Skip to content

Was mir heute wichtig erscheint #275

Bauplan: Der Technikvorstand der Deutschen Bahn hat in einem Brief an Verkehrsminister Winfried Hermann die Bauarbeiten beim Projekt Stuttgart 21 der nächsten Wochen wie bei "bei-abriss-aufstand" festgelegt.

Sichtbar_Unsichtbar: Die 5. Ausgabe von krtitisch-lesen ist erschienen. "Es geht in dieser Ausgabe um Fem(me)_ininitäten und damit um Sichtbarkeiten, um Politiken, um queere Gender, um radikale und lustvolle Aneignungen weiblich konnotierter Attribute und gleichzeitig wieder um ihren Bruch. Es geht um Begehren und Aufbegehren: Begehren außerhalb der heterosexuellen Matrix und Aufbegehren gegen patriarchale Strukturen, (Hetero)Sexismus, Trans*phobie und die Reduktion auf passive Rollenklischees. Es geht darum, dass Fem(me) einer „Kampfansage an die traditionellen Vorstellungen von Femininität als schwach, hilflos und unbedeutend“ gleichkommt und damit ein „Ort des Widerstands– ist. Und um viel mehr! (...)".

Versalzt: "Fast schon traditionell versammelten sich auch in diesem Jahr am Pfingstsonntag im Rahmen des wöchentlichen Sonntagsspaziergangs mehrere hundert Menschen am Erkundungsbergwerk in Gorleben. Die diesjährige Aktion stand unter dem Motto: "Gorleben versalzen!". Die Demonstrierenden wollten symbolisch mit Schubkarren das Salz der Salzhalde zurück zum Bergwerk bringen, um zu zeigen, dass Gorleben als Endlagerstandort aufgegeben werden muss. Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg fordert von der Bundesregierung wirkliche Ambitionen Alternativen zu Gorleben als Atommüllendlager zu suchen." Das Video "Gorleben versalzen!" zur Pfingstaktion an der Salzhalde.

nachschLAg: Ein unvollständiger Wochenrückblick über die Entwicklung in Lateinamerika.

Verdickt: "Die 30ste Ausgabe des Antiberliners ist erschienen. Da ab 30 alle in die Breite gehen ist auch diese Ausgabe doppelt so dick wie alle bisherigen, 16 Seiten statt 8. Schwerpunkt der Ausgabe sind die Revolten in diversen arabischen Ländern, auch um die »Empörten« aus Spanien gehts in einem Artikel. Weiterhin betrachten wir den Pseudoatomausstieg und den Einstieg in den Generalverdacht der Extremismusklausel. Diese bedroht sicherlich all jene, die sich den Nazis in Kreuzberg entgegenstellten, was in einem weiteren Artikel reflektiert wird." Antiberliner liegt kostenlos in Kneipen, Cafes oder linken Buchhandlungen aus, kann man aber auch hier downloaden. (Via redblog). Samstag, 18. Juni um 23:00 beginnen übrigens im Rauchhaus (Mariannenplatz 1a/Kreuzberg) die Geburtstagsfeierlichkeiten.

Heiligtum: Das heilige Grabtuch wurde vor kurzem endgültig als Fälschung entlarvt. Macht nichts. David Sowka hat eine Alternative.

Amtlich: "(...) Wer sich je über DIE LINKE Illusionen gemacht hat, dieser Beschluß zur Selbstkastrierung sollte die Augen öffnen: ... Wir werden uns weder an Initiativen zum Nahost-Konflikt, die eine Ein-Staaten-Lösung für Palästina und Israel fordern, noch an Boykottaufrufen gegen israelische Produkte noch an der diesjährigen Fahrt einer 'Gaza-Flottille' beteiligen. Wir erwarten von unseren persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Fraktionsmitarbeiterinnen und Fraktionsmitarbeitern, sich für diese Positionen einzusetzen." (...)" Kommentar von Franz Iberl zu einer beschämenden Positionierung der Bundestagsfraktion der "LINKEN". Der lesenswerte Hinweis auf den Beitrag von Moshe Zuckermann sei nochmals unterstrichen und auf die Stellungnahme von Andrej Hunko sowie von Annette Groth hingewiesen. Siehe auch: Interview mit dem Sozialwissenschaftler Peter Ullrich zur Antisemitismusdebatte in der Linkspartei sowie: "Pax Christi: Brief an den Vorstand der Fraktion DIE LINKE".

