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Blogkino: Obedience — The Milgram Experiment

Heute zeigen wir im Blogkino mit Filmen zum Thema Ⓐnarchismus die Dokumentation "Obedience –” The Milgram Experiment" zum gleichnamigen psychologischen Experiment. Dieses ist ein erstmals 1961 in New Haven durchgeführtes psychologisches Experiment, das von dem Psychologen Stanley Milgram entwickelt wurde, um die Bereitschaft durchschnittlicher Personen zu testen, autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie in direktem Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen. Der Versuch bestand darin, dass ein „Lehrer“ nach Anweisungen eines „Versuchsleiters“ einem „Schüler“ bei Fehlern elektrische Schläge versetzen und deren Intensität nach jedem weiteren Fehler erhöhen sollte. Sowohl die „Versuchsleiter“ als auch die „Schüler“ waren Schauspieler und die Stromschläge erfolgten nicht real. Dies blieb den eigentlichen Versuchspersonen, den „Lehrern“, jedoch verborgen, so dass sie davon ausgehen mussten, den „Schülern“ echte Schmerzen zuzufügen.

Sunzi aka Sun Wu: Tarnen und Täuschen. Oder über die Schwierigkeit, im Krieg die Wahrheit zu finden.

Statue von Sunzi aka Sun Wu.  Foto: 663highland Lizenz CC BY-SA 3.0,
Statue von Sunzi aka Sun Wu in Yurihama, Tottori Präfektur, Japan
Foto / Lizenz: 663highland, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
"Jede Kriegführung gründet auf Täuschung. Wenn wir also fähig sind anzugreifen, müssen wir unfähig erscheinen; wenn wir unsere Streitkräfte einsetzen, müssen wir inaktiv scheinen; wenn wir nahe sind, müssen wir den Feind glauben machen, daß wir weit entfernt sind; wenn wir weit entfernt sind, müssen wir ihn glauben machen, daß wir nahe sind."

Sunzi (孫子 / 孙子), chinesischer General, Militärstratege und Philosoph. Ca. 500 v.u.Z.

Das Covid Versagen der Linken

Der folgende Beitrag erscheint explizit in den Rubriken "Erkenntnistheoretisches / Debatte / Kritik und Selbstkritik". Die Meinung der jeweiligen Autoren muss nicht mit der unseren übereinstimmen. Aber es gibt sicherlich den einen oder anderen Aspekt, den wir richtig finden. Rechte Positionen werden konsequent nicht veröffentlicht, weil wir mit Rechen weder reden, noch sie zu Wort kommen lassen. Punkt.

Antonio Berni, Manifestacion, 1934
Antonio Berni, Manifestacion, 1934
Während der verschiedenen Phasen der globalen Pandemie haben sich die Präferenzen der Menschen in Bezug auf epidemiologische Strategien eng mit ihrer politischen Orientierung überschnitten. Seit Donald Trump und Jair Bolsonaro im März 2020 Zweifel an der Weisheit einer Abriegelungsstrategie geäußert haben, haben sich Liberale und die Linken des westlichen politischen Spektrums, einschließlich der meisten Sozialisten, in der Öffentlichkeit für die Abriegelungsstrategie der Pandemieabschwächung stark gemacht - und neuerdings auch für die Logik der Impfpässe. Jetzt, da Länder in ganz Europa mit strengeren Restriktionen für Ungeimpfte experimentieren, fallen linke Kommentatoren - die sonst so lautstark Minderheiten verteidigen, die unter Diskriminierung leiden - durch ihr Schweigen auf.

Als Schriftsteller, die sich immer auf der linken Seite positioniert haben, sind wir beunruhigt über diese Wendung der Ereignisse. Kann man wirklich keine fortschrittliche Kritik an der Quarantäne gesunder Menschen üben, wenn die neuesten Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass der Unterschied zwischen geimpften und nicht geimpften Personen in Bezug auf die Übertragung verschwindend gering ist? Die Reaktion der Linken auf Covid erscheint nun als Teil einer umfassenderen Krise der linken Politik und des linken Denkens - einer Krise, die seit mindestens drei Jahrzehnten andauert. Deshalb ist es wichtig, den Prozess zu identifizieren, durch den diese Krise Gestalt angenommen hat.

In der ersten Phase der Pandemie - der Phase der Abschottung - waren es eher die kulturell und wirtschaftlich rechts Stehenden, die den sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Schaden der Abschottung betonten. In der Zwischenzeit machte Donald Trumps anfängliche Skepsis gegenüber Abriegelungen diese Position für die meisten derjenigen, die der kulturellen und wirtschaftlichen Linken angehören, unhaltbar. Die Algorithmen der sozialen Medien haben diese Polarisierung dann noch verstärkt. Die westliche Linke machte sich daher sehr schnell für die Abriegelung stark, die als "Pro-Life"- und "Pro-Kollektiv"-Entscheidung angesehen wurde - eine Politik, die theoretisch die öffentliche Gesundheit oder das kollektive Recht auf Gesundheit fördert. In der Zwischenzeit wurde jede Kritik an den Schließungen als "rechts", "pro-ökonomisch" und "pro-individuell" verunglimpft und beschuldigt, "Profit" und "business as usual" über das Leben der Menschen zu stellen.

