scheint in Ländern Nord-Afrikas dieser Prozess der Demokratisierung noch bevor zu stehen.

Im vergangenen Jahr wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Publikationen veröffentlicht, die sich mit den arabischen Revolutionen befassen. Andrea Strübe rezensiert das Buch „Arabischer Frühling“ von Tahar Ben Jelloun - eine Monographie, die die Verantwortung europäischer Staatschefs am Machterhalt der repressiven Regime Nord Afrikas und des Nahen Ostens hervorhebt. Anschließend widmet sich Philipp Jedamzik dem Buch „Leben als Politik“ von Asef Bayat, der die Alltagshandlungen von strukturell marginalisierten Menschen in den urbanen Zentren des Nahen Ostens fokussiert und nach dem gesellschaftlichen Veränderungspotential fragt, welches diesen Handlungen innewohnt. Sara Madjlessi-Roudi rezensiert den Sammelband „Die arabische Revolution“ von Frank Nordhausen und Thomas Schmidt, der Analysen zum Protest in elf Ländern umfasst. Dem folgend betrachtet Sebastian Kalicha das Buch „Tahir und kein zurück“ von Juliane Schumacher und Gaby Osman. Er sieht darin eine gelungene linke Analyse, die sich der bisherigen Berichterstattung deutscher Medien widersetzt und Hintergrundinformationen zu den revolutionären Ereignissen in Ägypten vermittelt. Eine weitere Analyse aus linker Perspektive schließt sich dem an: Sibille Merz rezensiert eine Sonderausgabe zu den arabischen Revolutionen der Monatszeitung Analyse und Kritik.

Den Anfang bei den Rezensionen außerhalb des Schwerpunkts macht Ismail Küpeli, der den Sammelband „Die EU in der Krise“ der Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ bespricht, ein Sammelband, der Grundlegendes für eine kritische Europaforschung und zu autoritären Tendenzen in der Krise vermittelt. Adi Quarti gibt in seiner Rezension „Was sollte man unbedingt lesen?“ einen Einblick in den Roman „Manetti lesen - oder vom guten Leben“ des Autors P.M., dessen neuestes Werk sich zwischen ein wenig zu viel Utopie und einer Chronik des Widerstandes bewegt. Aus der Nomos-Reihe Staatsverständnisse bespricht Maximilian Pichl „Der Nomos der Moderne“ – ein Sammelband zu den Arbeiten Giorgio Agambens. Die Beiträge schließen laut dem Rezensenten zwar an zentrale Theoreme Agambens an, hinterfragen diese jedoch auch kritisch und zeigen Leerstellen auf. Warum Wirtschaft mehr ist als Mathematik, zeigt Patrick Schreiner zufolge Tomáš Sedláček in „Die Ökonomie von Gut und Böse“. Sedláčeks Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften sei allerdings nicht aus einer linken Perspektive verfasst und dementsprechend fehle eine Kritik des Neoliberalismus. Friedrich Engels Analysen zum Staat widmet sich eine weitere Publikation in der Reihe Staatsverständnisse, der es Rezensent Philippe Kellermann zufolge jedoch an einer umfassenden historischen Kontextualisierung mangelt.

Weiterlesen in der am 06. November erschienenen 23. Ausgabe.

kritisch-lesen.de Nr. 11 - "Debatten und Praxen des Anarchismus"

Am 1. November erschien die 11. Ausgabe von kritisch-lesen.de. Schwerpunkt diesmal: "Debatten und Praxen des Anarchismus".

Schwerpunktmäßig geht es in acht von insgesamt zwölf Rezensionen um Debatten und Praxen des Anarchismus. Die elfte kritisch-lesen-Ausgabe ist der erste Teil eines (vorläufig) zweiteiligen Schwerpunktes zum Thema Anarchismus. Er ist auch der erste Schwerpunkt, der überwiegend von Autor_innen aus dem Autor_innen- und Sympathisant_innen-Kreis (ASK) geplant und zusammengestellt wurde. Der zweite Anarchismus-Schwerpunkt –“ soviel sei vorweg verraten –“ wird im April 2012 erscheinen und sich mit „Zeugnissen“ des Anarchismus beschäftigen. Darunter verstehen wir (Auto)biografien, Memoiren, Werksammlungen, Tagebücher, etc. Die erste Anarchismus-Ausgabe beschäftigt sich mit vielerlei unterschiedlichen Debatten und Praxen des Anarchismus und ist ebenso pluralistisch und heterogen wie der Anarchismus selbst.

