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Stuttgart 21: Drakonisches Urteil gegen Blockadeteilnehmerin

Proteste am Tag "X" gegen den Abriss - Besetzung des Nordflügels
Der Prozess gegen Birgit Th. wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte im Zusammenhang mit den Protesten gegen den Abriss des Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs am 1. März 2011 vor dem Amtsgericht Stuttgart

Der Vorfall

Im Zusammenhang mit  dem Abriss des denkmalgeschützten Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs fanden fast tägliche Protestdemonstrationen in Form von Blockaden und Behinderungen des Abtransports von Bauschutt statt. Bei einer davon hatten Demonstranten die Zufahrt zur Baustelle blockiert und wurden, wie so oft, von Polizeieinheiten unter „Anwendung einfacher körperlicher Gewalt“ von der Straße weg auf die Verkehrsinsel und den seitlichen Gehstreifen gedrängt oder geschleift und dort mittels Polizeikette an einem erneuten Betreten der Straße gehindert. Darunter auch die jetzt Angeklagte Birgit Th. In großer Empörung musste sie mit ansehen, wie einem Schuttlaster unter Pfiffen und Protestrufen der Demonstranten die Ausfahrt ermöglicht wurde, was sie lautstark  gegenüber den vor ihr stehenden Polizisten als rechtswidriges Zerstören von Gemeineigentum gegen den Willen des Volkes bezeichnet. Als dann noch ein zweites Baufahrzeug sich anschickte den Zufahrtsbereich zu verlassen, wollte sie sich diesem entgegen stellen um seine Weiterfahrt zu behindern. Sie versuchte deshalb, durch die Polizeikette hindurch zu kommen, wobei sie den vor ihr stehenden Polizeibeamten „schubste“. Dieser kam dadurch ein wenig aus dem Gleichgewicht und musste einen Schritt zurück machen, um sich wieder in festen Stand zu bringen. Als er sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte, bemerkte er, dass der im Schritt-Tempo heranfahrende Laster sich durch Abbremsen zum Stand gebracht hatte und nun direkt schräg hinter ihm stand. Er, so sagte er aus, sei da ziemlich erschrocken und habe gedacht, das hätte auch schlimm enden können. Die Demonstrantin, die ihm den „Schubser“ versetzt hatte, war da bereits von seinen umstehenden Kollegen festgenommen und weggeführt worden. Er selbst folgte dann dieser Gruppe, um bei der Personalienfeststellung mitzuwirken.

Die Anklage

Die Anklage geht von einem Vergehen des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall (§ 113 StGB Abs.2, Pkt.2) aus, weil die Täterin durch eine Gewalttätigkeit den Angegriffenen Beamten in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung gebracht habe.
§ 113 StGB:
Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
(1) Wer einem Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder ihn dabei tätlich angreift, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn

1. der Täter oder ein anderer Beteiligter eine Waffe bei sich führt, um diese bei der Tat zu verwenden, oder

2. der Täter durch eine Gewalttätigkeit den Angegriffenen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.
(3) Die Tat ist nicht nach dieser Vorschrift strafbar, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist. Dies gilt auch dann, wenn der Täter irrig annimmt, die Diensthandlung sei rechtmäßig.
(4) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig an, die Diensthandlung sei nicht rechtmäßig, und konnte er den Irrtum vermeiden, so kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder bei geringer Schuld von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen. Konnte der Täter den Irrtum nicht vermeiden und war ihm nach den ihm bekannten Umständen auch nicht zuzumuten, sich mit Rechtsbehelfen gegen die vermeintlich rechtswidrige Diensthandlung zu wehren, so ist die Tat nicht nach dieser Vorschrift strafbar; war ihm dies zuzumuten, so kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen.