Alles in allem wurde durch die jahrzehntelange politische Polarisierung ein Thema der öffentlichen Gesundheit sofort politisiert, ohne dass eine Diskussion darüber möglich gewesen wäre, wie eine kohärente linke Antwort aussehen könnte. Gleichzeitig distanzierte sich die Linke mit ihrer Position von jeder Art von Arbeiterbasis, da Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen am stärksten von den sozioökonomischen Auswirkungen der fortgesetzten Abschottungspolitik betroffen waren und auch diejenigen waren, die am ehesten arbeiten mussten, während die Laptop-Klasse von Zoom profitierte. Dieselben politischen Verwerfungen traten auch bei der Einführung der Impfstoffe und jetzt bei der Einführung der Covid-Pässe auf. Der Widerstand wird mit der Rechten assoziiert, während die Linken beide Maßnahmen im Allgemeinen unterstützen. Die Opposition wird als eine verworrene Mischung aus wissenschaftsfeindlichem Irrationalismus und individualistischem Libertarismus verteufelt.

Aber warum hat die Mainstream-Linke praktisch alle Covid-Maßnahmen unterstützt? Wie kam es zu einer derart vereinfachenden Sichtweise der Beziehung zwischen Gesundheit und Wirtschaft, die jahrzehntelange (linke) sozialwissenschaftliche Forschung, die zeigt, wie eng Wohlstand und Gesundheitsergebnisse zusammenhängen, ins Lächerliche zieht? Warum hat die Linke die massive Zunahme der Ungleichheiten, den Angriff auf die Armen, auf die armen Länder, auf Frauen und Kinder, die grausame Behandlung älterer Menschen und die enorme Zunahme des Reichtums der reichsten Einzelpersonen und Unternehmen infolge dieser Politik ignoriert? Wie kommt es, dass die Linke im Zusammenhang mit der Entwicklung und Einführung von Impfstoffen den Gedanken ins Lächerliche zieht, dass angesichts des Geldes, das auf dem Spiel steht, und angesichts der Tatsache, dass BioNTech, Moderna und Pfizer derzeit zusammen über 1.000 US-Dollar pro Sekunde mit den Covid-Impfstoffen verdienen, bei den Impfstoffherstellern andere Beweggründe als das "öffentliche Wohl" im Spiel sein könnten? Und wie ist es möglich, dass die Linke, die oft unter staatlicher Repression leidet, heute die besorgniserregenden ethischen und politischen Implikationen der Covid-Pässe nicht zu erkennen scheint?

Während der Kalte Krieg mit der Ära der Dekolonisierung und dem Aufkommen einer globalen antirassistischen Politik zusammenfiel, leitete das Ende des Kalten Krieges - neben dem symbolischen Triumph der Dekolonisierungspolitik mit dem Ende der Apartheid - eine existenzielle Krise für linke Politik ein. Der Aufstieg der neoliberalen wirtschaftlichen Hegemonie, die Globalisierung und der Transnationalismus der Unternehmen haben die historische Auffassung der Linken vom Staat als Motor der Umverteilung untergraben. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass die Linke, wie der brasilianische Theoretiker Roberto Mangabeira Unger argumentiert hat, in Zeiten großer Krisen immer am meisten profitiert hat - die Russische Revolution profitierte vom Ersten Weltkrieg, der Wohlfahrtskapitalismus von den Folgen des Zweiten Weltkriegs. Diese Geschichte mag zum Teil die heutige Positionierung der Linken erklären: Die Verstärkung der Krise und ihre Verlängerung durch nicht enden wollende Restriktionen mag von einigen als ein Weg gesehen werden, linke Politik nach Jahrzehnten der existenziellen Krise wieder aufzubauen.

Das fehlerhafte Verständnis der Linken über das Wesen des Neoliberalismus mag auch ihre Reaktion auf die Krise beeinflusst haben. Die meisten Linken glauben, dass der Neoliberalismus einen "Rückzug" oder eine "Aushöhlung" des Staates zugunsten des Marktes bedeutet. Daher interpretierten sie den Aktivismus der Regierung während der Pandemie als willkommene "Rückkehr des Staates", die ihrer Ansicht nach potenziell in der Lage ist, das angeblich antistaatliche Projekt des Neoliberalismus letztendlich rückgängig zu machen. Das Problem mit diesem Argument, selbst wenn man seine zweifelhafte Logik akzeptiert, ist, dass der Neoliberalismus nicht zu einem Absterben des Staates geführt hat. Im Gegenteil, der Anteil des Staates am BIP hat während der gesamten neoliberalen Ära weiter zugenommen.

