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Nachtrag zur Aktion "Roter Punkt"

Bei entdinglichung gibt es als Nachtrag zur RKJ/GIM-Broschüre zur “Roter-Punkt-Aktion–, ein Flugblatt (pdf-Datei, 1 mb) der Gruppen der Revolutionär-Kommunistischen Jugend (RKJ) und der Gruppe Internationale Marxisten in Esslingen, Stuttgart, Tübingen und Fellbach von Anfang Juli 1971.

Roter Punkt in Esslingen 1971

Cover der Folien-Single "Mensch Meier"
TSS 1971 Quelle: RioLyrics
Ich hatte mich ja schon über Fahrplanstreichungen, den Komfort im lokalen öffentlichen Nahverkehr, das Thema Stuttgart 21 oder Flughafenerweiterung usw. ausgelassen. Heute vormittag erreichte mich eine nette Mail von meinen Bloggerkollegen bei Entdinglichung. Es ging darin um einen dort veröffentlichten Hinweis auf die "Rote Punkt Aktionen", die in Esslingen im Sommer 1971 stattfanden. Es gab damals nicht nur hier breite, teils militante Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen. Straßenbahnen wurden blockiert, und mittels in die Windschutzscheiben von Autos geklebten roten Punkten wurde signalisiert, daß der Fahrer gerne auch Leute mitnimmt. Mit diesem alternativen "öffentlichen Nahverkehr" wurden breitere Teile der Bevölkerung für eine praktische Unterstützung im Kampf um die Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen gewonnen. Trotz Einsatzes mehrerer hundert Polizisten gegen die Proteste gelang es nicht, die Proteste in den drei Wochen zu knacken, im Gegenteil führte das zur weiteren Politisierung vieler Jugendlicher.
Erkämpft wurden in Esslingen unter anderem die Übernahme der Preiserhöhung der Schülerkarten durch die Stadt.

Die bei Entdinglichung als Originalscan dokumentierte Broschüre der "Gruppe Internationaler Marxisten (GIM)" spiegelt zugleich einen Teil der Auseinandersetzungen in der damaligen politischen Szene wieder. Die Broschüre enthält zahlreiche Fotos und Flugblätter. Passende Musik gibt's hier. ;-)

"Wer hat noch keinen Fahrschein?"

Ab heute gilt in Baden- Württemberg ein neuer Fahrplan im Zugverkehr. Neben der ersatzlosen Streichung von vielen Verbindungen ist auch kein Fahrkartenkauf im Zug mehr möglich.

Beispielsweise fallen auf der Strecke Stuttgart - Tübingen - Stuttgart Züge aus. Die Strecke wird besonders morgens von zahlreichen Berufsschülern, die ins Berufsschulzentrum nach Nürtingen wollen oder Pendlern, die zur Arbeit müssen, genutzt. Stattweb berichtet davon, daß "die ohnedies isolierte Gegend um Wertheim noch unerbittlicher von der Welt abgeschnitten" wird. Da bin ich ja gespannt, wieviele meiner Kollegen morgen auf der Arbeit fehlen. Gestrichen werden einem "Stuttgarter Zeitung" zurfolge nach Angaben des Innenministeriums bezogen auf das gesamte Zugangebot im Land weniger als drei Prozent der Verbindungen. Dabei geht es allerdings um immerhin 2,1 Millionen Zugkilometer. Aber Hauptsache, man kommt in 3:39 Stunden per TGV nach Paris. Die Fahrplankürzungen machen meiner Ansicht nach auch deutlich, daß in der von oben geführten Klimaschutzdiskussion hauptsächlich Krokodilstränen vergossen werden. Statt einem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs - wie er eigentlich nötig und möglich wäre - wird dieser zugunsten von Prestigeprojekten wie "Stuttgart 21" zusammengeschossen. Zynisch wird es, wenn dann auch noch die Eröffnung der erwähnten TGV Verbindung als Massenevent inclusive "PublicViewing" gefeiert wird. Warum werden solche Veranstaltungen eigentlich nicht zum Protest genutzt?

