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Hasta siempre, Lucio

Von Sargoth - Eigenes Werk
Quelle
Anarchist, Bankräuber, Fälscher, aber vor allem ... Maurer. Dieser ungewöhnliche Filmtitel, auf den ich im Internet stieß, machte neugierig. Was wir dann in dem Dokumentarfilm der baskischen Filmemacher Aitor Arregi und Jose Mari Goenaga von 2007 sahen, konnten wir kaum glauben. So viele außergewöhnliche Aktionen, Abenteuer und Begegnungen in einem einzigen Leben?

Lucio Urtubia wurde 1931 in Navarra im Baskenland geboren, wo er in großer Armut aufwuchs. Nachdem er einige Zeit im Schmuggelgeschäft tätig gewesen war, wurde er zur spanischen Armee eingezogen, aus der er 1954 desertierte, als sein groß angelegtes Abzweigen von Waren aus dem Armeelager aufzufliegen drohte. Er floh nach Paris, arbeitete auf dem Bau und bekam über Kollegen Kontakt zu anarchistischen Kreisen. Hier fand er nicht nur die politischen und ideologischen Grundlagen für seine Haltung, sondern lernte auch den legendären Anarchisten Francisco „Quico“ Sabaté kennen, der in den drei Jahren bis zu seinem gewaltsamen Tod 1960 durch die spanische Guardia Civil zu Lucios Freund und Lehrer wurde. Lucio hat Banken überfallen, um mit dem Geld Gefangene der Franco-Diktatur in Spanien zu unterstützen. Er fälschte Ausweise für die spanischen Flüchtlinge in Frankreich. Später wurden in seinen Fälscherwerkstätten Schecks und Identitätspapiere verschiedenster Länder gedruckt. Diese Dokumente und das so beschaffte Geld kamen revolutionären Bewegungen in Europa, Lateinamerika und den USA zugute.

Lucio traf sich mit Che Guevara, um mit ihm zu besprechen, wie gefälschte Dollars zur Destabilisierung der USA eingesetzt werden könnten. Seine größte Enteignungsaktion ging zu Lasten einer der größten Banken der Welt, die er in die Knie zwang: Angesichts der Unmenge an perfekt gefälschten Travellerschecks, die an allen Ecken und Enden der Welt auftauchten, nahm die First National City Bank (heute Citibank) 1980 Verhandlungen mit Lucio Urtubia auf, verzichtete gegen Herausgabe der Druckplatten auf eine Strafverfolgung und zahlte sogar noch eine „Entschädigung“.

Wie konnte es sein, dass wir von diesem interessanten Menschen noch nie etwas gehört hatten? Wir suchten nach weiteren Informationen. Auf Deutsch fanden wir nur eine kleine Notiz bei der FAU. Es gab eine Biografie von Bernard Thomas, die 2000 auf Französisch und 2001 auf Spanisch erschienen ist. Da war Lucio bereits 70 Jahre alt. Diese langjährige Verschwiegenheit und Unsichtbarkeit ist sicher einer der Gründe, warum Lucio trotz der beeindruckenden Serie von Gesetzesbrüchen nur relativ wenig Zeit in Gefängnissen verbringen musste. Während er Millionenbeträge für die Bewegungen enteignete und eine untergründige Infrastruktur weltweiter Solidarität aufbaute, lebte er selbst unauffällig und bescheiden in Paris. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit der Maurerkelle auf dem Bau, wo er jeden Morgen pünktlich zur Arbeit erschien. Nur wenige Menschen wussten von seinen klandestinen Aktivitäten, und die Verfolgung sbehörden trauten dem einfachen Arbeiter und Migranten derart ausgeklügelte Aktionen lange Zeit nicht zu. Die Vorurteile der Gegenseite können manchmal auch von Vorteil sein.

Während meine im Baskenland lebende Freundin Gabi Schwab und ich noch überlegten, ob wir die Biografie übersetzen sollten, um diese faszinierende Lebensgeschichte bekannt zu machen, erschien Ende 2008 im baskischen Verlag Txalaparta Lucios Autobiografie. Wir nahmen Kontakt zu Lucio auf, der von dem Vorschlag, sein Buch zu übersetzen, sofort begeistert war, und hatten durch dieses Projekt das Privileg, ihn bald auch persönlich kennenzulernen.

