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"Shoah" von Claude Lanzmann gehört nun zum Weltdokumentenerbe der UNESCO

"Shoa" aus dem Jahre 1985 von Claude Lanzmann (1925-2018) gehört nun zum Weltdokumentenerbe der UNESCO.



Vielen Dank an Ruth für den Hinweis.

Vier Schwestern

Auf arte ist noch bis 22. März "Shoa" aus dem Jahre 1985 von Claude Lanzmann zu sehen. Unbedingt ansehen!

"Claude Lanzmanns Lebenswerk "Shoah" gilt als Meilenstein in der filmischen Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Juden. In dieser Reihe widmet er vier Frauen - Ruth Elias, Ada Lichtman, Paula Biren und Hanna Marton - mit denen er ursprünglich für "Shoah" lange Gespräche geführt hatte, einen eigenen Dokumentarfilm. Ruth Elias war 20, als sie nach Theresienstadt kam ...

Der hippokratische Eid, Ruth Elias
Ruth Elias war 17, als Reichswehr und SS am 15. und 16. März 1939 die Tschechoslowakei besetzten. Drei Jahre lang wurde ihre Familie von Bauern versteckt, bis sie im April 1942 denunziert und nach Theresienstadt deportiert wurde. Im Winter 1943 stellte Ruth fest, dass sie schwanger war. Kurz darauf wurde sie nach Auschwitz deportiert. Im Juni 1944 wurden tausend ausgewählte Frauen zur Beseitigung der Trümmer einer zerbombten Raffinerie nach Hamburg geschickt. Ruth, zu dieser Zeit schon im achten Monat schwanger, gelang es, in diese Gruppe aufgenommen zu werden, was zunächst ihre Rettung war. Doch die junge Frau wird als Schwangere erkannt und nach Auschwitz zurückverfrachtet, in die furchtbare Obhut des KZ-Arztes Josef Mengele. In Auschwitz hat sie ihr Kind zur Welt gebracht. Mengele ließ ihre Brust bandagieren. Das Baby sollte nicht genährt werden. Bevor KZ-Arzt Josef Mengele ihr Kind töten konnte, tat sie es selbst.


Zum lustigen Floh, Ada Lichtman
Ada Lichtman traf das Grauen der Naziherrschaft unvermittelt: Als die deutschen Soldaten in Polen einmarschierten, verschleppten sie jüdische Männer aus der Kleinstadt Wieliczka in der Nähe von Krakau in ein Waldstück und richteten sie dort hin. Anschließend ordneten sie die blutverschmierten Leichen wie in einem makabren „Kunstwerk“ im Halbkreis so auf dem Boden an, dass sich ihre Füße berührten und die Köpfe nach außen zeigten. Ab diesem Tag fragte sich Ada nicht, ob sie überleben, sondern nur noch, wie sie sterben würde. Sie kam ins Vernichtungslager Sobibor, in dem insgesamt 250.000 Juden in Gaskammern ermordet wurden. Ada gelangt es, beim Aufstand am 14. Oktober 1943 zu fliehen. Sie gehört zu den knapp 50 Lagerinsassen, die bis Kriegsende überlebten.


Baluty, Paula Biren
Aus dem jüdischen Ghetto in Lodz sind zahlreiche Dokumente, Tagebuchaufzeichnungen und sogar einige Fotos erhalten, aber nur wenige Aussagen von Überlebenden. Umso bedeutender sind die Erzählungen von Paula Biren, die damals der weiblichen Ghettopolizei angehörte und das Geschehen scharf beobachtete und klug einzuordnen wusste.

In Polen gab es Hunderte Ghettos, von denen das in Lodz am längsten bestand. Es wurde mit harter Hand von Mordechai Chaim Rumkowski geführt. Der Leiter des Judenrates, von den Bewohnern auch „König Chaim“ genannt, war überzeugt, dass er einen Teil der Juden retten könnte, indem er sie zu unverzichtbaren Arbeitskräften für die Deutschen machte.


Arche Noah, Hanna Marton
Als die Nazis 1944 mit der Deportation ungarischer Juden begannen, verhandelte der Leiter des Hilfs- und Rettungskomitees Rudolf Kastner mit Adolf Eichmann und bot diesem ein Lösegeld pro Person. Kastner erhöhte den Preis so lange, bis Eichmann einwilligte. Ein Spezialtransport fuhr von Budapest über Bergen-Belsen in die Schweiz. Hanna Marton gehörte zu den überlebenden...

