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Krieg dem Kriege

Kurt Tucholsky in Paris, 1928 (Foto: Sonja Thomassen / WikiMedia)
Sie lagen vier Jahre im Schützengraben.
Zeit, große Zeit!
Sie froren und waren verlaust und haben
daheim eine Frau und zwei kleine Knaben,
weit, weit –“!

Und keiner, der ihnen die Wahrheit sagt.
Und keiner, der aufzubegehren wagt.
Monat um Monat, Jahr um Jahr ...

Und wenn mal einer auf Urlaub war,
sah er zu Haus die dicken Bäuche.
Und es fraßen dort um sich wie eine Seuche
der Tanz, die Gier, das Schiebergeschäft.
Und die Horde alldeutscher Skribenten kläfft:
"Krieg! Krieg!
Großer Sieg!
Sieg in Albanien und Sieg in Flandern!"
Und es starben die andern, die andern, die andern ...

Sie sahen die Kameraden fallen.
Das war das Schicksal bei fast allen:
Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod.
Ein kleiner Fleck, schmutzigrot –“
und man trug sie fort und scharrte sie ein.
Wer wird wohl der nächste sein?

Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen.
Werden die Menschen es niemals lernen?
Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt?
Wer ist das, der da oben thront,
von oben bis unten bespickt mit Orden,
und nur immer befiehlt: Morden! Morden! –“
Blut und zermalmte Knochen und Dreck ...
Und dann hieß es plötzlich, das Schiff sei leck.
Der Kapitän hat den Abschied genommen
und ist etwas plötzlich von dannen geschwommen.
Ratlos stehen die Feldgrauen da.
Für wen das alles? Pro patria?

Brüder! Brüder! Schließt die Reihn!
Brüder! das darf nicht wieder sein!
Geben sie uns den Vernichtungsfrieden,
ist das gleiche Los beschieden
unsern Söhnen und euern Enkeln.
Sollen die wieder blutrot besprenkeln
die Ackergräben, das grüne Gras?
Brüder! Pfeift den Burschen was!
Es darf und soll so nicht weitergehn.
Wir haben alle, alle gesehn,
wohin ein solcher Wahnsinn führt –“

Das Feuer brannte, das sie geschürt.
Löscht es aus! Die Imperialisten,
die da drüben bei jenen nisten,
schenken uns wieder Nationalisten.
Und nach abermals zwanzig Jahren
kommen neue Kanonen gefahren. –“

Das wäre kein Friede.
Das wäre Wahn.

Der alte Tanz auf dem alten Vulkan.
Du sollst nicht töten! hat einer gesagt.
Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.
Will das niemals anders werden?
Krieg dem Kriege!

Und Friede auf Erden.

Ignatz Wrobel (* 9. Januar 1890 in Berlin; –  21. Dezember 1935 in Göteborg), unter dem Pseudonym Theobald Tiger veröffentlicht in Ulk, Jg. 48, Nr. 24 vom 13. Juni 1919, Seite 2

Ignatz Wrobels Blick in die ferne Zukunft

Kurt Tucholsky in Paris, 1928 (Foto: Sonja Thomassen / WikiMedia)

. . . Und wenn alles vorüber ist -; wenn sich das alles totgelaufen hat: der Hordenwahnsinn, die Wonne, in Massen aufzutreten, in Massen zu brüllen und in Gruppen Fahnen zu schwenken, wenn diese Zeit-krankheit vergangen ist, die die niedrigen Eigenschaften des Menschen zu guten umlügt; wenn die Leute zwar nicht klüger, aber müde geworden sind; wenn alle Kämpfe um den Faschismus ausgekämpft und wenn die letzten freiheitlichen Emigranten dahingeschieden sind -: dann wird es eines Tages wieder sehr modern werden, liberal zu sein.

Dann wird einer kommen, der wird eine gradezu donnernde Entdeckung machen: er wird den Einzelmenschen entdecken. Er wird sagen: Es gibt einen Organismus, Mensch geheißen, und auf den kommt es an. Und ob der glücklich ist, das ist die Frage. Daß der frei ist, das ist das Ziel. Gruppen sind etwas Sekundäres - der Staat ist etwas Sekundäres. Es kommt nicht darauf an, daß der Staat lebe - es kommt darauf an, daß der Mensch lebe.

Dieser Mann, der so spricht, wird eine große Wirkung hervorrufen. Die Leute werden seiner These zujubeln und werden sagen: «Das ist ja ganz neu! Welch ein Mut! Das haben wir noch nie gehört! Eine neue Epoche der Menschheit bricht an! Welch ein Genie haben wir unter uns! Auf, auf! Die neue Lehre -!»

Und seine Bücher werden gekauft werden oder vielmehr die seiner Nachschreiber, denn der erste ist ja immer der Dumme.

Und dann wird sich das auswirken, und hunderttausend schwarzer, brauner und roter Hemden werden in die Ecke fliegen und auf den Misthaufen. Und die Leute werden wieder Mut zu sich selber bekommen, ohne Mehrheitsbeschlüsse und ohne Angst vor dem Staat, vor dem sie gekuscht hatten wie geprügelte Hunde. Und das wird dann so gehen, bis eines Tages . . .

Ignatz Wrobel (* 9. Januar 1890 in Berlin; –  21. Dezember 1935 in Göteborg)
Erstveröffentlichung in: Die Weltbühne, 28.10.1930, Nr. 44

Kurt Tucholsky: Lorbeeren der herrschenden Klasse. Für Max Hoelz

Max Hoelz
Von Bundesarchiv, Bild 183-L1129-511 / CC-BY-SA 3.0
Aus Anlass des 131. Geburtstages von Max Hoelz folgt Kurt Tucholskys für ihn verfasstes Gedicht "Lorbeeren der herrschenden Klasse". Mehr zu Max Hoelz, der als Anarchist zu den führenden Köpfen der Märzkämpfe in Mitteldeutschland gehörte, findet sich zum Beispiel bei Nick Brauns.

Du sitzt für uns alle.
     Unerschütterlich.
Wir gedenken deiner. Wir grüßen dich.
Als es aus war, hast du deinen Kopf hingehalten.
Gegen die Presse, die Bürger, die Polizei –“ gegen alle Gewalten.

Als es aus war, hast du vor Gericht gestanden.
Als ein Mann!
     Alle Paragraphen wurden zuschanden.
Der Richter funkelte –“ weiß vor ohnmächtiger Wut.
Du sahst ihn nur an wie der Hauptmann den dummen Rekrut.
Der Richter kreischte und schimpfte unflätig –“ gemein.
Da standest du auf! Und spieest der Justiz mitten in ihr Gesicht hinein!
»Wer seid ihr?« Und: »Ich erkenne dies Gericht nicht an!«
     Und: »Was könnt ihr mir schon –“?«

Die zappelnden Talare übertönte dein Ruf:
     Â»Es lebe die Weltrevolution –“!«

Jetzt sitzt du im Zuchthaus.
     In der Hand von Gefängniswärtern und Direktoren.
Du wirst schikaniert, geschlagen, gequält ...
     Du hast den Mut nicht verloren.
Tausende sitzen wie du. Tapfer, ohne zu klagen, stumm.
Opfer der Richter. Wer kümmert sich drum –“?

Wer –“?
     Wenn wo Proletarier zusammenstehn,
wenn sie deinen Namen hören, dein Bildnis sehn –“
dann wird es ganz still. Die Köpfe neigen sich.

Du sitzt für sie alle.
Sie geloben Rache. Schweigen ...
     Und grüßen dich.


Theobald Tiger. Der Knüppel, 01.07.1926, Nr. 7.

"Alles aus zweiter Hand, ärmlich, schlecht stilisiert..."