Den Beginn macht Sebastian Friedrichs Rezension Sehhilfe für Vielschichtigkeit des Anarchismus über das Buch Hier und Jetzt von Uri Gordon. Das Buch und die Rezension nähern sich der gegenwärtigen anarchistischen Bewegung im Kontext der globalisierungskritischen Bewegung von vielen verschiedenen Richtungen und Blickwinkeln. Weiter geht es mit einem zweiten Buch voll anregender Reflexionen zum Anarchismus in Theorie und Praxis: Regina Wamper stellt in Verteidigung des Anarchismus Überlegungen zu Gabriel Kuhns Buch Vielfalt –“ Bewegung –“ Widerstand an. Um dem Vergessen weniger bekannter Anarchist_innen entgegenzuwirken, hat der Wanderverein Bakuninhütte e.V. eine Gedenkschrift zu Fritz Scherer veröffentlicht. Sebastian Kalicha bespricht diese Schrift in Der Anarchist und der Alpenverein. Etwas theoretischer wird es bei Gabriel Kuhns Rezension Anarchismus Old School zu Hans Jürgen Degens Buch Das Paradies ist offen, in der Kuhn die Frage stellt, wie innovativ die in dem Buch dargelegten Gedanken tatsächlich sind. Eine historische und theoretische Abhandlung zum Anarchafeminismus –“ einem besonders wichtigen Thema in der anarchistischen Bewegung –“ findet sich in Der doppelte Kampf von Regina Wamper: Sie bespricht das deutschsprachige Standardwerk zum Thema von Silke Lohschelder, Liane M. Dubowy und Inés Gutschmidt. Gabriel Kuhns zweite Rezension Vorkriegsantifa beschäftigt sich mit einem historischen Thema des deutschen Anachosyndikalismus: der anarchosyndikalistischen Arbeiterwehr Schwarze Scharen, die gegen den Faschismus in Deutschland Widerstand leistete. Philippe Kellermann hat schließlich die bahnbrechende Studie zu Bakunins Konflikt mit Marx von Wolfgang Eckhart rezensiert, wobei er nach der Lektüre satter 1239 Seiten zu einer Reihe interessanter Schlussfolgerungen kommt. Wie dieser epochale Aufeinanderprall zweier unterschiedlicher Auffassungen des Sozialismus in einem anderen Teil der Welt tragische Realität wurde und welche Auswirkungen dies hatte, bespricht Sebastian Kalicha in seiner Rezension Bakunin versus Marx auf kubanisch.

Darüber hinaus hat die Redaktion vier weitere Rezensionen zu anderen Themen ausgewählt. Zunächst bespricht Heinz-Jürgen Voß in Vom Gay Pride zum White Pride den von Koray Yilmaz-Günay herausgegebenen Band „Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre –šMuslime versus Schwule–™“, in dem die Autor_innen am Beispiel Berlin rassistische Entwicklungen nachzeichnen, wenn etwa Kriege und Menschenrechtsverletzungen mit dem Kampf für Rechte von Homosexuellen und Frauen begründet werden. Anschließend richtet Fritz Güde anhand des Buchs Die arabische Revolution? von Bernhard Schmid den Blick auf Nordafrika und die Frage, wie sich die Lage dort fern von vorherrschenden Medienberichten darstellt. Adi Quarti geht in Gewalt und Nichtstun Slavoj Zizeks „abseitigen Reflexionen“ zu Gewalt auf den Grund. Schließlich kritisiert Fritz Güde in Entbeintes in Brühe Götz Alys Versuch, den deutschen Antisemitismus aus dem Neid zu erklären.

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Viel Spaß beim kritischen Lesen!

Hier gehts zur Ausgabe: http://www.kritisch-lesen.de/2011/11/debatten-praxen-des-anarchismus/
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