Ein Spezialtransport fuhr von Budapest über Bergen-Belsen in die Schweiz. Hanna Marton gehörte zu den 1.684 Juden des Konvois, die so dem sicheren Tod entkamen. Zeitgleich wurden nach der grausamen Vernichtungslogik der Nazis im Gegenzug 450.000 ungarische Juden in den Gaskammern von Birkenau ermordet beziehungsweise bei lebendigem Leib im Freien verbrannt."



Quelle: arte

„Wer keine Tränen vergießen wird, der wird zumindest schwitzen.“ Über Gisela Elsner

Am 2. Mai wäre die Schriftstellerin Gisela Elsner 80 Jahre alt geworden.

Foto: jens David
„Selbst dem Arglosesten, sollte man meinen, dürfte das Mißverhältnis zwischen den langatmigen Äußerungen der Presse über ihr Leben und den kärglichen Bemerkungen über ihren Tod nicht entgangen sein. Tatsächlich hatte die Beisetzung, von der es überall recht untertrieben hieß, sie wäre feierlich gewesen, von ihrem bemüht makabren Anstrich ganz zu schweigen, etwas durchweg Skandalöses an sich (...)
Die Inszenierung der Veranstaltung berührte, das ist wahr, die meisten dermaßen peinlich, daß sich bedingt durch die Bedrücktheit fälschlicherweise der Anschein von Trauer einstellte. Wäre nicht das wie der Prunk unpassende Ehepaar gewesen, ein Polizist und eine hochschwangere Hausschneiderin, die letzten überlebenden Erben, die sich von keinem der Würdenträger den Platz hinter dem gläsernen Sarkophag streitig machen ließen, so würde man heute noch all diese ausgeklügelten Ehrerweisungen der Spontaneität ihrer Anhänger, zumal der zahlreichen Mitglieder der internationalen Elsner-Gesellschaft, zuschreiben, die sich weniger durch ihr Konzept als vielmehr durch ihre werbeträchtige Rührigkeit auszeichnen.“

Im Gegensatz zu dieser spektakulären Inszenierung verlief die tatsächliche Beisetzung von Gisela Elsner in aller Stille. Die zitierten Passagen stammen aus ihrer Erzählung „Die Auferstehung der Gisela Elsner“ und wurden in dem 1970 veröffentlichten Sammelband „Vorletzte Worte –“ Schriftsteller schreiben ihren eigenen Nachruf“ veröffentlicht.
Nach ihrem Suizid im Mai 1992 war die einstige Starautorin der bundesdeutschen Literaturszene eine Vergessene. Von „langatmigen Äußerungen der Presse über ihr Leben“ konnte schon Jahre vor ihrem Tod keine Rede mehr sein. Von der Kritik war sie zunehmend missachtet, im Literaturbetrieb an den Rand gedrängt worden.
„Schreibende Kleopatra“ wurde sie von Kritikern oft genannt. Von Kritikern, die nicht verstanden, dass ihre schwarzen Perücken und ihre Vorliebe für teure Kleider auch Teil einer Selbstinszenierung waren. Eine Selbstinszenierung, die eine parodistische Reaktion auf ein Bild von Weiblichkeit und von ihrer Person war. „Sexy thing“ nannte sie ein englischer Autor bei der Verleihung des „Prix Formentor“ für ihren Debütroman „Die Riesenzwerge“. Vielleicht war ihre exzentrische Erscheinung auch ihr bewusster Ausdruck dessen, dass es, wie Adorno sagte, „kein richtiges Leben im Falschen“ gebe.

Gisela Elsner wurde am 2. Mai 1937 in Nürnberg geboren. Sie wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf: Ihr Vater Dr. Richard Elsner war Generalbevollmächtigter der Siemens AG.