Kurt Tucholsky in Paris, 1928
(Foto: Sonja Thomassen / WikiMedia)
“Rudolf Steiner, der Jesus Christus des kleinen Mannes, ist in Paris gewesen und hat einen Vortrag gehalten.

Ich habe so etwas von einem unüberzeugten Menschen überhaupt noch nicht gesehen. Die ganze Dauer des Vortrages hindurch ging mir das nicht aus dem Kopf: Aber der glaubt sich ja kein Wort von dem, was er da spricht! (Und da tut er auch recht daran.)

Wenns mulmig wurde, rettete sich Steiner in diese unendlichen Kopula, über die schon Schopenhauer so wettern konnte: das Fühlen, das Denken, das Wollen –“ das –šSeelisch-Geistige–˜, das Sein. Je größer der Begriff, desto kleiner bekanntlich sein Inhalt –“ und er hantierte mit Riesenbegriffen. Man sagt, Herr Steiner sei Autodidakt. Als man dem sehr witzigen Professor Bonhoeffer in Berlin das einmal von einem Kollegen berichtete, sagte er: –šDann hat er einen sehr schlechten Lehrer gehabt -!–˜ Und der Dreigegliederte redete und redete. Und [der bekannte Journalist Jules] Sauerwein übersetzte und übersetzte. Aber es half ihnen nichts. Dieses wolkige Zeug ist nun gar nichts für die raisonablen Franzosen.

Die Zuhörer schliefen reihenweise ein; dass sie nicht an Langeweile zugrunde gingen, lag wohl an den wohltätigen Folgen weißer Magie. Immer wenn übersetzt wurde, dachte ich über diesen Menschen nach. Was für eine Zeit -! Ein Kerl etwa wie ein armer Schauspieler. Alles aus zweiter Hand, ärmlich, schlecht stilisiert ... Und das hat Anhänger -!

Der Redner eilte zum Schluss und schwoll mächtig an. Wenns auf der Operettenbühne laut wird, weiß man: Das Finale naht. Auch hier nahte es mit gar mächtigem Getön und einer falsch psalmodierenden Predigerstimme, die keinen Komödianten lehren konnte. Man war versucht zu rufen: Danke –“ ich kaufe nichts.– (Kurt Tucholsky über Rudolf Steiner, 1924)

Quelle: anthroposophie.blog

Einigkeit und Recht und Freiheit...

Kurt Tucholsky in Paris, 1928 (Foto: Sonja Thomassen / WikiMedia)

Was die Freiheit ist bei den Germanen,
die bleibt meistens schwer inkognito.
Manche sind die ewigen Untertanen,
möchten gern und können bloß nicht so.

Denn schon hundert Jahr
trifft dich immerdar
ein geduldiger Schafsblick durch die Brillen.

Doof ist doof.
Da helfen keine Pillen.

Was Justitia ist bei den Teutonen,
die hat eine Binde obenrum.
Doch sie tut die Binde gerne schonen,
und da bindt sie sie nicht immer um.
Unten winseln die
wie das liebe Vieh.
Manche glauben noch an guten Willen ...

Doof ist doof.
Da helfen keine Pillen.

Was die Einigkeit ist bei den Hiesigen,
die ist vierundzwanzigfach verteilt.
Für die Länder hat man einen riesigen
Schreibeapparat gefeilt:
Hamburg schießt beinah
sich mit Altona;

Bayern zeigt sich barsch,
ruft: »Es lebe die Republik!«
Jeder denkt nur gleich
an sein privates Reich ...

Eine Republike wider Willen.

Deutsch ist deutsch.
Da helfen keine Pillen.

Theobald Tiger

Die Weltbühne, 15.03.1927, Nr. 11, S. 424.

Buchtipp: Sich der Erinnerung bemächtigen. Fritz Güde: Umwälzungen - Schriften zu Politik und Kultur

"Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen 'wie es denn eigentlich gewesen ist–˜. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt."

Walter Benjamin "Über den Begriff der Geschichte"



Fritz Güde, geb. 1935 in Wolfach / Baden, war Lehrer für Deutsch, Französisch und Geschichte und als einer der ersten von den Berufsverboten betroffen.

Güde, kurzzeitig Mitglied beim KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands) und später bei den Grünen, blieb dennoch Lehrer und war an verschiedenen privaten Schulen tätig.

Nach der Aufhebung des Berufsverbotsurteils im Jahre 1978 arbeitete er bis zu seiner Pensionierung weiter an privaten und staatlichen Schulen.

Stets widmete er sich einer vielseitigen linken Publizistik u.a. für die Stattzeitung für Südbaden, die Kommune und die Online-Blogs stattweb.de, trueten.de und kritisch-lesen.de.

Der Band "Umwälzungen - Schriften zu Politik und Kultur", erschienen anlässlich des 80. Geburtstags von Fritz Güde, bietet eine umfassende Übersicht über dieses Werk.

Die ausgewählten Artikel behandeln linke Theorie und Praxis, die Geschichte der KP Chinas, Faschismus und antifaschistischer Widerstand, Kunst und Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und auch neuere Erscheinungen in der Populärkultur.

Güdes Richtschnur ist Walter Benjamins Geschichtsphilosophie, seine "Tradition der Unterdrückten".

Die politische Linke

Benjamins Leitgedanke, dass jede Umwälzung "nicht um der künftigen Generationen willen, sondern wegen der Vorgänger" geschehen müsse, scheint durch das gesamte vielseitige publizistische Schaffen Güdes.

In seinen Artikeln zeigt sich, dass gerade der Rückgriff auf das revolutionäre Erbe der "Vorfahren" (Benjamin), vielmehr als der bloße nach vorn gerichtete Blick im Sinne der Zukünftigen, die Analyse linker Theorien und Debatten der jüngeren Zeit erleichtert.

Dazu Fritz Güde in einem Beitrag über die Schrift „Der kommende Aufstand“:

"Der Wille, zu Ende zu führen, was den Vorigen aus den Händen geschlagen wurde, gibt keine Wegweiser. Aber Spuren, denen nachzugehen wäre. So von den Bauernkriegen: Nie das Misstrauen verlieren gegenüber allen Schlichtungen, Schwüren und Friedensversprechungen der Obrigkeit."

In diesem Zusammenhang ist auch Güdes aufgeklärte Umdeutung des Heimatbegriffs zu sehen. In Ort, Weg, Bewegung: Überlegungen zur politischen Verwendbarkeit des Begriffs Heimat (Kommune, 1984) orientiert sich Fritz Güde wieder an Walter Benjamins Geschichtsverständnis, also "am Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel". Dieses Bild soll Grundlage eines Gegenentwurfs zur politischen Romantik sein. Fürchtete Edmund Burke, wie viele Denker seiner Zeit, doch die Revolution vor allem deshalb, weil sie die Macht der Herkunft und das Erbe der Ahnen zerstöre. Warum aber, entgegnet Güde, wird angenommen, dass die Vorfahren mit ihrem Leben zufrieden waren?

Heimat in einem nicht-hergebrachten, nicht-romantischen Verständnis heißt, die Lehren regionaler historischer Kämpfe für aktuelle Kämpfe nutzbar zu machen. Güde bezieht in seine Analyse Auseinandersetzungen des Konstanzer Bürgertums mit der Obrigkeit im 19. Jahrhundert und die Erfahrungen Bremer Werftarbeiter in den 1980er Jahren ein. Diese nahmen eigens eine Gesundheitsuntersuchung zu Schadstoffbelastungen an ihrem Arbeitsplatz vor. Ein örtlicher Betrieb kann so Ausgangspunkt politischer Erfahrungen, politischer Bewusstwerdung und der Schaffung von Klassenbewusstsein sein. Dieser Kampf finde statt auch "innerhalb, nicht außerhalb der alten Gemeinschaften, als Fortführung der Geschichte, nicht als Losreißung von ihr."