Schon das erste Treffen mit ihm in Paris war eine herzliche Begegnung und der Anfang einer schönen Zusammenarbeit. Lucios Autobiografie ist nicht chronologisch geordnet. So kamen uns beim Übersetzen immer wieder Zweifel und Fragen, wer gemeint war, wann und wo sich bestimmte Episoden abgespielt hatten und wie diese ganzen Geschichten zusammenhingen. An dem großen Tisch in dem von Lucio gegründeten Kulturzentrum Espace Louise Michel beantwortete Lucio geduldig alle unsere Fragen, erzählte uns Geschichten neu und wies uns immer wieder auf Ereignisse und Ideen hin, die ihm besonders wichtig waren. An seinen Erzählstil mussten wir uns erst gewöhnen. Manchmal fragten wir uns, ob er vielleicht unsere Frage nicht richtig verstanden hätte, wenn er erstmal über ganz andere Personen und Ereignisse sprach, aber irgendwann kam er dann immer auf den fraglichen Punkt, mit dem all die anderen Geschichten eben auch irgendwie zusammenhingen.

Aus den Aufnahmen dieser Gespräche wurde das Kapitel „Begegnung mit Che Guevara“ in die deutsche Ausgabe zusätzlich eingefügt. Außerdem schrieb Lucio noch drei neue Kapitel, die er uns auf handgeschriebenen fotokopierten A3-Blättern überreichte. Dadurch bekamen wir eine bessere Vorstellung davon, aus welchem „Original“ die Autobiografie entstanden ist. Lucio sagte selbst immer wieder, dass er gar nicht schreiben könne. Aber getreu seinem Lebensmotto, dass nichts unmöglich ist, wenn man es nur anpackt, hat er es dann glücklicherweise doch getan und sich die entsprechende Hilfe gesucht. Mit dem Rohmaterial seiner Autobiografie war er zu dem Katalanen Francisco Rodríguez de Lecea gegangen, dem Übersetzer der von Bernard Thomas verfassten Biografie, und hatte ihn gebeten, sein Manuskript in eine lesbare Form zu bringen, was dieser dann auch tat. So entstand das Buch mit der gleichen Vorgehensweise, mit der Lucio auch seine klandestinen Aktivitäten organisiert hatte. Für all die Tätigkeiten wie Grafik oder Druck, die er selbst nicht beherrschte, konnte er Leute mit den entsprechenden Fähigkeiten zur Mitarbeit bewegen. Auch dies entspricht seiner Lebensphilosophie: Dass niemand mehr wert ist als die anderen. Nicht jeder kann alles, aber wenn es uns gelingt, die Fähigkeiten der einzelnen Menschen zusammenzubringen, dann geht es voran. Für uns war es sehr schön, mit unseren Fähigkeiten im Wort- und Satzbau ein klein wenig zur Verbreitung der Geschichte von Lucio beitragen zu können.

Nachdem Lucios Geschichte durch den Film und die Bücher öffentlich geworden war, begannen die Einladungen und Reisen. 2008 war Lucio mit dem Dokumentarfilm in Argentinien, Brasilien und Uruguay. Dort lernte er nun Jahrzehnte später Genossen kennen, die damals Citibank-Schecks aus Lucios Produktion bekommen und für ihre jeweiligen politischen Gruppen eingelöst hatten. Als die deutsche Fassung der Autobiografie erschienen war, haben wir zwischen 2010 und 2014 mehrere Reisen unternommen, um das Buch in verschiedenen Städten in Deutschland vorzustellen. Nachdem er so lange über seine Aktivitäten geschwiegen hatte, machte es Lucio nun offensichtlich Spaß, seine Abenteuer einem faszinierten Publikum zu erzählen. Besonders jüngere Zuhörer*innen sagten nach Veranstaltungen immer wieder, wie inspirierend der Vortrag für sie war. Lucios Optimismus und seine Überzeugung, dass wir die Welt ändern können, war en ansteckend –“ zumal viele seiner Geschichten Beweis genug für seine These sind, dass auch in den aussichtslosesten Situationen doch immer noch was geht. Lucio betonte immer wieder, dass es keine Utopie gebe –“ denn wenn du anfängst, sie umzusetzen, machst du sie bereits zur Realität.