Dies sollte nicht überraschen. Der Neoliberalismus stützt sich ebenso wie der "Keynesianismus" auf umfangreiche staatliche Interventionen, nur dass der Staat jetzt fast ausschließlich zur Förderung der Interessen des Großkapitals eingreift - zur Überwachung der Arbeiterklassen, zur Rettung großer Banken und Unternehmen, die sonst bankrott gehen würden, usw. Tatsächlich ist das Kapital heute in vielerlei Hinsicht mehr denn je vom Staat abhängig. Wie Shimshon Bichler und Jonathan Nitzan anmerken: "In dem Maße, in dem sich der Kapitalismus entwickelt, werden Regierungen und Großunternehmen immer enger miteinander verflochten. ... Der kapitalistische Machtmodus und die ihn beherrschenden Kapitalkoalitionen erfordern keine kleinen Regierungen. Tatsächlich brauchen sie in vielerlei Hinsicht größere". Der heutige Neoliberalismus ähnelt eher einer Form des Staatsmonopolistischen Kapitalismus - oder der Korporatokratie - als der Art von kleinstaatlichem Kapitalismus der freien Marktwirtschaft, die er oft zu sein vorgibt. Dies erklärt, warum er immer mächtigere, interventionistische und sogar autoritäre Staatsapparate hervorgebracht hat.

Das allein macht den Jubel der Linken über eine nicht existierende "Rückkehr des Staates" peinlich naiv. Und das Schlimmste daran ist, dass sie diesen Fehler schon einmal gemacht hat. Selbst nach der Finanzkrise von 2008 haben viele Linke hohe Staatsdefizite als "Rückkehr von Keynes" gefeiert - obwohl diese Maßnahmen in Wirklichkeit sehr wenig mit Keynes zu tun hatten, der zu Staatsausgaben riet, um Vollbeschäftigung zu erreichen, und stattdessen darauf abzielten, die Schuldigen der Krise, die Großbanken, zu stützen. Darauf folgte ein beispielloser Angriff auf die Sozialsysteme und die Rechte der Arbeitnehmer in ganz Europa.

Etwas Ähnliches geschieht heute, da staatliche Aufträge für Covid-Tests, PSA, Impfstoffe und jetzt auch für Impfpass-Technologien an transnationale Unternehmen vergeben werden (oft durch zwielichtige Geschäfte, die nach Vetternwirtschaft stinken). In der Zwischenzeit wird das Leben und die Lebensgrundlage der Bürgerinnen und Bürger durch die "neue Normalität" erschüttert. Die Tatsache, dass die Linke dies nicht zu bemerken scheint, ist besonders rätselhaft. Schließlich ist der Gedanke, dass Regierungen dazu neigen, Krisen auszunutzen, um die neoliberale Agenda weiter zu festigen, in der jüngeren Literatur der Linken weit verbreitet. Pierre Dardot und Christian Laval haben zum Beispiel argumentiert, dass die Krise im Neoliberalismus zu einer "Regierungsmethode" geworden ist. Berühmter ist Naomi Klein, die in ihrem 2007 erschienenen Buch "Die Schock Strategie" die Idee des "Katastrophenkapitalismus" untersucht hat. Ihre zentrale These lautet, dass es in Momenten öffentlicher Angst und Orientierungslosigkeit einfacher ist, Gesellschaften umzugestalten: Dramatische Veränderungen der bestehenden Wirtschaftsordnung, die normalerweise politisch unmöglich wären, werden in rascher Folge durchgesetzt, bevor die Öffentlichkeit Zeit hatte zu verstehen, was passiert.

Heute ist eine ähnliche Dynamik im Spiel. Nehmen wir zum Beispiel die Hightech-Überwachungsmaßnahmen, die digitalen Ausweise, die Unterdrückung öffentlicher Demonstrationen und die Beschleunigung von Gesetzen, die von den Regierungen zur Bekämpfung des Coronavirus eingeführt wurden. Wenn die jüngste Geschichte etwas hergibt, werden die Regierungen sicherlich einen Weg finden, viele der Notstandsregelungen dauerhaft zu machen - so wie sie es mit vielen Anti-Terror-Gesetzen nach dem 11. September getan haben. Wie Edward Snowden bemerkte: "Wenn wir sehen, dass Notstandsmaßnahmen verabschiedet werden, vor allem heute, dann sind sie in der Regel von Dauer. Der Notstand wird tendenziell ausgeweitet". Dies bestätigt auch die Ideen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben über den "Ausnahmezustand", der jedoch von der Mainstream-Linken für seine Anti-Einsperr-Position verunglimpft wurde.

Letztlich sollte jede Form staatlichen Handelns danach beurteilt werden, wofür sie tatsächlich steht. Wir unterstützen staatliche Eingriffe, wenn sie dazu dienen, die Rechte von Arbeitnehmern und Minderheiten zu fördern, Vollbeschäftigung zu schaffen, wichtige öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen, die Macht der Unternehmen zu zügeln, die Dysfunktionalität der Märkte zu korrigieren und die Kontrolle über wichtige Branchen im öffentlichen Interesse zu übernehmen. Doch in den letzten 18 Monaten haben wir genau das Gegenteil erlebt: eine beispiellose Stärkung der transnationalen Konzernriesen und ihrer Oligarchen auf Kosten der Arbeitnehmer und der lokalen Unternehmen. Aus einem Bericht vom letzten Monat, der sich auf Daten von Forbes stützt, geht hervor, dass allein die amerikanischen Milliardäre während der Pandemie einen Vermögenszuwachs von 2 Billionen US-Dollar verzeichnen konnten.