Die Einlassung der Angeklagten:

In ihrer Einlassung legt die Beschuldigte eindrücklich dar, dass der begonnene Abriss des denkmalgeschützten Bahnhofs wie das ganze Projekt Stuttgart 21 durch falsche Angaben und Betrug erschlichen wurde. Dass über die Rechtmäßigkeit im Zusammenhang mit der Klage des Bonatz-Erben Dübbers noch nicht abschließend gerichtlich entschieden sei und begründet damit auch ihre große Empörung, dass die Abrissarbeiten trotzdem begonnen wurden und die Polizei dies auch noch gegen das Volk ermöglicht. Dies habe sie damals an Ort und Stelle auch nachdrücklich und erregt gegenüber den vor ihr stehenden Polizeibeamten zum Ausdruck gebracht.

Dass ihr der Richter gleich nach ihren Einlassungen erklärt, all die Ausführungen zum Zustandekommen des Bauprojekts Stuttgart 21und dessen Bewertung, sowie zur Frage der Rechtmäßigkeit der Abrissarbeiten seien hier völlig unerheblich, es gehe ausschließlich um die Frage, ob sie in der hier zur Debatte stehenden Situation Widerstand geleistet habe, darf schon etwas verwundern. Besagt doch der Absatz 2 des § 113: Die Tat ist nicht nach dieser Vorschrift strafbar, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist. (...) und

(4) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig an, die Diensthandlung sei nicht rechtmäßig, und konnte er den Irrtum vermeiden, so kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern oder bei geringer Schuld von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen. Konnte der Täter den Irrtum nicht vermeiden und war ihm nach den ihm bekannten Umständen auch nicht zuzumuten, sich mit Rechtsbehelfen gegen die vermeintlich rechtswidrige Diensthandlung zu wehren, so ist die Tat nicht nach dieser Vorschrift strafbar;

Im Empfinden des Volkes, in dessen Namen die Urteile gesprochen werden, ist es durchaus schlüssig, dass wenn die Abrissarbeiten möglicherweise nicht rechtens sind, auch die polizeilichen Maßnahmen zu deren Durchsetzung möglicherweise nicht rechtens sind.

Dass auch der Richter dies mindestens ahnte fand in seiner Urteilsbegründung Ausdruck, in der er immer wieder hervorhob, dass völlig außer Frage stehe, dass die Polizeikräfte absolut rechtmäßig gehandelt hätte. Nie aber sagte er dazu, warum.

Die darin zu Tage tretende Absicht der Gerichte, sich in Verfahren gegen die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 auf keinen Fall mit den Rechtsverstößen der Projektbetreiber zu beschäftigen, sondern allein den Widerstand zu kriminalisieren wurde noch deutlicher im Plädoyer der Staatsanwaltschaft.

Doch zunächst zur Beweisaufnahme. Hier verstrickten sich der „geschädigte“ Polizeibeamte und zwei weitere Polizeizeugen trotz ganz offensichtlich vorher abgesprochenen Aussagen in offensichtliche Widersprüche. So sagte etwa der „Geschädigte“ aus, die Beschuldigte habe die ganze Zeit wortlos und völlig ruhig vor ihm gestanden, um ihn dann absolut unvermittelt zu stoßen. Auf Vorhalt, dass sein neben ihm stehender Kollege angegeben habe, dass die Frau heftig und erregt diskutiert habe und immer wieder gerufen habe, dass die Polizei kein Recht hätte, sie hier festzuhalten, erklärte er, möglicherweise habe sie ja mit dem Kollegen gesprochen, er habe davon aber nichts bemerkt. Auch den Aussagen des Lasterfahrers merkte man deutlich an, dass sein Gedächtnis bezüglich des immerhin über 4 Monate zurückliegenden Vorgangs etwas aufgefrischt worden war und nochmal ihm gesagt worden war, was er aussagen muss.

Eine besonders seltsame Rolle spielte bei der Zeugenanhörung noch der Fotograf Thomas Geromiller aus Esslingen, der, wie er sagte, die Szene für seine Internet-Seiten gefilmt hat und diese Aufnahmen dann der Polizei zur Verfügung stellte.