Ein Leben lang haderte die Schriftstellerin mit ihrer Herkunft:

„Obwohl ich, seitdem ich 16 Jahre alt war, meine Eltern immer wieder anflehte, bei Siemens, wo es mein Vater bis zum Vorstandsmitglied brachte, Akkordarbeit verrichten zu dürfen, weil ich jene kennenlernen wollte, für die ich aus Haß auf meinen Vater und die gehobenen Kreise in zunehmendem Maße Partei ergriff, genehmigte man mir nur einen Posten in der Werksbibliothek, den ich ablehnte, weil ich den Arbeitern nicht jene Werke anpreisen und ausleihen wollte, die von übergeordneter Stelle für sie ausgewählt worden waren.“

1954 lernte sie auf einem Studentenball ihren späteren Ehemann, den Schriftsteller Klaus Roehler, kennen. Aus dieser Zeit stammen auch ihre ersten literarischen Gehversuche. Bereits mit 18 Jahren,1955, erschienen Texte von ihr in der Literaturzeitschrift Akzente und in der FAZ.
Im August 1958 heiratete sie Klaus Roehler. Die Ehe wurde fünf Jahre später „schuldhaft“ geschieden, weil Elsner „ehewidrige Beziehungen“ unterhalten habe. Dadurch verlor sie auch das Sorgerecht für ihren 1959 geborenenen Sohn Oskar.

Einen ersten Text zur literarischen Aufarbeitung des Faschismus, einem ihrer zentralen literarischen Themen, legte Gisela Elsner 1960 mit „Der Sonntag eines Briefträgers“ vor.
Sie beschreibt darin einen Postbeamten, der sinnlos, aber von „Pflicht“ und „Verantwortungsbewußtsein“ erfüllt, selbst sonntags arbeitet. Diese Arbeit besteht darin, Unmengen von Briefen im Kamin zu verbrennen:
„Auch sonntags versiegt der Strom von Briefen nicht, der mir zufließt. (...) Berge von Briefen verkohlen sonntags in seinen Flammen (...).“
Elsner kannte die Aufzeichnungen des ebenso „pflichtbewussten“ Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß. Unschwer ist ihr Text als Anspielung auf die „willigen Vollstrecker“ (Goldhagen) des faschistischen Massenmords und auf die Verbrennungsöfen in den Vernichtungslagern zu verstehen.

1964 veröffentlichte Elsner ihren international gefeierten Debütroman „Die Riesenzwerge“. Der Roman beschreibt aus der Sicht des etwa fünfjährigen Lothar Leinlein Episoden aus seinem und dem Leben seiner Eltern, des Oberlehrers Leinlein und seiner Frau Luise. Elsner beschreibt kühl und analytisch die Vorgänge, zoologisch fast ihre Figuren.
Mit grotesken Mitteln legt sie eine autoritär geprägte Nachkriegsgesellschaft, die sich dem Konsum der sogenannten Wirtschaftswunderjahre hingibt, bloß.
Das Motiv des Essens, im Sinne von „Fressen und gefressen werden“, zieht sich durch das ganze Buch:
Der Roman beginnt mit dem Satz „Mein Vater ist ein guter Esser“. Es folgt eine minutiöse Beschreibung einer Mahlzeit in der Familie.
Die Verteilung des Essens drückt das Machtgefüge in der autoritären Kleinfamilie aus. Der Vater ist der Vielfraß, seiner Frau und seinem Sohn bleibt nur ein geringer Teil über. Der Sohn wird später schließlich noch von einem Bandwurm befallen.
Fressen und gefressen werden; Elsner drückt damit auch die gesellschaftlichen Verhältnisse aus. So beschreibt sie eine gierige Meute von Restaurantbesuchern, die sich gar über die Goldfische des Aquariums und zuletzt über Vater Leinlein hermachen und ihn auffressen.
Vater Leinlein selbst hatte vorher bereits Luises ersten Mann verspeist. In seinem Antrag an Luise spricht er von der Heirat als „Wiedergutmachung“.