Ein weiteres linkes Hirngespinst, das von der Realität zunichte gemacht wurde, ist die Vorstellung, dass die Pandemie einen neuen Kollektivgeist hervorbringen würde, der Jahrzehnte des neoliberalen Individualismus überwinden könnte. Im Gegenteil, die Pandemie hat die Gesellschaft noch mehr gespalten - in Geimpfte und Ungeimpfte, in diejenigen, die von den Vorteilen intelligenter Arbeit profitieren können, und diejenigen, die das nicht können. Darüber hinaus ist ein Demos aus traumatisierten Individuen, die von ihren Angehörigen getrennt wurden, sich gegenseitig als potenzielle Krankheitsüberträger fürchten und Angst vor körperlichem Kontakt haben, kaum ein guter Nährboden für kollektive Solidarität.

Antonio Berni, Juanito dormido
Antonio Berni, Juanito dormido
Aber vielleicht lässt sich die Reaktion der Linken besser in individuellen als in kollektiven Begriffen verstehen. Die klassische psychoanalytische Theorie hat einen klaren Zusammenhang zwischen Vergnügen und Autorität aufgezeigt: Auf die Erfahrung großen Vergnügens (Befriedigung des Vergnügungsprinzips) folgt oft der Wunsch nach erneuter Autorität und Kontrolle, die durch das Ich oder das "Realitätsprinzip" zum Ausdruck kommt. Dies kann in der Tat zu einer umgekehrten Form des Vergnügens führen. Die letzten zwei Jahrzehnte der Globalisierung haben eine enorme Ausweitung der "Lust an der Erfahrung" mit sich gebracht, die von der zunehmend transnationalen globalen liberalen Klasse geteilt wird - von denen sich viele, historisch gesehen, als links identifizierten (und diese Position in der Tat zunehmend von den traditionellen Arbeiterklassen-Wählerschaften der Linken usurpierten). Diese massive Zunahme von Vergnügen und Erfahrung in der liberalen Klasse ging einher mit einem wachsenden Säkularismus und dem Fehlen jeglicher anerkannter moralischer Zwänge oder Autoritäten. Aus der Sicht der Psychoanalyse lässt sich die Unterstützung dieser Klasse für die "Covid-Maßnahmen" ganz einfach so erklären: als das gewünschte Auftreten einer Gruppe von restriktiven und autoritären Maßnahmen, die zur Einschränkung des Vergnügens auferlegt werden können, im Rahmen eines moralischen Kodexes, der dort einspringt, wo er zuvor fehlte.

Ein weiterer Faktor, der das Eintreten der Linken für "Covidmaßnahmen" erklärt, ist ihr blindes Vertrauen in die "Wissenschaft". Dies hat seine Wurzeln in dem traditionellen Glauben der Linken an den Rationalismus. Es ist jedoch eine Sache, an die unbestreitbaren Tugenden der wissenschaftlichen Methode zu glauben - eine andere ist es, die Art und Weise, in der die Machthaber die "Wissenschaft" zur Durchsetzung ihrer Ziele ausnutzen, völlig zu ignorieren. Die Möglichkeit, sich auf "harte wissenschaftliche Daten" zu berufen, um die eigenen politischen Entscheidungen zu rechtfertigen, ist ein unglaublich mächtiges Instrument in den Händen der Regierungen - es ist in der Tat das Wesen der Technokratie. Dies bedeutet jedoch, dass man sorgfältig die "Wissenschaft" auswählt, die die eigene Agenda unterstützt, und dass man alle alternativen Ansichten aggressiv an den Rand drängt, unabhängig von ihrem wissenschaftlichen Wert.

Dies geschieht schon seit Jahren im Bereich der Wirtschaft. Ist es wirklich so schwer zu glauben, dass eine solche Vereinnahmung durch Unternehmen heute in der medizinischen Wissenschaft stattfindet? Nach Ansicht von John P. Ioannidis, Professor für Medizin und Epidemiologie an der Stanford University, nicht. Ioannidis geriet Anfang 2021 in die Schlagzeilen, als er zusammen mit einigen seiner Kollegen eine Arbeit veröffentlichte, in der er behauptete, dass es in epidemiologischer Hinsicht keinen praktischen Unterschied zwischen Ländern gibt, die sich abgeschottet haben, und solchen, die dies nicht getan haben. Die Gegenreaktion gegen die Arbeit - und insbesondere gegen Ioannidis - war heftig, vor allem unter seinen wissenschaftlichen Kollegen.