Er hatte sich bereits im Vorraum  eingehend mit der vor ihm als Zeugin gehörten Gruppenführerin der Polizei unterhalten und dann bei seiner Aussage in frappierender Weise alles genauso beobachtet, wie die 10 Meter von der Szene entfernt stehenden Beamtin. Besonders auffällig aber war, dass er ohne dies gefragt worden zu sein, immer wieder betonte, er sei sich ganz sicher, dass die Beschuldigte gesehen habe, dass der LKW bereits losgefahren sei als die den Polizisten schubste. Was diese allerdings auch gar nicht bestritten hatte, sie wollte ja gerade deshalb wieder auf die Straße gelangen, um die Ausfahrt des LKW zu behindern. Für einen normalen Menschen allerdings auch unbedingt einleuchtend, dass der LKW dabei sehr langsam fuhr, sie werde sich ja nicht vor einen schnell fahrenden LKW werfen.

Der Strafantrag

Trotz allem Bemühen der Zeugen, eine schwere Gefahr für den Polizeibeamten zu konstruieren, war selbst der Staatsanwältin klar geworden, dass eine konkrete Gefährdung für den Polizeibeamten nicht vorgelegen hat, was die Voraussetzung für eine Bestrafung wegen eines „schweren Falls des Widerstands“ gewesen wäre. Sie ging daher von einer Tat des „einfachen“ Widerstands aus und führte auch noch die üblichen strafmildernd zu berücksichtigenden Aspekte, wie Geständigkeit der Angeklagten und die von dieser vorgebrachten Entschuldigung an. Birgit Th. hatte gesagt, dass es ihr wirklich leid tue, wenn sie dem Polizisten Angst gemacht habe, was sie sich aber nicht richtig vorstellen könne. Auch dass sie erklärte, sie habe aus dieser in der Erregung ausgeführten „Tat“ gelernt, und werde sich künftig nur noch an organisierten und eingeübten Blockaden beteiligen, wertete die Staatsanwältin als strafmildernde Einsicht. Der Teil des Volkes, der die Verhandlung verfolgte nahm erfreut zur Kenntnis, dass endlich einmal eine Staatsanwältin sich ein eigenes Urteil aus der Verhandlung bildete und nicht  stur entsprechend den Vorgaben ihres Oberstaatsanwalts plädierte.

Die Vorgaben kamen dann aber wohl  - und hier ist der Ausdruck „unvermittelt“  wirklich angebracht - beim geforderten Strafmaß zum Vorschein: Weil kein schwerer Fall, weil geständig, weil auch in gewisser Hinsicht reuig, reicht eine Geldstrafe nicht aus und es werden 4 Monate Freiheitsstrafe plus einer Geldbuße von 1.500 Euro gefordert.

Die Verteidigung plädierte auf Einstellung des Verfahrens.

Das Urteil

Der unabhängige Richter spricht dann im Namen des Volkes sein Urteil:
Wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte eine Geldstrafe von 3.600 Euro (80 Tagessätze).

Zur Begründung für die Höhe der Strafe führt er an:

Das polizeiliche Vorgehen war absolut rechtmäßig, weil es absolut rechtmäßig war. Deshalb ist die Handlungsweise der Angeklagten eine zu bestrafende Tat des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gewesen.

Zwar hat eine konkrete Gefahr für Leib und Leben des gestoßenen Polizeibeamten nicht vorgelegen, wohl aber eine abstrakte. Die wird so begründet: Hätte der aus dem Gleichgewicht gebrachte Polizist, sein Gleichgewicht nicht durch einen „Ausfallschritt“ wieder erlangt, sondern wäre gestürzt und wäre der LKW nicht langsam, sondern schnell gefahren und hätte womöglich keine guten Bremsen gehabt und der Fahrer wäre nicht so aufmerksam gewesen oder hätte langsamer reagiert, dann hätte der Polizist möglicherweise ernsthaft verletzt werden können.

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