Zusammenbruch: Internet-Aktivisten haben nach der Festnahme von drei Mitgliedern ihres Netzwerks die Homepage der spanischen Polizei mit einem Denial-of-Service-Angriff kurzzeitig lahmgelegt. Mehr bei heise.de. Währenddessen mussten die Demonstranten ihre Zeltlager in den Zentren von Madrid und Barcelona weitgehend räumen.

Abschreckung: Auf ihrem jüngsten Treffen Ende letzter Woche in Brüssel haben die Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedsstaaten eine Erklärung verabschiedet, um die Bedeutung "moderner Technologien für Grenzschutzzwecke" der EU-Außengrenzen zu bekräftigen. Allerdings gehen die Pläne weit über die Erklärung hinaus. Matthias Monroy befasst sich mit den geplanten Maßnahmen zur "Migrationsabwehr".

Bewegte Blicke

ak wantok (Hg.)
Perspektiven autonomer Politik

Im Sammelband wird umfassend und abwechslungsreich der Ist-Stand der autonomen Bewegung im deutschsprachigen Raum nachgezeichnet.
Widerstände haben unterschiedliche Inhalte, Ausdrucksformen und Zielsetzungen. Anhand der Geschichte der radikalen Linken lässt sich zeigen, wie je nach Wissenstradition und Positionierung scheinbar entgegenstehende Wege betreten wurden. Eine häufig gestellte Frage seit jeher war die nach der Organisationsform: Partei oder Bewegung? Die Konfliktlinien verlaufen keineswegs nur entlang der Grenze von „Traditionsmarxismus“ und Anarchismus. In Deutschland entstand aus den Erfahrungen der Siege und Niederlagen um 1968 und unter dem Eindruck internationaler Kämpfe in den 1970er und 1980er Jahren die sogenannte Autonome Bewegung. Sowohl im Mainstream als auch bei manchen radikalen Linken werden seitdem Zerrbilder dieser Bewegung gezeichnet und nachgebildet. Die Klischees änderten sich mit der Zeit: Aus Terroristen wurden Hausbesetzer, bevor sich alle anschließend im schwarzen Block wiederfanden.

Der vom AK Wantok herausgegebene Band „Perspektiven autonomer Politik“ räumt mit diesen Bildern auf und zeigt das umfassende Spektrum an Themen auf, um die sich die vergangenen und aktuellen Diskussionen drehen. Die Themen der über 50 Texte reichen von „Politik und Alltag“, „Freiraumpolitik“, „Organisationsformen“, „Taktiken“, „Internationalismus“ bis hin zu bekannten und mittlerweile meist nur noch gähnend langweiligen Debatten zwischen „Anti-Imps“ und „Anti-Deutschen“. Gestaltet sind die einzelnen Beiträge zudem nicht vom AK Wantok allein, es kommen in Interviews zahlreiche Aktivist_innen zu Wort. Diese Perspektivwechsel belegen eines: Autonome Politik ist vielseitig und nicht auf wenige Punkte zu begrenzen. Die Herausgeber_innen stellen in der Einleitung klar, die Auswahl der Themen „hätte zweifelsohne eine andere sein können“ (S. 13). Es gelingt ihnen dennoch einen umfassenden Blick über die Trümmer und Errungenschaften der Bewegung und den Ist-Stand zu offenbaren. Sie widerstehen glücklicherweise der Versuchung, eine Definition vorzunehmen, denn „einheitliche Glaubensgrundsätze autonomer Politik hat es noch nie gegeben, und das macht einen großen Teil der Attraktivität und historischen Stärke der Bewegung aus.– (S. 8) Als gemeinsamer Bezugspunkt könne dennoch ein libertär linkes Grundverständnis, das auf individuelle und kollektive Freiheit abzielt, betont werden.