Die Bildung einer künftigen freien Gesellschaft soll, geschult an den konkreten Verhältnissen vor Ort, immer auch im Sinne der geschichtlichen Erfahrungen vor Ort gedacht werden.

Dazu Fritz Güde: "Hätten wir einmal Verhältnisse geschaffen, in denen wir sagen könnten: wie leicht hätte alles sich anders gestaltet! Unter anderen Bedingungen hätten die Väter nicht so ein müssen, wie sie in Wirklichkeit waren! - so hätten wir uns mit den Toten versöhnt und wären am eigenen Ort angekommen."

Faschismus und antifaschistischer Widerstand

In diesem Kapitel, in dem unter anderem Artikel Güdes über psychologische Faschismusdefinitionen und die bürgerliche Umdeutung des linken antifaschistischen Widerstands der Roten Kapellen versammelt sind, ragt eine Analyse über den neofaschistischen Massenmörder Anders Breivik besonders hervor. Für Güde steht der Attentäter aus Norwegen für eine neue Erscheinungsform des Faschismus, der sich im Gegensatz zu früher weniger darin gründet, das "Lebensnotwendige zu retten", sondern in der Vernichtung erst seinen Mythos schafft. Dieser "rechte Nihilismus neuer Art" erweist sich als nach allen Seiten anschlussfähig. Exemplarisch dafür stehen Marine Le Pen und der FN, die entgegen der katholischen Traditionen der französischen Rechten den Laizismus für sich entdeckt haben, diesen quasireligiös verklären und gegen den Islam in Stellung bringen. Zugleich sieht Le Pen aber keinen Widerspruch darin, dieses Programm wiederum vor einer Statue Jeanne d'Arcs vorzutragen.

Güde gelingt in diesem Aufsatz von 2012 auf nur gut zwei Seiten eine luzide Analyse des neuen europäischen Faschismus, die sich auch auf andere Länder übertragen lässt. Sie kann beispielsweise auch für die Untersuchung der AfD, die mit ihrem Gemischtwarenladen Rechtspopulismus, Neoliberalismus und Faschismus sich ebenso auf mehreren Ebenen anschlussfähig zeigt, hilfreich sein.

Tucholsky und die Weltbühne

Gerade im Hinblick auf Walter Benjamins Geschichtsverständnis, sich der "Erinnerung (zu) bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt", wäre sinnvoll gewesen, das Kapitel über Kurt Tucholsky und die Weltbühne mit dem vorangehenden zusammenzufassen.

Lässt sich durch Güdes Betrachtung der Zeitschrift "Die Weltbühne" in den 1920er Jahren bis zur Machtübertragung an die Nazis doch anschaulich nachverfolgen, wie die bürgerlich-radikaldemokratische Linke in der Weimarer Republik dem aufkommenden Faschismus in Italien und Deutschland begegnete, was sie an dessen Entwicklung hellsichtig erkannte, aber auch welche Fehleinschätzungen sie traf. Vieles daran kann auch auf die neue Rechtsgefahr in Europa angewandt werden. In einem Aufsatz über Die Weltbühne und das Faszinosum Faschismus (zusammen mit Sebastian Friedrich) wird die teils indifferente Haltung einiger Autoren der Zeitschrift angeführt.

Kurt Hiller beispielsweise zeigte sich von der Ästhetik von Mussolinis Inszenierung der Politik fasziniert, Wolfgang Geise bezeichnete denselben als den einzigen energischen Mann in Europa nach Lenin. Sieht man Hillers "Duce"-Begeisterung im Kontext seiner gesamten politisch-publizistischen Tätigkeit, wird deutlich, dass sein Engagement für den Frieden und seine Sympathien für den Sozialismus immer wieder von nationalistischen Anwandlungen unterbrochen wurden. Seine von Güde und Friedrich herausgearbeitete Begeisterung für eine Ästhetisierung des Politischen führte 1932 gar zu einer Annäherung Kurt Hillers an den Strasser-Flügel der NSDAP. Sein Wort "'Links', 'rechts' - diese 'Unterscheidung wird immer dümmer" ist heute fast wortgleich von Leuten wie Jürgen Elsässer zu vernehmen. Ohne dass dieser Aspekt in dem Artikel von 2011 benannt wird bzw. die Bildung einer neuen Querfront überhaupt schon erkannt werden konnte, bieten Güde und Friedrich mit ihrer Analyse der Weltbühne in der Weimarer Republik im Scheinwerfer der aktuellen Debatten wertvolle Erkenntnisse über die Herausforderungen der heutigen politischen Linken in Bezug auf die Bewertung von Querfront und der neuen Rechten.

In der Bewertung der faschistischen Bewegung in Italien stach unter den Weltbühne-Autoren Hans-Erich Kaminski hervor, der im selben Artikel kritisch gewürdigt wird. Kaminski beobachtete als Augenzeuge genau die Entwicklung in Italien und arbeitete im Gegensatz zu den genannten Kollegen genau die Beweggründe und die Politik der italienischen Faschisten heraus. Doch auch er irrte sich hinsichtlich der Gefahr, in dem er Mussolinis frühen Fall prophezeite.

Lehrreich sind Fritz Güdes Arbeiten über die Weltbühne auch hinsichtlich der "Vorwürfe der Nachgeborenen". Er führt hierbei den sozialdemokratischen Historiker Hans-Ulrich Wehler an, welcher Ossietzky und anderen Journalisten der Weltbühne vorwirft, mit ihrer radikalen Kritik der Republik geschadet zu haben und damit für deren Untergang mitverantwortlich zu sein.

Güde enthüllt dagegen den Kern dieser spezifisch sozialdemokratischen Geschichtsschreibung. Hinter Wehlers "Verantwortungsethik" steckt nichts weniger als die nachträgliche Empfehlung, die Linke hätte Brünings Notverordnungspolitik legitimieren sollen.

Walter Benjamin

Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Leben und Werk Walter Benjamins.

In einem Aufsatz, erschienen 1992 anlässlich des hundertsten Geburtstags von Walter Benjamin, gibt Fritz Güde besonders auch für Einsteiger interessante Einblicke in dessen Denken. Umrissen werden Benjamins Geschichtsphilosophie und seine sprachtheoretischen Ansätze.

Benjamins Versuch der Verbindung zwischen dem Marxismus und einer dialektischen Theologie vertieft Güde in einem weiteren Artikel, in dem er ihm den für den Faschismus einflussreichen Staatsphilosophen Carl Schmitt gegenüberstellt.

Während Schmitts katholisch geprägte politische Theologie für die Ordnungsmacht plädiert, setzt Benjamin diesem Positivismus die Negation des Bestehenden und eine schöpferische Zerstörung der Ordnung entgegen.

Fritz Güde gelingt es auch hier, komplexe Denkgebäude zu veranschaulichen. Gleichermaßen beeindruckend seine Sprache, die in ihrer Bildgewalt oft mit der von Walter Benjamin selbst vergleichbar ist.

Literatur

Ein Schwerpunkt in Fritz Güdes publizistischer Arbeit ist die Literatur.

Die versammelten Artikel vertiefen bekannte Sichtweisen, bieten aber auch unbekannte Perspektiven auf Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts.