Dies ist eine der vielen Anspielungen Elsners auf Verdrängen und Vergessen des faschistischen Massenmords.
In einer Beschreibung einer katholischen Prozession erzählt Elsner von einem der Teilnehmer, dem Kriegsversehrten Herr Kecker; ein Täter, der sich mit seinen Krücken und mit seinem Beinstumpf als Opfer inszeniert.
Während der Prozession lässt er sich vor aller Augen auf einer Bahre tragen. Er und seine Opferinszenierung werden so zum eigentlichen Mittelpunkt des Geschehens. Die Träger beschimpft er als Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Das Kapitel endet:
„Frömmlinge, die! Inquisitorengesocks!“, hörte ich den Herrn Kecker schreien.
Mich ausquetschen wollen! Mich! Kein Sterbenswörtchen werden sie erfahren. Mich bringt man nicht zum Reden! Nicht so leicht! Auch nicht mit solchen Methoden! Eher beiß ich mir die Zunge ab! Eher reiß ich mir die Zunge raus!“ Dann rannten die Träger ums Eck.“

Nach ihrem zweiten Roman „Der Nachwuchs“ von 1968 begann Elsner, sich von ihrem bisherigen großen Vorbild Franz Kafka zu lösen.
Kafka, in ihren „jungen Jahren (..) ein konkurrenzlos dastehender literarischer Gott“, attestierte sie später einen „verderblichen“ Einfluss, seiner Prosa „entrückte Weltferne“.
Demensprechend stellte Elsner ab Ende der 1960er Jahre ihr eigenes Werk vom Kopf auf die Füße.
Sie wechselte von der grotesken zu einer realistischeren Schreibweise; vom Absurden und Parabelhaften zur Gesellschaftssatire.
Mit dem Roman „Das Berührungsverbot“ (1970) versuchte sich Elsner 20 Jahre vor Elfriede Jelineks Roman „Lust“ in einer Art Anti-Porno. Es war ihre Reaktion auf die Welle der sexuellen Befreiung, die sie für keine wirkliche Befreiung hielt.
Der Roman beschreibt eine Gruppe von Ehepaaren, die sich im Partnertausch versuchen. Dieser Versuch scheitert und mündet in Gewalt.

Als gebildete Marxistin wandte sich Elsner in ihren Satiren zunehmend auch ökonomischen Themen zu. In ihrem 1977 erschienenen Roman „Der Punktsieg“ beschreibt sie einen Großunternehmer, der für die SPD Wahlkampf macht. Das politisch-ökonomische Programm eines „sozialen Unternehmertums“ entlarvt sie als unmöglich.

Gisela Elsner ordnete sich als Schriftstellerin den Bedingungen des Literaturbetriebs nicht unter. Sogenannte Frauenliteratur, Psychologisieren, Subjektivität und Innerlichkeit lehnte sie ab.
Weil sie als Frau über Dinge schrieb, die andere Schriftstellerinnen nicht schrieben, also über die herrschenden Zustände, sah sie sich schon in ihren frühen Jahren Angriffen der Kritik ausgesetzt. Elfriede Jelinek in einem Essay über ihre Kollegin: „Gisela Elsner steht mir als Schriftstellerin sehr nahe und sie geht mir sehr nahe; in der Verzweiflung über die Verachtung des weiblichen Werks finde ich mich wieder (...) Sie (die Frau) darf die Wirklichkeit bedienen, aber sie darf sie nicht beschreiben, so wie sie ist.“
Die Wirklichkeit beschrieb Elsner mit ihrem unverwechselbaren Stilmittel langer Schachtelsätze voller Redundanz und Wiederholungen.
Mit ihrer fordernden und geradezu folternden Syntax verstand sie es, Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse in ihrer ganzen Stupidität und Brutalität darzustellen.