Es liegt auf der Hand, dass es bei den Kämpfen für Freiheit, Solidarität und Selbstbestimmung nie nur um Praxis oder Theorie geht. Dennoch zieht sich die Frage nach dem Zusammenhang von Theorie und Praxis durch den Band. Wolf Wetzel (L.U.P.U.S.-gruppe) meint zur Rolle der Theorie, dass eine Analyse nicht dazu da sei, „die Wahrheit gefunden, sondern einen Faden gelegt zu haben, an dem man sein Tun ausrichtet“ (S. 26). Er kritisiert das gegenwärtige Verhältnis von Theorie und Praxis und beschreibt diese als „zwei völlig fremde und selbstverliebte Universen“ (S. 30).

Antirassistische und antisexistische Praxen


Dieses Problem zeigt sich zum Beispiel beim Thema Rassismus. Dort hat sich vor allem im universitären Rahmen in den letzten Jahren mit der Kritischen Weißseinsforschung einiges innerhalb der Linken getan. Problematischerweise wird kaum über diesen Rahmen hinaus agiert, was auch Katrin Landesfeind in einem Interview thematisiert. Die Aktivistin Verena schildert in einem Gespräch außerdem sehr anschaulich, wie sich institutionalisierte antirassistische Lohnarbeit mit autonomer Politik verbinden lässt –“ und wo die Grenzen liegen. Der Reformismus-Vorwurf, der bei der Arbeit in breiten Bündnissen hin und wieder aufkommt, sei eine „unproduktive Dichotomie“, denn realpolitische Kampagnen wie die gegen die Residenzpflicht seien „kein Gesichtsverlust, kein Eingeständnis an den Staat und Verlust radikaler Ideale. Es ist Solidarität. Wie kann so etwas im Gegensatz zu radikaler Politik stehen?“ (S. 298) Außerdem werden in dem Antirassismus-Kapitel zwei Texte der Antifa Genclik aus den Jahren 1989 und 1995 dokumentiert. In letzterem reflektiert das Gründungsmitglied Ercan Yasaroglu die Gründe für die Auflösung der Gruppe. Das Papier zeigt, wie notwendig Reflexionen innerhalb der weiß-dominierten autonomen Bewegung sind. In einem das Kapitel abschließenden Gespräch machen drei migrantische Aktivist_innen auf strukturelle Probleme innerhalb der autonomen „Szene“ aufmerksam. Auf die Frage, warum die „Szene“ so weiß sei, wird z.B. darauf verwiesen, dass es sich vornehmlich um ein „sozial-strukturelles und subkulturelles Problem“ handele (S. 320). Die „Szene“ sei an vielen Orten sehr homogen und klein, was den Einstieg problematisch mache. Außerdem sei oft eine eurozentristische Sichtweise vorzufinden.

Im Kapitel Geschlechterverhältnisse / Sexualität wird –“ der auch bei radikal Linken vorhandene –“ Sexismus diskutiert. Es geht beispielsweise um Paternalismus, der die Aktivist_innen immer wieder vor die Frage stellt, welche Rolle Männer in Frauenpolitik spielen sollen und können. Oder die Frage der Definitionsmacht –“ dem Recht der Betroffenen sexualisierter Gewalt zu definieren, was sexualisierte Gewalt ist –“ zu dem es laut dem AK Wantok „einfach keine Alternative gibt.“ (S. 124) Auch der Vorwurf der Identitätspolitik von feministischer Arbeit, der häufig aus queeren Zusammenhängen fällt, wird unter mehreren Gesichtspunkten vor allem vom Antisexismusbündnis Berlin betrachtet. Die Infragestellung und Dekonstruktion binärer Geschlechternormen sei zwar ungemein wichtig, aber es wäre „Quatsch zu behaupten, dass Geschlechterkategorien mitsamt ihrer macht- und gewaltvollen Dimension keine Rolle spielen.“ (S. 149) Konsens aller Beiträge ist, dass der antisexistische Kampf nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wirken muss –“ reflexiv und solidarisch.

Kapitalismus und Metropolen


In den beiden Kapiteln zu Antimilitarismus und Antikapitalismus zeigt sich, wie sich unterschiedliche Ansätze im Kampf gegen Prekarisierung und Militarisierung herausgebildet haben. Ein Verwerfen der Theorie des Hauptwiderspruchs, nach der die Ökonomie die Ursache allen Übels ist, führte nicht dazu, dass die Kritik am Kapitalismus in der autonomen Bewegung keine Rolle mehr spielt. Selbst wenn die Grenzen der Autonomie auch mal strapaziert werden –“ wichtig ist auch hier Vernetzung und praktische Solidarität.