In Brecht beim Visagisten widerspricht Güde dem bürgerlichen Versuch der „Ehrenrettung“ Brechts, ihn zum Nichtkommunisten zu machen. Brecht, so der Hinweis des Literaturwissenschaftlers Jan Knopf, habe das „Kapital“ nie gelesen. Und wenn?, fragt Güde und führt dabei den bürgerlichen Bildungsbegriff vor. Schließlich, das zeige gerade die Biographie und das Werk Brechts, sei Marxismus nicht nur Bücher lesen, sondern werde durch tätigen Umgang, durch Bücher, Briefe und Gespräche, also durch die Praxis geübt.
Nicht als Wissensbesitz funktioniert der Marxismus, sondern als eingreifendes Denken, als Methode, sich die Welt anzueignen, „aus Nicht-Wissen, Wissen zu machen –“ und darüber Anleitung zum Handeln“ (Güde).

Interessant auch ein Artikel über Gottfried Benns Leben und Werk.

Fritz Güde macht anhand von Benns Gedichten hier exemplarisch die Entwicklung des literarischen Expressionismus nachvollziehbar und zeigt dabei auf, wo im geistigen Leben der 1920er Jahre die Bruchlinien liegen.

„Sein“ gegen „man“ (Heidegger). Benns Kälte und Erstarrung gegen die Bewegung des Lebens und der Geschichte. Statt Leben nur Zerfall und Todessehnsucht. Statt Revolution ein bloßer Rausch ohne jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhang.

In weiteren Arbeiten befasst sich Güde mit Heinrich Böll, Christa Wolf und Erich Fried. Er regt ferner zu einer Wiederentdeckung des antifaschistischen Schriftstellers Leonhard Frank an, der in seinem 1947 erschienenen Roman „Die Jünger Jesu“, angesiedelt in seiner Heimatstadt Würzburg, schon vor der Gefahr des Neofaschismus warnte.

„Umwälzungen“ schließt mit zwei Aufsätzen zur Populärkultur, einem über Familienbilder in deutschen und US-amerikanischen Fernsehserien und einem über den politischen Gehalt französischer Vorstadt-Rap-Texte.

Fritz Güde gelingt es mit seinen Schriften tatsächlich, die Verbindung von Vergangenem und Gegenwärtigem erkennbar und erfahrbar zu machen.
Aus früheren Kämpfen Schlüsse für die Jetztzeit ziehen.

„Sich der Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ Dazu liefern diese Schriften einige Erinnerungsstützen.

Fritz Güde
Umwälzungen
Schriften zu Politik und Kultur
Broschur, 140×205 mm
220 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-942885-97-3 | WG 973
Oktober 2015

Umwälzungen: Schriften zu Politik und Kultur

Buchbesprechung: Fritz Güde - Umwälzungen - Schriften zu Politik und Kultur

Fritz Güde ist politischer Aktivist und Publizist, Lehrer und war zeitweilig KBW-Mitglied. Diese Kombination bescherte ihm in den 1970iger Jahren Berufsverbot.

Anlässlich seines 80. Geburtstags hat der Verlag edition assemblage eine Auswahl seiner Arbeiten aus den Jahren 1985 –“ 2012 herausgebracht.

Thematisch umfasst werden Beiträge zu Geschichte der politischen Linken, Faschismus und antifaschistischer Widerstand, Tucholsky, Walter Benjamin, Brecht, Fried etc. bis hin zu Beiträgen zur populären Kultur.

Sebastian Friedrich hat die Vielfältigkeit der Beiträge in einem Nachwort umfassend gewürdigt.

Es ist schwer, dem noch etwas hinzu zu fügen. Trotzdem soll es hier versucht werden.

Fritz Güde hat sich nach seiner KBW-Zeit nicht, wie viele andere, den Grünen in die Arme geworfen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist ein abstoßendes Beispiel dieser Spezies.

Auch hat die –“ vorsichtig formuliert –“ eigenwillige Interpretation des Marxismus durch die KBW-Führung um Joscha Schmierer (der es übrigens auch bis in den Planungsstab des Auswärtigen Amtes gebracht hatte und dort als strammer Bellizist tätig war ) nicht jenen antikommunistischen Beißreflex hinterlassen, den man bei ehemaligen Mitgliedern des KBW auch außerhalb der grünen Partei oft antrifft.

In seiner Arbeit „Erinnerung an die ersten fünfzig Jahre der KP China“ entreisst er diese Zeit „dem Vergessen und der hochnäsigen Verachtung“ (S. 28), referiert über Maos grundlegende Schriften „Über die Praxis“ und „Über den Widerspruch“ und stellt noch heute verblüfft fest, dass der Primat der Politik im China Mao Tse Tungs zu Kampagnen führte, „in denen millionenweise etwa „Bürgerkrieg in Frankreich“ (von Karl Marx –“ der Verf.) gelesen wurde, um sich mit dem Konzept der Kommune 1871 vertraut zu machen.“ (S.24).

Und kommentiert diesen Vorgang in bester Güde–™scher Selbstironie:
„Praxisbezogene Theorie. Gerade das –“ und das es das gab, ist unbestreitbar –“ traf uns vergrämte Schulmeisterinnen und Schulmeister ins Herz, uns mit unseren Ermunterungen zur Selbsttätigkeit, die unter den gegebenen Verhältnissen immer neu an felsigen Ohren strandeten. Der Lehrer sagte : Denk selber –“ das Pult, das Klassenzimmer, das Schulgebäude, die zu erwartende Behandlung der Sache in der Klassenarbeit, das Abitur, alle schrien zusammen im Chor ihr: „Nein !“.“ (S.24/25)

Dieser ironisierende, oft literarisch daher kommende Witz ist auch das Faszinierende an Güdes Kommentaren zum Zeitgeschehen, die lange Zeit bei trueten.de veröffentlicht wurden.

Obwohl manchmal inhaltlich völlig anderer Meinung, hinterließen diese Kommentare den Leser oft mit einem kopfschüttelnden und bewundernden Lächeln: „Wie kommt er darauf, das so zu sagen?“

Diese Praxisbezogenheit, eine bei allem intellektuellen Höhenflug materielle Bodenhaftung, wird auch bei der von ihm selbst als schwierig empfundenen Annäherung an die Streitschrift „Der kommende Aufstand“ deutlich.

Dort heißt es: „Mir drängt sich eine ganz andere Schwierigkeit auf. Um –“ als einer der Autoren –“ die unverbrüchliche Einigkeit in den Communen, in den aufgewachten Vorstädten Frankreichs zu empfinden, müsste einer von Anfang an drinstecken. Den Gelberübengeruch im Hausgang selbst gerochen haben seit seinem fünften Lebensjahr –“ und ihn bejahen. Nebst allem, was Nase und Ohr in diesen Gegenden erreicht.“ (S.41)

Engels sagte einmal, die deutschen Arbeiter hätten den französischen oder englischen den Vorteil vorraus, dass sie sich den „theoretischen Sinn“ bewahrt haben.

Fritz Güde ist ein linker Intellektueller, der sich den „praktischen Sinn“, den „Gelberübengeruch“, bewahrt hat.

In unseren Tagen eine Seltenheit.

Fritz Güde
Umwälzungen
Schriften zu Politik und Kultur
Broschur, 140×205 mm
220 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-942885-97-3 | WG 973
Neuerscheinung Oktober 2015

Umwälzungen: Schriften zu Politik und Kultur

Kurt Tucholsky: 80. Todestag

Kurt Tucholsky in Paris, 1928 (Foto: Sonja Thomassen / WikiMedia)

Heute ist der 80. Todestag des von mir sehr verehrten Journalisten und Schriftstellers, Satirikers, Kabarettautoren, Liedtexters, Romanautoren, Lyrikers und Kritikers Kurt Tucholsky.