Dies erklärt, warum er kürzlich seinen eigenen Berufsstand scharf anprangerte. In einem Artikel mit dem Titel "How the Pandemic Is Changing the Norms of Science" (Wie die Pandemie die Normen der Wissenschaft verändert) stellt Ioannidis fest, dass die meisten Menschen - vor allem auf der Linken - zu glauben scheinen, dass die Wissenschaft auf der Grundlage der "Mertonschen Normen des Kommunalismus, des Universalismus, des Desinteresses und des organisierten Skeptizismus" funktioniert. Aber so funktioniert die wissenschaftliche Gemeinschaft leider nicht, erklärt Ioannidis. Mit der Pandemie explodierten die Interessenkonflikte der Unternehmen - und dennoch wurde das Reden darüber zu einem Anathema. Er fährt fort: "Berater, die Millionen von Dollar mit der Beratung von Unternehmen und Regierungen verdienten, erhielten prestigeträchtige Positionen, Macht und öffentliches Lob, während unbelastete Wissenschaftler, die pro bono arbeiteten, es aber wagten, die vorherrschenden Narrative zu hinterfragen, als konfliktbehaftet verleumdet wurden. Der organisierte Skeptizismus wurde als Bedrohung für die öffentliche Gesundheit angesehen. Es kam zu einem Zusammenstoß zwischen zwei Denkschulen, der autoritären öffentlichen Gesundheitspflege und der Wissenschaft - und die Wissenschaft verlor".

Letztlich ist die eklatante Missachtung und Verhöhnung der berechtigten Sorgen der Menschen (über Abriegelungen, Impfstoffe oder Covid-Pässe) durch die Linke beschämend. Diese Sorgen sind nicht nur in tatsächlicher Not begründet, sondern entspringen auch einem verständlichen Misstrauen gegenüber Regierungen und Institutionen, die unbestreitbar von Unternehmensinteressen vereinnahmt worden sind. Wer wie wir einen wirklich progressiv-interventionistischen Staat befürwortet, muss sich mit diesen Bedenken auseinandersetzen - und darf sie nicht abtun.

Aber die Antwort der Linken ist auf der Weltbühne am unzureichendsten, wenn es um die Beziehung zwischen den Beschränkungen des Covid und der sich vertiefenden Armut im globalen Süden geht. Hat sie wirklich nichts zu sagen über die enorme Zunahme von Kinderheiraten, den Zusammenbruch der Schulbildung und die Zerstörung von formellen Arbeitsplätzen in Nigeria, wo nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde 20 % der Menschen während der Abriegelungen ihre Arbeit verloren haben? Was ist mit der Tatsache, dass das Land mit den höchsten Covid-Sterblichkeitszahlen und der höchsten Übersterblichkeitsrate im Jahr 2020 Peru war, das eine der strengsten Abriegelungen der Welt hatte? Zu all dem wurde praktisch geschwiegen. Diese Position muss im Zusammenhang mit der Vorrangstellung nationalistischer Politik auf der Weltbühne gesehen werden: Das Scheitern linker Internationalisten wie Jeremy Corbyn bei den Wahlen bedeutete, dass umfassendere globale Themen wenig Zugkraft hatten, wenn es um eine breitere Reaktion der westlichen Linken auf Covid-19 ging.

Es ist erwähnenswert, dass es in der Linken Ausreißer gab - linksradikale und sozialistische Bewegungen, die sich gegen den vorherrschenden Umgang mit der Pandemie ausgesprochen haben. Dazu gehören Black Lives Matter in New York, linke Lockdown-Skeptiker im Vereinigten Königreich, die chilenische städtische Linke, Wu Ming in Italien und nicht zuletzt die sozialdemokratisch-grüne Allianz, die derzeit in Schweden regiert. Das gesamte linke Meinungsspektrum wurde jedoch ignoriert, was zum Teil auf die geringe Zahl linker Medien zurückzuführen ist, aber auch auf die Marginalisierung abweichender Meinungen vor allem durch die Mainstream-Linke.

Vor allem aber war dies ein historisches Versagen der Linken, das katastrophale Folgen haben wird. Jede Form des populären Dissenses wird wahrscheinlich wieder von der (extremen) Rechten hegemonisiert werden, was jede Chance der Linken zunichte macht, die Wähler zu gewinnen, die sie braucht, um die Hegemonie der Rechten zu brechen. In der Zwischenzeit hält die Linke an einer Technokratie von Experten fest, die durch den katastrophalen Umgang mit der Pandemie im Hinblick auf den sozialen Progressivismus schwer geschwächt ist. Da jede Art von wählbarer Linker der Vergangenheit angehört, werden die Diskussion und der Dissens, die das Herzstück jedes echten demokratischen Prozesses sind, wahrscheinlich mit ihr verschwinden.

[Toby Green ist Professor für Geschichte am Kings College London. Sein neuestes Buch ist The Covid Consensus: The New Politics of Global Inequality (Hurst)].