Neben diesen erwartbaren und dennoch nicht langweiligen Feldern, finden sich im Buch Themen, die bisher wenig Berücksichtigung in den einschlägigen Zeitschriften und Diskussionszirkeln fanden. Besonders empfohlen sei an dieser Stelle das Kapitel zur Metropolenpolitik. Anhand mehrerer Interviews mit Menschen, die die Bewegung sowohl aus städtischen wie aus ländlichen Wohnzusammenhängen kennen, wird deutlich, dass autonome Politik auf dem Land spezifischer an die Lebensbedürfnisse anknüpft. Hier kann autonome Arbeit direkt die kollektiven und individuellen Bedürfnisse erfüllen und alltagssolidarische Netzwerke sind mitunter unabhängiger. Im Gegensatz zum Leben in der Stadt ermöglicht das Landleben eher direktere Kommunikation mit Menschen außerhalb der bekannten Kreise, wodurch linke Themen breiter platziert werden können. Außerdem werden Erfahrungen von Menschen geschildert, die vom Land in die nahezu mystifizierten „Szenen“ in den Städten eintauchen wollten und sich mit Verschließungen und „metropolenautonome[r] Szenearroganz“ (S. 162) konfrontiert sahen.

Positionen und Perspektiven


In der Einleitung wird ein ursprünglich 1981 in der radikal erschienenes und 1995 überarbeitetes Thesenpapier dokumentiert, in dem versucht wurde, eine Positionsbestimmung der autonomen Bewegung vorzunehmen. Demnach gehe es beispielsweise um eine Politik der ersten Person (Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung), den Zusammenhang von Reform und Revolution, die Aufhebung der entfremdeten Arbeitsverhältnisse, die Herstellung von Gegenmacht sowie um Freiräume, Reflexion und die Abkehr von parteiförmigen Organisationsstrukturen und den Staat als positiven Bezugsrahmen. Am Schluss des Sammelbands präsentiert der AK Wantok „21 Thesen zur Zukunft der autonomen Bewegung“. Diese können als Erweiterung des Thesenpapiers von 1981/1995 gelesen werden. Die Herausgeber_innen appellieren für den Aufbau und den Erhalt von autonomen Strukturen, da dies Orte für „subversive Gegensubjektivierung“ seien (S. 402). Die eigene Homogenität, die sozialen Positionen und Privilegien müssten hinterfragt werden, um sich öffnen zu können und um Unterdrückungsverhältnisse wie Sexismus und Rassismus auch innerhalb der autonomen Bewegung bekämpfen zu können. Ebenfalls viel Raum wird der Unterschiedlichkeit eröffnet:

„Fatal für eine undogmatische radikale Linke wäre eine Gegennormierung, die ebenso wie gesellschaftliche Normierung Gewalt ausübt. Wollen wir nicht nur den König vom Pferd ziehen, sondern auch das Pferd befreien, kann es nur um Pluralisierung, Perspektivierung und Entideologisierung gehen.“ (S. 403)

Das beinhalte eine Abkehr von Ein-Punkt-Politik. Vielmehr sollte es darum gehen, die verschiedenen Unterdrückungsverhältnisse zusammen zu denken und deren gegenseitige Stützen und Verschränkungen zu analysieren und zu bekämpfen. Dazu gehöre auch, das gemeinsam erarbeitete Wissen weiterzugeben –“ ohne einem Wahrheitsanspruchs zu erliegen. Bei der Weitergabe von Wissen und in den laufenden Diskussionen sollte sich um einen intellektuellen Diskurs bemüht werden, wobei die sprachlichen Zugangsbarrieren so niedrig wie möglich gehalten werden müssten. Doch –“ so wird schließlich festgestellt –“ seien Thesen bedeutungslos, „wenn sie keinen realen Ausdruck finden. Dies ist als Aufforderung zu verstehen. Eine Bewegung, die sich bewegt, wird weitergehen!“ (S. 406)