Er wurde 1890 in Berlin geboren, veröffentlichte 1907 erste Texte, war nach seinem Jura-Studium 1915-1918 Soldat im I. Weltkrieg. Lebte dann von 1919-1924 in Berlin, war Mitherausgeber der "Weltbühne", von 1924-29 in Paris als deren Korrespondent. 1933 wurde er von den Faschisten aus dem Deutschen Reich ausgebürgert, seine Bücher wurden - für die Nazis nicht ohne Grund - verbrannt. Er verstand sich zeitlebens als "linker Demokrat, Sozialist, Pazifist und Antimilitarist und warnte vor der Erstarkung der politischen Rechten –“ vor allem in Politik, Militär und Justiz –“ und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus." (Quelle)

Am 21. Dezember 1935 starb er, vermutlich an einer versehentlichen Überdosierung von Medikamenten im schwedischen Göteborg, wo er bereits seit 1930 lebte.

Mein erster bewußter Kontakt zu Tucholsky war sein Gedicht "Drei Minuten Gehör!" aus dem Jahr 1922, das er unter dem Pseudonym Theobald Tiger veröffentlichte (Im Ergebnis besorgte ich mir erst einmal die Gesammelten Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt, Reinbek 1975, ISBN 3-499-29011-1, heute leider nur noch antiquarisch erhältlich). Zu Tucholsky siehe auch den Beitrag von Fritz Güde: Tucholsky - zur Feigheit begnadigt. Im Protest

Drei Minuten Gehör!

Drei Minuten Gehör will ich

von euch, die ihr arbeitet –“!

Von euch, die ihr den Hammer schwingt,

von euch, die ihr auf Krücken hinkt,

von euch, die ihr die Feder führt,

von euch, die ihr die Kessel schürt,

von euch, die mit den treuen Händen

dem Manne ihre Liebe spenden –“

von euch, den Jungen und den Alten –“:

Ihr sollt drei Minuten inne halten.

Wir sind ja nicht unter Kriegsgewinnern.

Wir wollen uns einmal erinnern.

Die erste Minute gehöre dem Mann.

Wer trat vor Jahren in Feldgrau an?

Zu Hause die Kinder –“ zu Hause weint Mutter ...

Ihr: feldgraues Kanonenfutter –“!

Ihr zogt in den lehmigen Ackergraben.

Da saht ihr keinen Fürstenknaben:

der soff sich einen in der Etappe

und ging mit den Damen in die Klappe.

Ihr wurdet geschliffen. Ihr wurdet gedrillt.

Wart ihr noch Gottes Ebenbild?

In der Kaserne –“ im Schilderhaus

wart ihr niedriger als die schmutzigste Laus.

Der Offizier war eine Perle,

aber ihr wart nur –ºKerle–¹!

Ein elender Schieß- und Grüßautomat.

»Sie Schwein! Hände an die Hosennaht –“!«

Verwundete mochten sich krümmen und biegen:

kam ein Prinz, dann hattet ihr stramm zu liegen.

Und noch im Massengrab wart ihr die Schweine:

Die Offiziere lagen alleine!

Ihr wart des Todes billige Ware ...

So ging das vier lange blutige Jahre.

Erinnert ihr euch –“?

Die zweite Minute gehöre der Frau.

Wem wurden zu Haus die Haare grau?

Wer schreckte, wenn der Tag vorbei,

in den Nächten auf mit einem Schrei?

Wer ist es vier Jahre hindurch gewesen,

der anstand in langen Polonaisen,

indessen Prinzessinnen und ihre Gatten

alles, alles, alles hatten –“ –“?

Wem schrieben sie einen kurzen Brief,

dass wieder einer in Flandern schlief?

Dazu ein Formular mit zwei Zetteln ...

wer mußte hier um die Renten betteln?

Tränen und Krämpfe und wildes Schrein.

Er hatte Ruhe. Ihr wart allein.

Oder sie schickten ihn, hinkend am Knüppel,

euch in die Arme zurück als Krüppel.

So sah sie aus, die wunderbare

große Zeit –“ vier lange Jahre ...

Erinnert ihr euch –“?

Die dritte Minute gehört den Jungen!

Euch haben sie nicht in die Jacken gezwungen!

Ihr wart noch frei! Ihr seid heute frei!

Sorgt dafür, dass es immer so sei!

An euch hängt die Hoffnung. An euch das Vertraun

von Millionen deutschen Männern und Fraun.

Ihr sollt nicht strammstehn. Ihr sollt nicht dienen!

Ihr sollt frei sein! Zeigt es ihnen!

Und wenn sie euch kommen und drohn mit Pistolen –“:

Geht nicht! Sie sollen euch erst mal holen!

Keine Wehrpflicht! Keine Soldaten!

Keine Monokel-Potentaten!

Keine Orden! Keine Spaliere!

Keine Reserveoffiziere!

Ihr seid die Zukunft!

Euer das Land!

Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!

Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!

Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei!

Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg!

–“ Nie wieder Krieg –“!

Theobald Tiger, Republikanische Presse, 29.07.1922, Nr. 6,

Was darf die Satire?

Kurt Tucholsky in Paris, 1928 (Foto: Sonja Thomassen / WikiMedia)

Heute vor 125 Jahren wurde der Schriftsteller, Journalist und Satiriker Kurt Tucholsky geboren. Aus diesem Anlass sein bis heute hochaktueller Text:

Was darf die Satire?

Wenn einer bei uns einen guten Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.

Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: "Nein!" Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist.

Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.

Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.

Die Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft, verdient also nicht diese bürgerliche Nichtachtung und das empörte Fauchen, mit dem hierzulande diese Kunst abgetan wird.

Vor allem macht der Deutsche einen Fehler: er verwechselt das Dargestellte mit dem Darstellenden. Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über dieFäulnis gebreitet war, und sage: "Seht!" - In Deutschland nennt man dergleichen "Kraßheit". Aber Trunksucht ist ein böses Ding, sie schädigt das Volk, und nur schonungslose Wahrheit kann da helfen. Und so ist das damals mit dem Weberelend gewesen, und mit der Prostitution ist es noch heute so.

Der Einfluß Krähwinkels hat die deutsche Satire in ihren so dürftigen Grenzen gehalten. Große Themen scheiden nahezu völlig aus. Der einzige "Simplicissimus" hat damals, als er noch die große, rote Bulldogge rechtens imWappen führte, an all die deutschen Heiligtümer zu rühren gewagt: an den prügelnden Unteroffizier, an den stockfleckigen Bürokraten, an den Rohrstockpauker und an das Straßenmädchen, an den fettherzigen Unternehmer und an den näselnden Offizier. Nun kann man gewiß über all diese Themen denken wie man mag, und es ist jedem unbenommen, einen Angriff für ungerechtfertigt und einen anderen für übertrieben zu halten, aber die Berechtigung eines ehrlichen Mannes, die Zeit zu peitschen, darf nicht mit dicken Worten zunichte gemacht werden.

Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

Aber nun sitzt zutiefst im Deutschen die leidige angewohnheit, nicht in Individuen, sondern in Ständen, in Korporationen zu denken und aufzutreten, und wehe, wenn du einer dieser zu nahe trittst. Warum sind unsere Witzblätter, unsere Lustspiele, unsere Komödien und unsere Filme so mager? Weil keiner wagt, dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrpückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend.

Nicht einmal dem Landesfeind gegenüber hat sich die deutsche Satire herausgetraut. Wir sollten gewiß nicht den scheußlichen unter den französischen Kriegskarikaturen nacheifern, aber welche Kraft lag in denen, welche elementare Wut, welcher Wurf und welche Wirkung! Freilich: sie scheuten vor gar nichts zurück. Daneben hingen unsere bescheidenen Rechentafeln über U-Boot-Zahlen, taten niemandem etwas zuleide und wurden von keinem Menschen gelesen.