Lucio stammt aus einer armen sozialistischen Familie in Cascante, einem Dorf in Navarra. Schon als Kind musste er mit Arbeit zum Familienunterhalt beitragen. Er lernte materielle Not und den Terror des Franquismus kennen. Er selbst bezeichnete es aber immer als sein Glück, arm geboren zu sein. Dadurch habe er keinerlei Probleme gehabt, den Respekt vor Autoritäten, vor Kirche und Staat und der herrschenden Ordnung zu verlieren. Er vertrat einen expliziten Arbeiterstandpunkt. Dieser beinhaltete einen genauen Blick von unten für Machtverhältnisse und soziale Ungerechtigkeiten sowie die Überzeugung, dass nur die Arbeiter, die die Welt am Laufen halten, diese auch verändern können. Dazu gehörte für ihn aber auch ein ausgeprägtes Arbeitsethos. Er hat bis zu seinem 72. Lebensjahr auf dem Bau gearbeitet. Es war ihm immer wichtig, seinen Lebensunterhalt als Arbeiter zu verdienen. Das viele Geld, das er auf illegale Weise beschaffte, wa r für die Solidarität bestimmt, nicht für private Zwecke. Menschen, die bei der Arbeit nicht zupacken können oder wollen, waren ihm ebenso suspekt wie intellektuelle Politaktivisten, auf die man sich in der Praxis nicht verlassen kann. Von Menschen, die ohne Arbeit am Rande der Gesellschaft leben, erwartete er nicht viel.

Bei den Veranstaltungen kam sein Loblied auf die Arbeit verständlicherweise nicht immer gut an und es gab gelegentlich auch Konflikte. Wenn der Punkrockstil eines Veranstaltungsortes seinen Handwerkerstolz beleidigte, wenn ihm die Fragen des Publikums nicht gefielen oder das Publikum in seinen Augen zu studentisch oder „politisch marginal“ aussah, konnte aus einer Veranstaltung auch mal eine Publikumsbeschimpfung werden. Die Vermittlung zwischen einem Handwerker, der 25 älter war als ich, und einem wesentlich jüngeren Publikum, ist mir als Übersetzerin nicht immer gelungen. Lucio war eigensinnig im guten, aber manchmal auch im schlechten Sinne. Auch wir gerieten auf diesen Reisen gelegentlich in Streit. Aber die Konflikte waren glücklicherweise spätestens am nächsten Tag beigelegt, und es gab bei diesen Reisen vor allem viele schöne Momente mit guten Gesprächen, interessanten Begegnungen und auch Abende mit gutem Essen un d gutem Wein –“ beides wusste Lucio sehr zu schätzen.

Durch die Veröffentlichung seiner Geschichte bekam Lucio Kontakte zu Subkulturen, mit denen er vorher nichts zu tun hatte, und er war dafür trotz seines hohen Alters sehr aufgeschlossen. Er erzählte, dass eines Tages einige voll tätowierte und grimmig dreinschauende Männer in seiner Tür im Espace gestanden hätten, die –“ wie er immer wieder betonte –“ für alle offen stand. Im ersten Moment befürchtete er einen Überfall. Die Männer stellten sich jedoch als Mitglieder einer Band vor –“ wenn ich mich nicht irre, war es die Skapunk-Band SKA-P aus Madrid. Sie wollten Lucio kennenlernen und sie haben sich danach noch häufig getroffen.

2013 waren wir in Paris, um unseren Freund Fermin Muguruza –“ Musiker aus dem Baskenland –“ auf seiner No-More-Tour zu treffen. Da wir dachten, dass die beiden sich sicher viel zu sagen hätten, luden wir Lucio zu diesem Abend ein. Lucio hörte und sang gerne alte Revolutionslieder und Chansons. Er mochte zum Beispiel die Lieder von Georges Brassens, Jacques Brel und vor allem von dem Anarchisten Léo Ferré. Ein Konzert mit Schlagzeug und Verstärkern wollten wir ihm nicht zumuten, deshalb luden wir ihn zum Abendessen mit der Band vor dem Auftritt ein. Aber Lucio ließ es sich nicht nehmen, auch noch bei dem Konzert dabei zu sein, bei dem er mithilfe eines Barhockers bis zum Ende durchhielt, gefeiert vom Publikum und der Band. Er war vermutlich der älteste Konzertbesucher dieser Tour. In dem Film zur Tour ist Lucio bei dem Konzert und mit einem kurzen Interview (ab min 57:16) zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=aH04ihZbK1Y