Das gezeichnete Bild der autonomen Bewegung lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Vielleicht erscheint es für manche schief, für andere verschwommen, von manchen Seiten farblos, von der entgegengesetzten Seite knallbunt. Perspektiven autonomer Politik zeigt offensiv und in sehr verständlicher und ansprechender Weise Facetten der Geschichte und Gegenwart autonomer Politik auf. Zukunftsgerichtete Perspektiven werden jedoch nur angedeutet. Perspektiven also eher im Sinne der Bedeutung „Hindurchsehen“ und „Hindurchblicken“ verstanden. Fokussiert werden die unterschiedlichen Blickwinkel und Sichtweisen innerhalb der autonomen Bewegung, womit zugleich deren Stärke dargestellt wird. Durch eine Sensibilität für die verschiedenen Perspektiven und Schwerpunktsetzungen und der Schärfung der Verbindungslinien zwischen den Themen eröffnen sich Räume für gemeinsame Widerstände –“ oder wie es in den 21 Thesen angedeutet wird: Es geht darum, „Widerstandsnetze“ zu knüpfen (S. 404). Dieser Blickwinkel zieht sich durch den Sammelband und macht Perspektiven autonomer Politik auch deshalb sehr lesenswert. Vor diesem Hintergrund erscheint das Risiko der Kanonisierung, des Festschreibens der Themen der Bewegung, abgemildert. Dem AK Wantok geht es „nicht darum, Wahrheiten zu verbreiten, autonome Politik oder Identität zu normieren, sondern konkrete Vorschläge zur Diskussion anzubieten“ (S. 13). Das ist mehr als gelungen, denn eines könnten die verschiedenen Perspektiven und individuellen Blicke gemeinsam haben: Die Blickrichtung –“ und die Erkenntnis, dass hinter scheinbar Statischem wirbelnde und wuselnde Dynamiken sichtbar werden können. Solange nur alles in Bewegung bleibt.

ak wantok (Hg.) 2010: "Perspektiven autonomer Politik". Unrast Verlag, Münster.

ISBN: 978-3-89771-500-4. 400 Seiten. 18.00 Euro.

Erstveröffentlichung durch Andrea Strübe und Sebastian Friedrich unter kritisch-lesen.de Nr. 2

kritisch-lesen.de gestartet

Heute startete nach monatelanger Vorbereitung das Projekt kritisch-lesen.de mit der Null-Ausgabe. kritisch-lesen ist eine Seite, auf der alle zwei Wochen Ausgaben mit Buchrezensionen zu verschiedenen Themenschwerpunkten erscheinen. Darüber hinaus werden in jeder Ausgabe auch aktuelle Besprechungen zu anderen Themen veröffentlicht. Laut Selbstverständnis geht es kritisch-lesen.de darum, linke Gegenöffentlichkeit zu stützen, aktuelle Diskussionen zu begleiten und im besten Fall anzuregen. Mehr Informationen zu den Motivationen und Zielen sowie einer Analyse zur Notwendigkeit von Gegenöffentlichkeit in Zeiten des Internets finden sich in dem Selbstverständnis.

kritsch lesen heißt handeln!

In dieser Analyse wird die Frage beantwortet, warum (noch) ein Projekt speziell für Rezensionen notwendig ist, wenn doch in unzähligen Publikationen Buchrezensionen erscheinen. kritisch-lesen.de geht es um „Gegenöffentlichkeit, unterschiedliche und erleichterte Zugänge, die Begleitung aktueller Diskussionen und direktes Handeln“. Speziell der letzte Aspekt macht Hoffnung auf ein interessantes, spannendes und wichtiges Projekt. Im Selbstverständnis heißt es:

"Wir wollen „kritisch“ sein, indem wir nicht übernehmen, was nicht vorher um- und umgedreht wurde. Wir wollen kritisch im Bewusstsein des Zeitverlaufs sein. In diesem Sinne wollen wir uns zwar auf die viele Annahmen von früheren Analysen beziehen, jedoch keine davon schlicht auf heute anwenden, ohne die Veränderungen zu beachten und mitzudenken. Die Vorstellung, im Schnellzug der Geschichte zu sitzen, die Zukunft gewiss in der Hand zu haben, führte und führt ins Elend. Wer meint, im Voraus zu wissen was sein wird, ergibt sich! „Kritisch“ erhält somit einen entscheidenden weiteren Sinn: Die Erfahrungen aus den Niederlagen der Vergangenheit sind zu bewahren, zu reflektieren –“ und weiterzugeben. Wir wollen nicht auf einem Gleis ohne Weichen eingreifen, sondern im Rundgang durch das Umfeld von herrschenden und linken Begriffen und Deutungen. Auf diese Weise wollen wir das Trümmerfeld der Gegenwart offenbaren als eines, in welchem die Produktionen und Überreste von Gewiss- und Sicherheiten zerstört werden müssen, um den Blick ins Freie zu schaffen. Somit wollen wir dem Begriff Kritik den Geschmack des Nörgelns, des grämlichen Sofahockertums nehmen, das sich mit nichts abfinden mag. Kritik in diesem Sinn verstehen wir als Breschenschlagen, als Aussicht schaffen, als Sich-Umblicken in einer Gegend, die altbekannt und doch völlig neu auftreten kann. Somit geht es uns nicht nur um kritisches lesen der reinen Theorie wegen. Wir wollen Handreichungen für die Praxis liefern, Werkzeuge für die Veränderung. Kritik ist deshalb nicht ohne Praxis machbar –“ wie Praxis nicht ohne Theorie denkbar ist."

Reichhaltiges Archiv

Wie der Einleitung von Ausgabe Null zu entnehmen ist, finden sich bereits zahlreiche Besprechungen aus dem stattweb-Archiv. Bei stattweb.de waren einige der Autor_innen von kritisch-lesen.de aktiv, bevor das Projekt im Juli letzten Jahres eingestellt wurde. In Ausgabe Null schöpfen die kritisch-lesen.de-Macher_innen aus dieser Fundkiste und präsentieren 15 hervorragende „alte“ Besprechungen. Es zeigt sich hier bereits das weite Feld, in dem kritisch-lesen.de agieren möchte. Neben einer Analyse zu den gesammelten Ausgaben der Weltbühne des Jahres 1932 finden sich Buchtipps wie "Autonome Nationalisten", „Bestrafen der Armen“ von Loïc Wacquant, „Tödliche Schüsse“ von Wolf Wetzel und vielen anderen. Aber auch Analysen von Büchern, die nicht explizit empfohlen werden, tauchen bei kritisch-lesen.de auf. Beispielsweise wird „Die Vier“ von Volker Zastrow zum Anlass genommen, um anhand der Stimmenverweigerung von vier SPD-Abgeordneten im hessischen Landtag angesichts einer damals geplanten Wahl Andrea Ypsilantis zur Ministerpräsidentin grundsätzliche Überlegungen zum Gewissen anzustellen. Laut Rezensent Sebastian Friedrich liegt „die große Erkenntnis aus der Lektüre von Zastrow“ darin, dass dieser „trotz aller Umständlichkeiten, vielleicht sogar gegen seine Absicht, das Heiligtum der Abgeordneten –“ das Gewissen –“ zerstörte“. Im Übrigen findet sich auch eine ältere Besprechung von Thomas Trueten bei den aufgelisteten Archiv-Besprechungen, bei der die Angriffe auf das Buch „Stuttgarter NS-Täter“ im Mittelpunkt stehen.

Vier neue Besprechungen

Außerdem wreden bereits in dieser Ausgabe vier aktuelle Bücher besprochen. Anlässlich der Wahlerfolge der Grünen am letzten Wochenende und einem voraussichtlich grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg hat sich Fritz Güde das Buch „Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun. Die Grünen“ von Jutta Ditfurth vorgenommen, in dem die Geschichte der Partei von anfänglichem Idealismus bis heutigem Pragmatismus kritisch nachgezeichnet wird. Ein weiterer - bereits vorab bei trueten.de veröffentlichter - Artikel widmet sich dem Kriminalroman „Wo die Löwen weinen“ von Heinrich Steinfest, der die Brisanz um das Thema Stuttgart21 in eine fiktive Geschichte einbindet. Auch zwei Publikationen aus dem Unrast Verlag werden in der Ausgabe besprochen. Zum einen wird der Sammelband „Rechte Diskurspiraterien“ aus dem Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung wärmstens empfohlen. In diesem Sammelband werden die Vielschichtigkeit der Adaptionen linker Codes und Inhalte von der extremen Rechten untersucht und Gegenstrategien entworfen. Zum anderen wird Gabriel Kuhns Einführung zur Straight Edge-Bewegung besprochen