Wir sollten nicht so kleinlich sein. Wir alle - Volksschullehrer und Kaufleute und Professoren und Redakteure und Musiker und Ärzte und Beamte und Frauen und Volksbeauftragte - wir alle haben Fehler und komische Seiten und kleine und große Schwächen. Und wir müssen nun nicht immer gleich aufbegehren ("Schlächtermeister, wahret eure heiligsten Güter!"), wenn einer wirklich einmal einen guten Witz über uns reißt. Boshaft kann er sein, aber ehrlich soll er sein. Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er mag widerschlagen - aber er wende nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Es wehte bei uns im öffentlichen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übel nähmen.

So aber schwillt ständiger Dünkel zum Größenwahn an. Der deutsch Satiriker tanzt zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint.

Was darf die Satire?

Alles.

Ignaz Wrobel, Berliner Tageblatt 36, 27.1.19

Tucholsky - zur Feigheit begnadigt. Im Protest

Kurt Tucholsky in Paris, 1928 (Foto: Sonja Thomassen / WikiMedia)
Tucholsky: Texte und Briefe. Bd 19-21

Seit 2005 liegen geschlossen vor die Briefe Tucholskys von 1928 bis zum Tode 1935.

Zusammen mit den ausführlichen Kommentaren an die 3000 Seiten. Auf den ersten Blick ein ermüdendes Sammelsurium voller Klagen über Nasenweh und Seelenleere. Durch die umfassende Zulieferung der Bezugsbriefe trotz allem ein Fundus der Erkenntnis. Eine Möglichkeit, dem Weg Tucholskys zur Selbstverurteilung im Schweigen Schritt für Schritt zu folgen

Woher das Verstummen?


Jemand verspricht ab Mitte 1932, dass er niemals mehr einen Artikel schreiben wird. Er hält Wort- aber produziert in der selben Zeit mehr als 1600 Seiten Brief. Derselbe versichert in jedem Schreiben, dass ihn die deutschen Dinge nichts mehr angehen. Dreht aber durch, sobald er über eine Woche lang keine Zeitungsmeldungen aus diesem Land erhält.

Dieser Mann hieß Kurt Tucholsky und  war seinerzeit einer der meistgelesenen Journalisten seiner Zeit.

Was war geschehen? Angeblich war ein schmerzhaftes Nasenleiden an allem schuld. Eine eingebildete Nase tut so weh wie eine wirklich kranke.Insofern ist Tucholsky nichts vorzuwerfen. Dass  die Taubheit der Nase die Verbindungslosigkeit mit der Gegenwart sinnenfällig ausspricht, ist unbestreitbar. Nachdem die Nase im achten Anlauf glücklich operiert war, kein Wort mehr von ihr. Das Leiden hat sich in den aufgeblähten Leib verkrochen. Zurückgeführt vom Patienten auf ein verschlucktes Knöchelchen.

“Das geht mich nichts mehr an–

Während  der ersten Kuren gegen das Leiden hatte Tucholsky seinem Bruder Fritz anvertraut. (18.1.1931/Bd 19/S.270) –Sag es keinem weiter, ..[dass] mich das Ganze nicht mehr interessiert...Ich habe es satt...Ich richte ja auch nichts aus–. Vorklang der immer wiederholten “das geht mich nichts mehr an–, die den Briefwechsel bis 1935  durchziehen.

Das alles aber bei fortwährender Produktion. In WELTBÜHNE 1931 findet sich keine Nummer ohne eines der Pseudonyme Tucholskys. In diese Zeit fällt die Arbeit an “Deutschland, Deutschland über alles“ - oder einer der giftigsten Angriffe gegen die Nazis in dem Gedicht –Joebbels“. 1931- einen Monat nach dem Brief an den Bruder.

Woher dann aber das plötzliche Verstummen?

Ende der Zeit des unbekümmerten Verkaufs

Das Nasenleiden wird schon 1926 erwähnt - bei gleichzeitig pausenloser Tätigkeit sowohl in der WELTBÜHNE wie allgemein politisch. Wenn man Hiller glauben darf, gründete dieser mit Tucholsky 1927 zusammen den revolutionären Sonderclub der Pazifisten.

Tucholsky hatte seine Produktion in der Zeit des relativen Wirtschaftswunders der Weimarer Zeit mit gutem Gewissen als Herstellung von Produkten verstanden. Als Auslage von Waren im Schaufenster für den Meistbietenden. Ohne ausdrücklich mitgelieferte Gesinnungspflicht. So hatte er in der Nachkriegszeit - schon fleißiger Mitarbeiter  der WELTBÜHNE - nur wenig dabei gefunden, für die Reichsregierung - gut bezahlt - ein Heftchen herauszugeben, das die Abstimmung in Oberschlesien zwischen Polen und Deutschland reichsgünstig beeinflussen sollte.

In der Zeit des großen Juchhei nach der Inflation lief das gut. Ullstein nahm für alle seine Blätter auf der einen Seite - die AIZ - Arbeiterillustrierte Münzenbergs unverdrossen auf der anderen.
In der Zeit der nicht mehr wegzuschiebenden Krise änderte sich das. Kapital und Arbeiter zerrten.

Am 18.9.1928 berichtet Tucholsky merkwürdig betreten von einem Gespräch mit Szafranski, seinem alten Kumpel, der es bei Ullstein zu was gebracht hatte. Der legt ihm eine Sammlung seiner Arbeitergedichte vor mit der Bemerkung:

„Das kann man nicht. Man kann nicht zu gleicher Zeit den Kapitalismus angreifen und noch dazu so scharf und bedingungslos- und dann Geld von ihm nehmen. Entweder- oder.“ (Br 19/Brief 84/ S.95 f).
Solche Anwürfe kennt man und steckt sie heutzutage weg. Nicht so Tucholsky. Im selben Brief seine eigene Einschätzung: “Die Sache ist sehr peinlich- weil ich nicht im Recht bin und ein schlechtes Gewissen habe.“

Umgekehrtes Zerren von proletarischer Seite. LINKSKURVE wirft Tucholksy 1930 seine überhöhten Eintrittspreise vor - und die Vermarktung seiner Lesungen über eine kommerzielle Agentur, die sonst auch Konzerte vermittelt.

Wahrheitsbeweis: „ den zwölf Gewehrläufen aufrecht entgegenblicken"?

Im zugespitzesten Augenblick der Krise sieht Tucholsky sich vor einer Entscheidung. Ossietzky verbüßt schon die Strafe wegen Landesverrat und wird von der rachsüchtigen Reichswehr mit einem zweiten Prozess wegen „Beleidigung“ überzogen. Er hatte als Redakteur die Veröffentlichung des Satzes „Soldaten sind Mörder zugelassen. Dieser stand in einem Artikel Tucholskys. Der Autor selbst war nicht angeklagt, aber Freund und Feind erwarteten wie selbstverständlich  sein Kommen. Tucholsky redete sich brieflich zunächst heraus wegen der Kosten, wegen der Unbequemlichkeiten, wegen der Gefahr. Wie sich nach dem Freispruch für Ossietzky herausstellte, hätte Tucholsky vom damaligen Staat nichts gedroht. Ein Überfall von SA-Horden war immerhin denkbar. (Wie ein solcher Tucholsky bei einer Lesung in Wiesbaden im Jahr zuvor nur knapp verfehlt hatte).