Lucio hat im Pariser Stadtteil Belleville gelebt, wo er in den 1990er Jahren ein heruntergekommenes Gebäude in der Rue des Cascades gekauft und zu einem kleinen Kulturzentrum ausgebaut hatte. Ein großer Raum im Erdgeschoss bietet Platz für Veranstaltungen, Ausstellungen und Versammlungen. Dem Zentrum hat er den Namen Espace Louise Michel gegeben, in Erinnerung an die große Anarchistin der Pariser Kommune. Über der Tür steht der Liedtitel aus der Zeit der Pariser Kommune »Le Temps des Cerises« (Die Zeit der Kirschen) und am Giebel »Sustraiak« (baskisch für Wurzeln).

Hier lebt auch Anne Urtubia, Lucios Ehefrau, Mitstreiterin und Lebensgefährtin. Sie haben sich im Pariser Mai kennengelernt und danach viele Aktionen gemeinsam durchgestanden. 1974 wurden sie im Zusammenhang mit einer Entführung –“ nach der Hinrichtung von Salvador Puig Antich durch die Garotte in Spanien –“ zum ersten Mal verhaftet, kamen aber bald wieder frei. Auch nach ihrer Trennung als Paar blieben sie beide in benachbarten Wohnungen im Espace wohnen.

Die Unterstützung von Gefangenen war für Lucio immer ein großes Anliegen. Schon das Geld aus seinen ersten Banküberfällen, die er Ende der 1950er-Jahre machte, war für die Gefangenen des Franco-Regimes bestimmt. Lucio reiste illegal nach Spanien ein, um dort die Angehörigen mit Geld und politischem Material zu versorgen. Wo auch immer Solidarität mit Gefangenen erforderlich war, konnte man auf Lucio zählen. Sein Espace wurde von den Angehörigen der baskischen Gefangenen genutzt, die immer wieder für Besuche den weiten Weg aus dem Baskenland bis nach Paris machen müssen. Als eine baskische Gefangene für den Status als Freigängerin einen Job brauchte, stellte er sie als Sekretärin ein. Auch das Solidaritätskomitee für Sonja Suder und Christian Gauger, die lange in Frankreich gelebt hatten, konnte selbstverständlich die Räume nutzen, als die beiden aufgrund einer Anklage wegen Mitglie dschaft in den Revolutionären Zellen in den 1970er-Jahren von der Auslieferung nach Deutschland bedroht waren.

Lucio ist seinen Überzeugungen immer treu geblieben und hat sein Leben lang gegen Unterdrückung und für die Freiheit gekämpft. Ich habe ihn zuletzt vor zwei Jahren in Paris getroffen. Da kämpfte er noch gegen die Folgen eines Schlaganfalls, nach dem er zunächst nicht mehr sprechen konnte und teilweise gelähmt war. Sein Sprachvermögen hatte er wieder zurückerobert und er konnte auch wieder gehen, wenn auch mit großen Mühen. Für die etwa 200 Meter von seiner Wohnung zum Bistro am Place Henri Krasucki haben wir sehr lange gebraucht, mit mehreren Pausen. Aber selbst in dieser Situation lag Lucio das Jammern fern. Er sagte, dass er sich doch glücklich schätzen könne, da sich Anne und ihre gemeinsame Tochter Julieta großartig um ihn kümmerten und alle Hilfe organisierten, die er brauche. Am 18. Juli 2020 ist Lucio mit 89 Jahren in Paris gestorben. Wir haben einen außergewöhnlichen Geno ssen verloren –“ mutig, großzügig, hartnäckig, unbestechlich und immer solidarisch. Ruhe in Freiheit, Compañero. Ich hätte gerne noch mehr Gelegenheiten gehabt, eine Flasche Wein mit dir zu teilen. Du wirst mir fehlen.

Alix Arnold, Köln, 3. August 2020

Lucio Urtubia: Baustelle Revolution. Erinnerungen eines Anarchisten. Aus dem Spanischen von Alix Arnold und Gabriele Schwab, Hamburg/Berlin 2010, Verlag Assoziation A



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