[Thomas Fazi ist Schriftsteller, Journalist und Übersetzer. Sein neuestes Buch 'Reclaiming the State' ist bei Pluto Press erschienen. @battleforeurope]

Quelle: wronkindofgreen.org / insurgente.org 24. November 2021 / Übersetzung: Thomas Trüten

Bildnachweis: Antonio Berni, Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires, via WikiArt, Lizenz: FairUse

Herbert Marcuse (19. Juli 1898 - 29. Juli 1979)

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts, 1955
Copyright: Marcuse family, represented by Harold Marcuse

"(...) Sicherlich könnte der Psychiater wie der Arzt vorgehen und mit seiner Therapie das Ziel verfolgen, den Patienten wieder in seine Familie, seinen Beruf, seine Umgebung einzufügen, wobei er nach Möglichkeit versucht, die Umweltfaktoren zu beeinflussen oder gar zu verändern. Er wird jedoch bald auf Grenzen stoßen, beispielsweise wenn die Spannungen und Belastungen des Patienten im wesentlichen nicht durch bestimmte ungünstige Umstände seines Berufs, seiner Nachbarschaft, seines sozialen Status verursacht werden, sondern durch die allgemeine Natur des Berufs, der Nachbarschaft und des sozialen Status –“ in ihrer normalen Situation. Den Patienten auf diese Normalität auszurichten, hieße diese Spannungen und Belastungen normalisieren; oder um es krasser auszudrücken: es hieße ihn in die Lage versetzen, krank zu sein und seine Krankheit als Gesundheit zu erleben, ohne daß er, der sich gesund und normal fühlt, diese Krankheit überhaupt noch bemerkt. Das wäre der Fall, wenn die von ihm zu verrichtende Arbeit ihrer Natur nach "geisttötend", langweilig und überflüssig wäre (obwohl es sich um eine gut bezahlte und "sozial" notwendige Arbeit handelte); das wäre der Fall, wenn die betreffende Person einer im Vergleich zur herrschenden Gesellschaft unterprivilegierten Minderheitengruppe angehörte, die von alters her arm war und der daher meist die niederen und "schmutzigen" körperlichen Arbeiten vorbehalten waren. Dasselbe gälte (wenn auch in anderer Form) für die andere Seite, für die Herren der Industrie und Politik: Leistungsfähigkeit und finanzieller Erfolg verlangen –“ und reproduzieren –“ hier die Eigenschaften raffinierter Rücksichtslosigkeit, moralischer Gleichgültigkeit und ständiger Aggressivität. In allen diesen Fällen liefe "normales" Funktionieren auf eine Verzerrung und Verstümmelung des menschlichen Wesens hinaus –“ wie bescheiden man auch die Eigenschaften eines menschlichen Wesens definieren mag. Erich Fromm schrieb ein Buch: "The Sane Society"; der Titel indiziert eine zukünftige Gesellschaft, während die bestehende Gesellschaft krank, unnormal erscheint. Was nun das Individuum angeht, das als Bürger einer kranken Gesellschaft sich normal, angemessen und gesund verhält: ist ein solches Individuum nicht krank? Und fordert nicht diese Situation eine entgegengesetzte Vorstellung von geistiger Gesundheit –“ eine andere Konzeption, die jene geistigen Eigenschaften festhält (und bewahrt), welche durch die in der kranken Gesellschaft herrschende Gesundheit tabuiert, gehemmt oder verzerrt werden? (...)"

Herbert Marcuse. "Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft"