In der Klemme wendet sich Tucholsky an seine - schon seit zwei Jahren von ihm getrennt lebende - Ehefrau Mary. Er erbittet Lossprechung von der Pflicht aufzutreten. Und erhält sie als virtuelles Todesurteil, gegen welches er sich dann den Rest seines Lebens lang wehrt. Seine Frau schreibt:

„5: alle Frauen sind für Nichtkommen. Und nun will ich ihm meine Meinung sagen,und die ist: bleib er, wo er ist, es sei denn, dass ihm durch Nichtkommen der Verdienst in Deutschland unmöglich gemacht wird,d.h. dass er kein Geld bekommen kann usw.- Mach er den Leuten nichts vor, was er sich selber nicht vormacht. Er ist kein Barrikadenkämpfer. Es ist doch kein Zufall, dass Er mit vierzig Jahren in keiner Partei ist und nie aktiv an einem Kampf teilgenommen hat. Er braucht sich deshalb auch keine Sporen im Gefängnis zu verdienen. Der einzige, der es ihm übel nehmen darf,ist Toller, und die jungen Burschen, die ihn zum Vorbild nehmen und die Seine Sachen aus echter Begeisterung auswendig können.Es ist schade um die Enttäuschung, die sie empfinden werden. Der Rest? Ja wer denn, wer steht denn politisch hinter Ihm? Er sitzt doch zwischen allen Stühlen und hat sich bewußt von jeder Bindung ferngehalten und ist sie nur hie und da leise weinend aus Geldgründen eingegangen. Aber inzwischen ist er ja wohl seine sämtlichen Ehen los geworden und fühlt sich doch ehrlich wohl in seiner Freiheit. Er braucht nicht den starken Mann zu machen, denn er ist es nicht. Die verwachsenen Pazifisten, die sich in seinem Ruhm sonnen würden, aber an einer eingestandenen Feigheit keinen Teil haben wollen, sollen ihn...
Und Toller... ob Toller heute ins Gefängnis ginge, ich jlob es nicht....
Dass er sich in Zukunft zurückhalten muss, halte ich für notwendig.Es geht auf die Dauer wirklich nicht,glaube ich, nur Kritik zu üben an einem Lande, dessen Staatsangehörigkeit man besitzt, in dem man nicht lebt, an dessen Umbau man nicht mitarbeitet.Der katastrophale Niedergang verlangt Handeln, negative Kritik ist ja nun seit 14  Jahren getrieben worden, nun bitte, endlich positive Vorschläge... Ich glaube, die Zeit der negativen Kritik ist bald vorüber. Er ist zutiefst ein Bürger, der seine Ruhe haben will.und das phänomenale an ihm ist, dass er Gedichte schreiben kann, als ob er das Leben eines Proleten selbst durchgemacht hätte. Ihn hat ja stets gegraust, wenn er seine wahrhaften Anhänger gesehen hat. Und bei den Buchkäufern kann seine politische Einstellung nur hemmend sein, denn ich kann mir nicht denken, dass von den 40000 von GRIPSHOLM auch nur ein halber Prozent sein Deutschlandbuch bejaht...
[Die Anrede per „ER“ entsprang einem lange schon geübten Sprachtick des Paares, soll  keineswegs Entfremdung wegen der Trennung ausdrücken]
Brief 29.3.32
Antwort KT 1.5.32:
Liebes Malzen,
Sendet ihm viele Grüße, auch von Hasenklever, und komme also nicht zu dem Prozess. Wird auch in politicis sehr abblasen- das Spiel dürfte aus sein.Wünscht ihm alles Gute. Nangel“
[wahrscheinlich als No Angel  zu verstehn].

Der zur Begnadigung Verurteilte


Tucholsky bekennt sich befreit - und gibt sich verloren. Verdrängt dieses Geschlagensein aber für den Rest seiner Tage.

Scharfsichtig  unbarmherzig das Urteil der Frau. Tucholskys Größe - eine Kunst des umfassenden Als-ob. Nichts wahrer als seine Schilderung des Juden Wendriner unter der Diktatur (1930) - nichts lebensnäher als seine Berichte über die Leiden der Gefängnishaft. Aber alles aus Mimikry - aus einer Kunst der innersten Schauspielerei. Tucholsky lugt wie der Wurm aus dem  Apfel. Aussaugend. Aber - wie Mary Tucholsky scharf zusetzt- ohne Erkenntniswert. Gemeint damit: ohne die Möglichkeit, selbständige Schlussfolgerungen zu ziehen. Zum Beispiel über die Lage dieser Wendriners, die ganz konsequent bis zum letzten Augenblick an ihr Hab und Gut sich klammerten- und um alles nicht emigrieren wollten. Ein Blick in die Tagebücher Victor Klemperers zeigt diesen in gewissen Punkten in seinen Urteilen etwa über Ostjuden als schlimmeren Wendriner: trotzdem gewann er unter den furchtbaren Schlägen der Hitlerzeit die Kraft zur Einsicht. Allein die Möglichkeit dazu verwirft Tucholsky.

Er gibt sich geschlagen - weil er den Wahrheitsbegriff seiner Frau völlig teilt. Mag man im Lauf des Lebens auch geschwankt haben, in der Sekunde der Entscheidung heißt es zu seiner Sache stehen. Dahinter verschwindet dann alles. Die Schwankungen würden vergeben.

Wie Kierkegaard, den Tucholsky wohl erst viel später entdeckte, es immer wieder aussprach: wahr soll das sein, um dessentwillen ich mich totschlagen ließe. Gemeint: Wahr ist, worauf ich das Ganze meines Weiterlebens setze.

Folgerung: Veröffentlichungsverbot
Diesem Selbsturteil unterwirft sich Tucholsky. Zu Unrecht. In den ca. 1300 Seiten Brief, die folgen, schiebt er ohne volles Bewußtsein der Änderung einen anderen Begriff von Wahrheit nach, trägt ihn in sein Gesamtwerk ein. Es ist nur einer, dem er selbst nicht mehr das Gewicht von „Wahrheit“ zuerkennen kann.

Es ist der des Geschlagenen, der den Sieg des Nazismus anerkennen muss- und zugleich nicht hinnehmen kann.

Dem sozusagen heldischen Wahrheitsbegriff aus Schillers Zeiten, existenzialistisch aufgepeppt, setzt Tucholsky in der von ihm selbst nicht verstandenen Praxis seines Schreibens bis zum Todesaugenblick einen des Gerölls entgegen. In den Briefen, die er noch erzeugt, sammeln sich Fragmente hoffnungsloser Selbstverteidigung, Selbstbehauptungsversuche  mit einer Summe solcher Einsichten, die alle Mimikry  ausschließen.

Tucholskys kindische  Versuche, jeden Kontakt mit dem bisherigen Deutschtum aufzugeben - bis zur Verweigerung deutscher Zahnpasta - dienen zugleich dem unbestochenen Sammeln von unverbundenen Tatsachen -eben im Geröll- die einmal gegen die Herrschaft der Nazis vorgebracht werden können.

Die Aussagen eines Hilferding über die bezwingende Natur des Finanzkapitals gelten weiter, trotz aller späten Brüningbeflissenheit. Die Entdeckungen eines Galilei bleiben, ob er nun am Ende des Lebens Verräter war oder nicht.

Oft ist Tucholsky ermuntert worden, doch Teile seines Briefwechsels zu veröffentlichen. Und sie wären unauffällig, ja lobenswert gewesen in der Summe all dessen, was im Exil sonst veröffentlicht wurde. Aber wären hilfloses Gekläff geblieben, wie das der andern. Geräusche der Enttäuschung. Er selbst verwehrt sich weiteren Veröffentlichungen, weil er nicht klein wieder anfangen will. Weil er vom Selbstbewusstsein her  dem klassisch-heldischen Wahrheitsbegriff nichts entgegenzusetzen hat.

Was dann natürlich dazu führt, dass in allen Äußerungen das Wahre mit dem Falschen durcheinander liegt. Es müssen immer die anderen an allem schuld sein.