Nach ihrem letzten Erfolg „Abseits“ von 1982, der Roman war im deutschsprachigen Raum ihr absatzstärkstes Buch, geriet Gisela Elsner selbst ins literarische Abseits. Ihr Werk, das laut Selbstauskunft in 20 Sprachen übersetzt worden war, wurde von Verlagen und Kritik verkannt.
In ihrem Spätwerk befasste sich Elsner wieder verstärkt mit dem Faschismus, so unter anderen in dem Roman „Heilig Blut“, für den sie in Deutschland keinen Verleger fand.
„Heilig Blut“ handelt von vier älteren Herren, allesamt alte Nazis, die jedes Jahr einen mehrtägigen Jagdausflug in den Bayerischen Wald unternehmen. Diesmal jedoch ist einer dieser Herren, Herr Gösch, erkrankt und schickt seinen Sohn, den „jungen Gösch“ mit.
Die Atmosphäre ist von stetig wachsender Feindseligkeit geprägt. Die Herren Hächler, Lüßl und Glaubrecht werden unter anderem mit „kehlige(m) Gelächter“ als menschliche Wölfe dargestellt.
Nachdem nun aus einer Forschungsstation in der Nähe von Heilig Blut zwölf echte Wölfe ausbrechen, beginnt eine Jagd mit erwartbar tödlichem Ausgang.
In ihrem Roman verknüpft Elsner die katholische Blut-Verehrung mit dem Blut- und Boden-Kult der Faschisten. Sie entlarvt damit den irrationalen Charakter einer mörderischen Ideologie.
Das Manuskript von „Heilig Blut“ wurde von Elsners Hausverlag Rowohlt abgelehnt. Mit der Autorin befreundete Redakteure und Mitarbeiter der DKP-nahen Literaturzeitschrift „kürbiskern“ bemühten sich daraufhin um Vermittlung in der Sowjetunion.
1987 erschien der Roman in der Übersetzung der Germanistin Nina Litwinez zusammen mit weiteren Erzählungen im Band „Chailigbljut“ im Moskauer Raduga Verlag.
In einem Interview mit der DKP-Zeitung Unsere Zeit vom September 1987 erklärte Elsner zu diesen Vorgängen trocken:
„Im Falle meines antifaschistischen Romans 'Heilig Blut' habe ich, etwas jenseits der Legalität, die Weltrechte für diesen Roman an den größten sowjetischen Verlag verkauft. Das Buch erscheint demnächst in der UdSSR, wo man es für mein bestes Buch hält, während es hier von drei Verlagen als 'mißlungen' abgelehnt wurde. Was daran mißlungen war, sagte man mir allerdings nicht. Zu meiner Freude wird der Roman jetzt nicht etwa vom Deutschen, sondern vom Russischen ins Bulgarische übersetzt. Ob man ihn daraufhin vom Bulgarischen ins Sudanesiche oder Koreanische übersetzen wird, kann ich momentan noch nicht sagen“.
Erst 2007, zu Elsners 70. Geburtstag und 15 Jahre nach ihrem Tod wurde der Roman vom Verbrecher Verlag erstmals auf Deutsch publiziert.

Gisela Elsner fertigte in den 1980er Jahren einige weitere Romanmanuskripte an, die sie vielleicht aus Resignation über ihre zunehmende Missachtung von sich aus nicht bei Verlagen einreichte.
Ein besonders gelungenes Beispiel hierfür ist „Otto der Großaktionär“, der erstmals 2008 erschien.
Otto Rölz arbeitet als „sogenannter Tierbetreuer“ bei Tierversuchen in einer Schädlingsbekämpfungsmittelfabrik. Er kauft fünf Aktien „seiner“ Firma und fühlt sich als stolzer Miteigentümer. Einsparungen führen zu Arbeitszeitverkürzungen. Da das Gehalt nicht mehr ausreicht, sieht sich Otto Rölz dazu gezwungen, sich der Firma als Versuchsperson für chemische Kampfstoffe zur Verfügung zu stellen. Der soziale Abstieg Ottos ist dennoch nicht aufzuhalten. Die Aktien verlieren an Wert und müssen verkauft werden; er wird entlassen.
Der Roman enttarnt die Illusionen einer Klassengleichheit. Er stellt aber auch die Profite deutscher Großkonzerne an Waffen und historisch an der Herstellung von Zyklon B dar, das von der IG Farben ursprünglich auch als Ungeziefervertilgungsmittel entwickelt worden war. In ihrem Roman deutet Elsner dies mit dem Tierversuchstrakt an, der von den Arbeitern das „AUSCHWITZEL“ genannt wird.
In den 1980er Jahren begann eine schleichende Entfremdung zwischen dem Rowohlt Verlag und seiner einstigen Starautorin. Gisela Elsners „Marktwert“ war gesunken, die Vorschüsse für ihre Bücher wurden immer geringer.
Mit dem neuen Verlagsleiter Michael Naumann überwarf sie sich und Ende der 1980er Jahre wurde die Verlagsbindung aufgehoben.

Gisela Elsner wechselte zum Zsolnay Verlag, in dem 1989 ihr letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Roman „Fliegeralarm“ erschien. „Fliegeralarm“ erzählt von einer Gruppe von Kindern, die in den letzten Kriegsmonaten in den Bombenruinen von Nürnberg ein KZ nachbauen. Der Roman wurde von der Kritik völlig missverstanden.