Cover der Folien-Single "Mensch Meier"
TSS 1971 Quelle: RioLyrics
Und: Was soll eigentlich die Einstellung des Fahrkartenverkaufs in den Zügen? Will man "Schwarzfahren provozieren? Die paar Euro sparen, die der Fahrkartenverkauf "kostet"? Auch an dieser Frage wird der Umbau des Staates unter dem Blickwinkel des sogenannten "Neoliberalismus" deutlich: Das öffentliche Leben, soziale Errungenschaften, Interessen der Bevölkerung, all dies wird praktisch nur noch unter dem Blickwinkel betrachtet, ob das auch Profit abwirft oder nicht. Alles was drübersteht, wird radikal zusammengestichen und als einzig mögliche Alternative verkauft. Es fragt sich: Zu was eigentlich? Denn gleichzeitig werden mit der Unternehmenssteuerreform offiziell 30 Milliarden Euro Steuereinnahmen direkt in die Kassen der Großkonzerne umgeleitet bzw. verlassen diese erst gar nicht. Der ideologischen Begleitmusik zur Fahrplanstreichung sollte man sich also nicht anschließen, sondern von den eigenen Interessen ausgehen.

Ich persönlich bin natürlich gegen Schwarzfahren und statt dessen der Ansicht, daß die Forderung nach Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr gerade angesichts der Fahrplanstreichungen berechtigt und hochaktuell ist. Außerdem gäbe es keine Schwarzfahrer mehr, inclusive solcher Aktionen, wie sie in Esslingen kürzlich stattfanden. Eines meiner Lieblingslieder von den Scherben wäre nach einer Einführung eines Nulltarifs im öffentlichen Nahverkehr zwar nur noch Nostalgie - bis dahin ist der 36 Jahre alte Song noch lange kein kalter Kaffee:

Mensch Meier
Mensch Meier kam sich vor wie ne Ölsardine,
irgendjemand stand auf seinem rechten großen Zeh.
Das passierte ihm auch noch in aller Hergottsfrühe
im 29er kurz vor Halensee.
Der Kassierer schrie: "Wer hat noch keinen Fahrschein?"
und Mensch Meier sagte laut und ehrlich: "Ick!"
"Aber ick fahr schwarz und füttere mein Sparschwein"
Und der Schaffner sagte: "Mensch, bist du verrückt?"
Doch Mensch Meier sagte:

Refrain:
"Nee, nee, nee, eher brennt die BVG!
Ich bin hier oben noch ganz dicht,
der Spaß ist zu teuer, von mir kriegste nüscht!
Nee, nee, nee, eher brennt die BVG!
Ich bin hier oben noch ganz dicht,
der Spaß ist zu teuer, von mir kriegste nüscht!"

Und da sagte einer, du hast recht Mensch Meier,
was die so mit uns machen, ist der reine Hohn.
Erst wolln'se von uns immer höhere Steuern
und was se dann versieben, kostet unseren Lohn.
Doch der Schaffner brüllte: "Muß erst was passier'n?
Rückt das Geld raus oder es geht rund.
Was ihr da quatscht, hat mich nicht zu interessieren,
und wenn ihr jetzt nicht blecht, dann kostet das 'n Pfund!"
Da riefen beide:

Refrain...

"Halt mal an, Fritz!" brüllt da der BVG Knecht,
"ick schmeiß den Meier raus und hol die Polizei."
Doch die Leute riefen: "Sag mal, bist du blöd, Mensch?
Wir müssen arbeiten, wir haben keine Zeit.
Und wenn die da oben x-Millionen Schulden haben,
dann solln'ses bei den Bonzen holen, die uns beklauen.
Du kannst deinem Chef bestellen, wir fahr'n jetzt alle schwarz,
und der Meier bleibt hier drin, sonst fliegst du raus!"
Und da riefen alle:

4x Refrain...