Antikommunismus im Um-sich-schlagen

So seine bitteren Angriffe auf den Kommunismus gleich nach 1933. Er verwirft alles, was in der WELTBÜHNE dazu erschienen war -und vergisst, dass es da keinerlei einheitliche Position gab. Einmal wurde immer wieder Trotzky als Autor aufgenommen. Andererseits wird Stalins Aufbauwerk gewürdigt. Dazwischen einiges . Von Tucholsky selbst etwa eine Kritik an einer sowjetischen Darstellung der Revolutionszeit, in welcher unter Stalin der Name des Schöpfers der „Roten Armee“ ausradiert wurde.

Zu Tucholskys leichtfertigem Umgang mit Moskau und Völkerbund in seinen Aktiv-Zeiten.

Hinweise auf die Fehlkonstruktion der INTERNATIONALE selbst finden sich andeutungsweise erst 1935.Die Unmöglichkeit, einen Staat mit seinen unabschüttelbaren Eigeninteressen,als Wortführer einzusetzen für eine Gemeinschaft sich als revolutionär verstehender Einzelparteien.

Das alles nur gedacht als Hinweis auf das fast Bewußtlose des plötzlich ausbrechenden Antikommunismus. Zusammen mit einer an Hiller sich anlehnenden Tendenz zum Anti-Materialismus.

Hiller - Apostel des Herrschaftsantritts der „Geistigen“


Hiller war in den letzten Jahren der WELTBÜHNE immer stärker zum Apostel des Kampfes der „Geistigen“ geworden. Gegen die Ungeistigen. Gerade auf ihn bezieht sich Tucholsky fast wörtlich immer öfter nach 1933 in seinen hinfälligsten Anläufen zur Theorie.

Tatsächlich beeinflusste Hiller zwar nicht ausdrücklich die Mehrzahl der - außer Gerlach und Ossietzky - viel jüngeren Mitarbeitenden. Aber er verlieh seiner Art von Hochnäsigkeit das gute Gewissen. Es kam immer wieder in WELTBÜHNE zu den scharfsichtigsten Analysen der Schwierigkeiten in den verschiedenen Rechtszusammenschlüssen, die der Machtergreifung 1933 vorausgingen und die wir heute nachträglich oft  als einheitlich auf den Faschismus hindrängende Bewegung ansehen. Tatsächlich war die Volksverachtung der Papenrichtung von sich aus unvereinbar mit der revolutionär volksnah sich aufspielenden Goebbels-Propaganda..

„Verfolgt die kleine Dummheit nicht zu sehr, in Bälde..“

Seit überhaupt die Nazis eine Rolle spielten, wurde -vor allem in den vielen kleinen Glossen- immer wieder das Lächerliche dieser Bewegung genussvoll hervorgehoben. So etwa in Witzen über den ersten Dichter der Nazi-Bewegung - Dinter - der in seinem Roman Die Sünde wider das Blut“ die erschütternde Erkenntnis verbreitete, dass eine vollarische Frau, die sich einmal einem Schwarzen hingegeben hätte, immer weiter schwarze Babies bekommen müsse.

Als einer der ersten Landesministerpräsidenten der Nazis - Frick - gerade diesen Schwachkopf  allen Ernstes zum Universitätsprofessor erheben wollte, war des Vergnügens in sämtlichen Linksblättern kein Ende. Vergessen wurde dabei nur, dass die Denunziation des Dummen als dumm keinerlei Wirkung hat - außer auf diejenigen, die sich qua Herkunft oder beamtenrechtlich schon selbst für die „Geistigen“ zu halten gewohnt sind.  Hingewiesen hätte werden können auf den schamlosen Machtanspruch der Nazis, der dahinter steckte. Dumm oder nicht dumm - wir machen auch das Falsche wahr, wenn wir erst an der Macht sind.

An dieser Begeisterung über den Schwachsinn des Schwachsinnigen hatte sich Tucholsky in der WELTBÜHNE unverdrossen  beteiligt.

In den ermüdenden, aber außerordentlich richtigen Notizen der BRIEFE  wird dann gewissenhaft das Vordringen des Dummen aufgesammelt und wiedergegeben- über Europa hin. Die Wehrlosigkeit der europäischen Staaten, gefangen in ihrem eigenen Imperialismus, gegen den größten Imperialisten wird genau wahrgenommen und zu Protokoll gegeben.

Tucholskys vergebliche Suche nach der süffigen Anti-Nazi-Doktrin

Tucholsky dazwischen - mitten im Geschiebe - nun nicht mehr als der feldherrliche Durchblicker. Vielmehr als der mickrige und gekrümmte Schlüssezieher. Die Anleihen bei allen möglichen Links-Katholiken Frankreichs brachten am Ende nichts. Auch die Entdeckung Kierkegaards im letzten Lebensjahr blieb folgenlos. Die Suche nach der stählernen „Doktrin“, die den Nazis entgegengesetzt werden müsse, ohne Fund.

Die Verfluchungen der restlichen Welt wurden mit Recht selbst von den Briefpartnern nicht mehr ernst genommen. Die bis zum tatsächlichen Antisemitismus reichenden Angriffe gegen die Juden insgesamt mögen vergessen sein. Und sind keineswegs einem „jüdischen Selbsthass“ zuzuschreiben, wie der aufs Alter immer rechthaberischer werdende Scholem erfand, sondern entsprangen der Verzweiflung an allen Gegenbewegungen gegen die Nazibewegung, ob jüdisch oder „nur“ links.Die des Schreibenden immer inbegriffen. Wenn überhaupt, wäre „Linkszerknirschung“  angebracht.

Wo sich Tucholsky noch zu Erwägungen aufschwang über mögliche Änderungen im faschistisch gewordenen Reich, tippte er auf monarchistische Umstellungen.

Dies alles das Falsche, das in der unablässigen Bewegung des nicht abstellbaren Denkens ausgestoßen wurde. Dazwischen aber- nur der Nachwelt, nicht dem Autor selbst zugänglich - das bleibende und erschütternde Bild der Überwältigung des Einzelnen durch die siegreiche Moräne Faschismus. Tucholskys Briefwerk - das letzte und entscheidende Argument gegen die leere Hochnäsigkeit eines Hiller, der - uralt geworden - nach dem Krieg seinen Frieden ausgerechnet mit der Diktatur des nationalistischen Schumacher und dem Schwadronieren eines Heuss schloss. Wie Benjamin schon in seiner Besprechung von 1932 geschrieben hatte - in „Der Irrtum des Aktivismus“: „Man hat sich im Kreise Hillers ein Bild von „Herrschaft“ zurechtgelegt, das keinerlei politischen Sinn besitzt, es sei denn, zu verraten, wie selbst die deklassierte Bourgeoisie sich von gewissen Idealen ihrer Glanzzeit nicht trennen kann“ (Gesammelte Schriften, Bd.3 - Rezensionen S.350). Von welchen Idealen nicht? Eben von dem des einsamen Sehers, des über die Wogen Hinblickenden. Mit einem Wort: Vom Privileg der Leute mit Abitur. Der „Geistigen“. In seinen bewussten Äußerungen blieb Tucholsky lebenslänglich diesem leuchtfeuernden Irrlicht treu. Im wirklichen Schreiben von Tag zu Tag gab er es auf zugunsten eines nüchternen, andern und allen zugänglichen: der des Chronisten, der einer Nachwelt berichtet, was er selbst nicht mehr zu eigenem Nutzen erfasst.

Bibliographische Angaben:
Kurt Tucholsky / Gesamtausgabe: Texte und Briefe, Bd.19/20/21 Rowohlt 1996/1997/2005

Erscheint in erweiterter Form im neuen Blog: www.kritisch-lesen.de
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