Ich ist Es





Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964

Foto: Jeremy J. Shapiro

Lizenz: CC BY-SA 3.0

Man pflegt die Entwicklung der Psychologie mit dem Aufstieg des bürgerlichen Individuums, in der Antike wie seit der Renaissance, zusammenzubringen. Darüber sollte nicht das konträre Moment übersehen werden, das die Psychologie ebenfalls mit der bürgerlichen Klasse gemein hat und das heute zur Ausschließlichkeit sich entfaltet: Unterdrückung und Auflösung eben des Individuums, in dessen Dienst die Rückbeziehung der Erkenntnis auf ihr Subjekt stand. Wenn alle Psychologie seit der des Protagoras den Menschen erhöhte durch den Gedanken, er sei das Maß aller Dinge, so hat sie damit von Anbeginn zugleich ihn zum Objekt gemacht, zum Material der Analyse, und ihn selber, einmal unter die Dinge eingereiht, deren Nichtigkeit überantwortet. Die Verleugnung der objektiven Wahrheit durch den Rekurs aufs Subjekt schließt dessen eigene Negation ein: kein Maß bleibt fürs Maß aller Dinge, es verfällt der Kontingenz und wird zur Unwahrheit. Das aber deutet zurück auf den realen Lebensprozeß der Gesellschaft. Das Prinzip der menschlichen Herrschaft, das zum absoluten sich entfaltete, hat eben damit seine Spitze gegen den Menschen als das absolute Objekt gekehrt, und die Psychologie hat daran mitgewirkt, jene Spitze zu schärfen. Das Ich, ihre leitende Idee und ihr apriorischer Gegenstand, ist unter ihrem Blick stets zugleich schon zum Nicht- Existenten geworden. Indem Psychologie sich darauf stützen konnte, daß das Subjekt in der Tauschgesellschaft keines ist, sondern in der Tat deren Objekt, konnte sie ihr die Waffen liefern, es erst recht zu einem solchen zu machen und unten zu halten. Die Zerlegung des Menschen in seine Fähigkeiten ist eine Projektion der Arbeitsteilung auf deren vorgebliche Subjekte, untrennbar vom Interesse, sie mit höherem Nutzen einsetzen, überhaupt manipulieren zu können. Psychotechnik ist keine bloße Verfallsform der Psychologie, sondern ihrem Prinzip immanent. Hume, dessen Werk mit jedem Satz Zeugnis ablegt vom realen Humanismus und der zugleich das Ich unter die Vorurteile verweist, drückt in solchem Widerspruch das Wesen der Psychologie als solcher aus. Dabei hat er noch die Wahrheit auf seiner Seite, denn was als Ich sich selber setzt, ist in der Tat bloßes Vorurteil, die ideologische Hypostase der abstrakten Zentren von Beherrschung, deren Kritik den Abbau der Ideologie von »Persönlichkeit« erfordert. Aber dieser Abbau macht zugleich die Residuen um so beherrschbarer. An der Psychoanalyse wird das flagrant. Sie zieht die Persönlichkeit als Lebenslüge ein, als die oberste Rationalisierung, welche die zahllosen Rationalisierungen zusammenhält, kraft deren das Individuum seinen Triebverzicht zuwege bringt und dem Realitätsprinzip sich einordnet. Zugleich aber bestätigt sie dem Menschen in eben solchem Nachweis sein Nichtsein. Sie entäußert ihn seiner selbst, denunziert mit seiner Einheit seine Autonomie und unterwirft ihn so vollends dem Rationalisierungsmechanismus, der Anpassung. Die unerschrockene Kritik des Ichs an sich selbst geht in die Aufforderung über, das der andern solle kapitulieren. Am Ende wird die Weisheit der Psychoanalytiker wirklich zu dem, wofür das faschistische Unbewußte der Schauermagazine sie hält, zur Technik eines Spezialrackets unter anderen, leidende und hilflose Menschen unwiderruflich an sich zu fesseln, sie zu kommandieren und auszubeuten. Suggestion und Hypnose, die sie als apokryph ablehnt, der marktschreierische Zauberer vor der Schaubude, kehrt in ihrem grandiosen System wieder wie im Großfilm der Kintopp. Aus dem, der hilft, weil er es besser weiß, wird der, welcher den andern durchs rechthaberische Privileg erniedrigt. Von der Kritik des bürgerlichen Bewußtseins bleibt nur jenes Achselzucken, mit dem alle Ärzte ihr geheimes Einverständnis mit dem Tod bekundet haben. - In der Psychologie, dem abgründigen Trug des bloß Inwendigen, der es nicht umsonst mit den »properties« der Menschen zu tun hat, reflektiert sich, was die Organisation der bürgerlichen Gesellschaft mit dem auswendigen Eigentum von je verübte. Sie hat es, als Resultat des gesellschaftlichen Tauschs, entwickelt, aber zugleich mit einer objektiven Vorbehaltsklausel, von der jeder Bürger ahnt. Der Einzelne ist damit gleichsam bloß von der Klasse belehnt, und die Verfügenden sind bereit, es zurückzunehmen, sobald allgemeines Eigentum seinem Prinzip selber gefährlich werden könnte, das gerade in der Vorenthaltung besteht. Psychologie wiederholt an den Eigenschaften. was dem Eigentum widerfuhr. Sie expropriiert den Einzelnen, indem sie ihm ihr Glück zuteilt.



Theodor W. Adorno - Minima Moralia

Zum 41. Todestag von Ulrike Meinhof: Bambule (1970)

Ulrike Meinhof 1964
Quelle: Privates Foto, aus der Sammlung Bettina Röhls, der Tochter Ulrike Meinhofs

In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1976 starb Ulrike Marie Meinhof im Knast Stuttgart-Stammheim. Ihr Tod und auch der der anderen RAF Gefangenen in der Haft wurde bis heute nicht vollständig aufgeklärt, Menschen, die an der staatlichen Selbtmordthese zweifeln, werden kriminalisiert. Ulrike Meinhof engagierte sich seit 1957 politisch, war Mitglied der illegalisierten KPD und wurde durch ihre Artikel und Kolumnen vor allem in „Konkret“ eine bedeutende linke Persönlichkeit in der BRD.

"Sie war die erste Person in der Bundesrepublik, nachdem wir aus Polen 1958 nach Westdeutschland gekommen waren, die nach meiner Zeit im Warschauer Ghetto fragte. Am Ende des Interviews, das viel länger dauerte als ursprünglich geplant, hatte Ulrike Meinhof Tränen in den Augen." Marcel Reich-Ranicki

1970 gründete sie mit anderen die bewaffnet im Untergrund kämpfende Gruppe Rote Armee Fraktion (RAF). Zu ihrer Person hatte ich anlässlich ihres 40. Todestages im vergangenen Jahr einiges zusammengestellt, das ich an dieser Stelle nicht wiederholen will. Relativ unbekannt ist ihre Arbeit als Drehbuchautorin an dem auch heute kaum gezeigten Film Bambule:

"24 Stunden in einem geschlossenen Mädchenheim: Irene und Monika unternehmen einen Ausbruchsversuch. Während Irene die Flucht gelingt, landet Monika zur Strafe in der Arrestzelle und erzählt dort einer Fürsorgerin ihre Lebensgeschichte. Die Situation im Heim spitzt sich zu und in der Nacht wird eine "Bambule", ein Aufstand, angezettelt." (arte)