Foto: Jens David
1991 wurde Elsners Werk vom Rowohlt Verlag verramscht. Sie selbst sprach vom „großen Elsnerräumungsschlussverkauf“.

Ab Anfang der 1990er Jahre litt Gisela Elsner zunehmend unter den Folgen ihrer Alkohol- und Tablettensucht. Es bestand die Gefahr, dass ihr wegen des Rauchens ein Bein abgenommen werden müsste. Neben den gesundheitlichen Umständen waren es sicher auch ihre finanzielle Situation und die politische Desillusionierung, die ihr zu Schaffen machten. Gisela Elsner war Kommunistin. Der DKP blieb sie mit einer kurzen Unterbrechung bis zu ihrem Tod treu. Vom Ende des Realsozialismus wurde sie schwer getroffen.
Im Juni 1990 zog Elsner nach Ostberlin. Vielleicht war ihr Vorbild dafür ihr Schriftstellerkollege und Freund Ronald M. Schernikau, der nach dem Mauerfall 1989, als viele den Weg von Ost nach West suchten, erfolgreich die Einbürgerung in die DDR beantragte. Nach nur drei Tagen kehrte sie nach München zurück.
Knappe zwei Jahre später erlitt sie einen psychischen Zusammenbruch und wurde in eine Münchner Klinik eingeliefert. Wenige Tage später, am 10. Mai 1992, beging sie dort durch einen Fenstersturz Selbstmord.

Nach ihrem Tod geriet Gisela Elsner, sofern dies nicht schon davor der Fall war, zunächst in Vergessenheit.
Ihre Person wurde erst im Jahr 2000 durch den Film „Die Unberührbare“ mit Hannelore Elsner, die nur den Namen mit ihr gemein hat, wieder bekannter. Regisseur ist ihr Sohn Oskar Roehler.
Kennt man Leben und Werk der Elsner noch nicht, mag der Film faszinieren. Doch wird ihr Alter Ego hier vorrangig als nikotin-, alkohol- und tablettenabhängige, paranoide Person dargestellt. Das bedeutende literarische Werk von Gisela Elsner tritt völlig in den Hintergrund. So ist, gewollt oder nicht, im ganzen Film kein einziges Buch zu sehen.
Auch in weiteren Filmen verarbeitete Oskar Röhler die gestörte Mutter-Sohn-Beziehung und zeichnete das Bild seiner Mutter negativ. In „Die Quellen des Lebens“ tritt Lavinia Wilson als Elsner auf, in „Tod den Hippies. Es lebe der Punk“ Hannelore Hoger.

Um die Wiederentdeckung des Werks von Gisela Elsner haben sich der Verbrecher Verlag und insbesondere die Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel verdient gemacht, die Herausgeberin der Werkausgabe ist. Seit 2002 sind zehn Bände wieder oder erstmalig erschienen, zuletzt 2016 das Romanfragment „Die teuflische Komödie“.

In einem behielt Gisela Elsner in ihrem Selbstnachruf recht:
Maßgeblich von Prof. Christine Künzel initiiert, wurde im Mai 2012 am Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg die „Internationale Gisela-Elsner-Gesellschaft“ gegründet, die regelmäßig Symposien veranstaltet und deren Mitglieder intensiv zu Leben und Werk der Schriftstellerin forschen.
Auch im Feuilleton wird Gisela Elsner wiederentdeckt; ihre wieder- oder erstaufgelegten Werke werden durchaus positiv besprochen.
Offenbar schätzt man ihr Werk heute mehr als zu ihren Lebzeiten. Und wenn es nicht geschätzt wird, wird es zumindest wieder wahrgenommen.
Vielleicht wird sich so eine weitere Prophezeiung aus ihrem Selbstnachruf bewahrheiten. Elsner abschließend in ihrer „Auferstehung“:
„Wer keine Tränen vergießen wird, soll Gisela Elsner gesagt haben, der wird zumindest schwitzen.“

Die Gisela-Elsner-Werkausgabe erscheint im Verbrecher Verlag.
Nähere Informationen zu Leben und Werk von Gisela Elsner finden sich auf der Seite der Internationalen Gisela-Elsner-Gesellschaft.

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