Auf der Seite ist es möglich, sich bei einem Newsletter einzutragen, um immer rechtzeitig über die neuesten Ausgaben per Mail informiert zu werden werden.

http://www.kritisch-lesen.de

Selbstverständnis: http://www.kritisch-lesen.de/uber-uns
Aktuelle Ausgabe: http://www.kritisch-lesen.de/2011/03/kritisch-lesen-de-startet

Sie leben!

Buchcover
Gestern hatte ich Post von Unrast bekommen und gleich "Nachtschicht" eingelegt, um mir die ersten Beiträge im vom ak wantok herausgegebenen neuen Buch "Perspektiven autonomer Politik" reinzuziehen: Das Interview mit Wolf Wetzel beispielsweise zur Frage autonomer Theoriearbeit, deren Zusammenhang zur Praxis und zu den Möglichkeiten und Notwendigkeiten autonomer Perspektiven. Zu Wort kommen aber auch jüngere ProtagonistInnen, die darüber diskutieren, was für sie die autonome Subkultur ausmacht oder Leute vom Versand "Fire and Flames", von "Disorder" und "Red Stuff", die zum autonomen Lifestyle und wie und ob die die Bedienung dieser Bedürfnisse mit Kapitalismuskritik verträgt befragt werden.

Angesichts der sonst trotz Ellenlänge großteils wenig vorwärtsweisenden Texte in anderen Publikationen ist das Buch längst überfällig gewesen, zumal es seit den 1990er Jahren (nach "Drei zu Eins", "Feuer und Flamme 2", "Glut und Asche", den Autonomiekongressreadern, den es auch als Reprint gibt und den l.u.p.u.s. Büchern "Geschichte, Rassismus und das Boot. Wessen Kampf gegen welche Verhältnisse" und "Lichterketten und andere Irrlichter - Texte gegen finstere Zeiten") kaum derart umfangreiches Material gab. Das Buch freut mich - besonders auch deshalb, weil es ja die durchaus verbreitete Meinung gibt, dass es keine Autonomen mehr gebe bzw. sie - außer in Griechenland usw. - keine Rolle mehr spielen. Und weil es angesichts der Themenvielfalt zeigt, dass noch einiges in der Bewegung steckt, wenn es entsprechend reflektiert wird. In dem Sinne bin ich auf den Rest der Beiträge sehr gespannt.

Der ak wantok hat in diesem Buch an die 50 Beiträge vereint, die sich mit der Geschichte, vor allem aber mit der Gegenwart und Zukunft der autonomen Bewegung auseinandersetzen. Der Textsammlung liegt die Überzeugung zugrunde, dass die autonome Bewegung nicht nur ein bedeutendes Kapitel in der neueren Geschichte linksradikalen Widerstands in Europa darstellt, sondern dass sie einen Rahmen geschaffen hat, der auch zukünftig das Schaffen und Verteidigen gegenkultureller Räume ebenso ermöglichen und stärken kann wie den Kampf gegen Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung. Aus der Einleitung: »Autonome Diskussionen finden auf Treffen statt, auf Veranstaltungen und Demos, in Szeneblättern und Internet-Foren. Sie sind breit gefächert, vielfältig und komplex, und das ist gut so. Manchmal jedoch scheinen den Diskussionen gemeinsame Referenzpunkte zu helfen, die Debatten zusammenfassen, zueinander in Beziehung setzen und in historische Zusammenhänge rücken. Dies kann zu mehr Klarheit führen, noch einmal neue Perspektiven ermöglichen und Grundlagen für weitere lebendige Diskussionen schaffen.« (Verlagsankündigung)


ISBN: 978-3-89771-500-4
Ausstattung: br., 406 Seiten
Preis: 18.00 Euro
cronjob