Esslingen: Frohes Üben für Schäubles Totalüberwachung

Die Zusammenarbeit der Esslinger Verkehrsbetriebe und der örtlichen Polizei beschäftigen inzwischen auch weitere Medien:

In Esslingen ist etwas Neues und Schönes entwickelt worden: Schwerpunktkontrollen im Nahverkehr. Und das nicht etwa aus Schikane, sondern aus einer neuen Sicherheitspartnerschaft. Da werden an bestimmten Stellen Busse gestoppt und alle Insassen gewissenhaft kontrolliert. Nur vordergründig geht es dabei um Schwarzfahrer. Esslinger Zeitung O-Ton"“Die Linie 119 sei dafür extra einen Umweg in die Neckarstraße gefahren, wo die Kontrolleure warteten. Dort wurde der Bus dann gestoppt und mehrere Personen in neongelben Warnwesten überprüften jeden Fahrgast, während vor dem Bus uniformierte Polizeibeamte Wache hielten.– Immer noch laut "Esslinger Zeitung" geht es dabei in erster Linie um die Verhinderung von Gewalt und Vandalismus. Da normale Gewalttäter und Vandalen beim Nahen der Kontrollen in der Regel ihr Handwerk einstellen, ist nicht ganz leicht vorstellbar, was da in flagranti entdeckt oder vorbeugend verhindert werden kann.
Weiterlesen im StattWeb

Esslingen: "Man kam sich vor wie bei einer Razzia"

Tja, auch bei uns in der Provinz geht's rund. Die “Esslinger Zeitung” berichtete in ihrer Ausgabe vom 10.4. über die "Schwerpunktkontrollen" in Nahverkehr der Stadt. Bei Lesen des Berichtes fühlte ich mich dann doch an die Terroristenfahndungen in den 70ern erinnert. Einige Zitate:

“Wird in Esslinger Bussen zur großen Jagd auf Schwarzfahrer geblasen? Mancher Fahrgast hatte zuletzt diesen Eindruck, denn schon dreimal fanden in diesem Jahr so genannte Schwerpunktkontrollen statt, bei denen Busse gestoppt und alle Fahrgäste kontrolliert werden. Was manchem wie Schikane vorkommt, begründet der Verkehrsverbund Stuttgart (VVS) mit einer neuen Sicherheitspartnerschaft.”

“Die Linie 119 sei dafür extra einen Umweg in die Neckarstraße gefahren, wo die Kontrolleure warteten. Dort wurde der Bus dann gestoppt und mehrere Personen in neongelben Warnwesten überprüften jeden Fahrgast, während vor dem Bus uniformierte Polizeibeamte Wache hielten.”

“Wilfried Vilz, Pressesprecher des Verkehrsverbundes Stuttgart: „Die Kontrollen gehören zu unserer Sicherheitspartnerschaft“, sagt Vilz. Das drei­monatige Modellprojekt war Mitte Februar zusammen mit der Polizeidirektion Esslingen gestartet worden, um Gewalt und Vandalismus in öffentlichen Verkehrsmitteln einzudämmen.”

“Dass sich auch ehrliche Fahrgäste wie Tobias Friebe über die Aktion ärgern, kann Obenland (Städtischer Verkehrsbetrieb Esslingen) nicht verstehen: „Eigentlich sollte er sich freuen, dass wir kontrollieren.“”

Alle Zitate: "Esslinger Zeitung"

Dass Polizei und Städtische Verkehrsbetriebe so alle Passagiere per se zu Verdächtigen erklären, darüber sollen wir uns auch noch freuen? Die alte und immer noch berechtigte Forderung nach Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr wäre sicherlich eine Lösung, denn damit gäbe es keine Schwarzfahrer mehr. Keine Lösung gegen die "Gewalt" indes ist die verstärkte Präsenz der Polizei und Szenen wie die, denen sich die Fahrgäste ausgesetzt sehen. Diese "Gewalt" entsteht durch die zunehmende Perspektivelosigkeit vor allem der Jugend in diesem Gesellschaftssystem. Das wiederum erinnert mich an die Pariser Unruhen im Jahr 2005 oder an die Ursachen der spontanen Krawalle am 1. April am “Gare Du Nord”. Das eigentlich Erschütternde an der Schilderung der "Esslinger Zustände" ist die fröhliche Eintracht von Verkehrsverwaltung und Polizei, die außer den Betroffenen angeblich keinen stört. Aber es wird hier ja auch alles in einen Topf geworfen, Schwarzfahrer, Gewalttätige, Verdächtige...

Denn wenigstens sind neben 356 Schwarzfahrern "bei den Schwerpunktkontrollen zwei Personen festgenommen worden, die von der Polizei wegen anderer Delikte gesucht wurden."
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