"Der Film kritisiert die autoritären Methoden der Heimerziehung (Fürsorgeerziehung) in einem Mädchenheim. Im Verlauf der Handlung kommt es zu einer Revolte der Heiminsassinnen gegen die unterdrückenden Strukturen. Die Handlung des Films wird oft auch als Parabel auf die gesellschaftlichen Zustände der Zeit verstanden, denen eine neue, verschärfte Form des Klassenkampfes entgegengesetzt werden müsse." (wikipedia)

Die Ausstrahlung des Films war für den 24. Mai 1970 in der ARD geplant, wurde wegen der Beteiligung Ulrike Meinhofs an der Befreiung von Andreas Baader am 14. Mai aber abgesetzt. Das Drehbuch erschien als "Bambule: Fürsorge - Sorge für wen?" bereits 1971 in Buchform. Erst ab 1994 wurde der Film in den dritten Programmen der ARD gezeigt. Film und Drehbuch sind die authentische Wiedergabe der Zustände, die sie in ihren Reportagen über Heimerziehung beschrieben hat und heute wichtige Dokumente für die Beurteilung der Erziehungspraxis in Einrichtungen der Jugendhilfe der 1940er bis 1970er Jahre sind.


Das Buch "Bambule: Fürsorge - Sorge für wen?" ist längst zum Klassiker geworden. Nicht nur wer wissen will, welche Erziehungsvorstellungen noch Ende der sechziger Jahre herrschten, sollte Bambule lesen. Denn das Thema ist aktuell wie je: Wie geht die Gesellschaft mit Randgruppen um, wie erzieht der Staat diejenigen, deren Fürsorge ihm übertragen wurde? Ulrike Meinhof hatte sich als Journalistin in langen Recherchen ein Bild über die Lage der Mädchen in Erziehungsheimen gemacht. In der Geschichte von Irene beschreibt sie den Alltag zwischen Hof, Schlafraum, Wäscheraum und "Bunker", die Repressalien der Erzieher und die Befreiungsversuche der Mädchen, die "Bambule" machen, weil sie leben wollen und nicht bloß sich fügen.

Fritz Bauer: Heilige Irrtümer

Fritz Bauer als Heidelberger Student 1921
Quelle: WikiMedia
"Wir Emigranten hatten so unsere heiligen Irrtümer. Daß Deutschland in Trümmern liegt, hat auch sein Gutes, dachten wir. Da kommt der Schutt weg, dann bauen wir Städte der Zukunft. Hell, weit und menschenfreundlich. [...] Dann kamen die anderen, die sagten: „Aber die Kanalisationsanlagen unter den Trümmern sind doch noch heil!“ Na, und so wurden die deutschen Städte wieder aufgebaut, wie die Kanalisation es verlangte. [...] Was glauben Sie, kann aus diesem Land werden? Meinen Sie, es ist noch zu retten? [...] Nehmen Sie die ersten Bonner Jahre! Keine Wehrmacht! Keine Politik der Stärke! Nun betrachten Sie mal die jetzige Politik und die Notstandsgesetze dazu! Legen Sie meinethalben ein Lineal an. Wohin zeigt es? Nach rechts! Was kann da in der Verlängerung herauskommen?"

Fritz Bauer, 1903-1968

Quelle: Gerhard Zwerenz: Gespräche mit Fritz Bauer, 1967

Adorno zum Verhältnis von Soziologie & Psychologie

Theodor W. Adorno, Heidelberg 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro
Lizenz: CC BY-SA 3.0
“Der Psychologismus jeglicher Gestalt, der umstandslose Ansatz beim Individuum ist Ideologie. Er verzaubert die individualistische Form der Vergesellschaftung in eine außergesellschaftliche, naturhafte Bestimmung des Individuums. Mit anderen Konzeptionen der Aufklärung hat er seine Funktion gründlich verändert. Sobald die in Wahrheit den Einzelspontaneitäten entrückten, zwischen abstrakten Subjekten anhängigen Prozesse aus der Seele erklärt werden, vermenschlicht man tröstlich das Verdinglichte. Aber die sich selbst Entfremdeten sind trotzdem noch Menschen, die geschichtlichen Tendenzen realisieren sich nicht nur gegen sie, sondern in und mit ihnen, und ihre durchschnittlichen psychologischen Qualitäten gehen selbst in ihr durchschnittliches gesellschaftliches Verhalten ein. Sie und ihre Motivationen erschöpfen sich nicht in der objektiven Rationalität, und zuweilen handeln sie ihr entgegen. Gleichwohl sind sie deren Funktionäre. Selbst die Bedingungen des Rückfalls in Psychologie sind gesellschaftlich vorgezeichnet als Überforderungen des Subjekts durch die Realität. Sonst findet sich das manifeste oder verdrängte Triebmoment in der gesellschaftlichen Objektivität nur als eine Komponente, die des Bedürfnisses, und sie ist heute vollends zur Funktion des Profitinteresses geworden. Die subjektive ratio und ihre raison d–™etre treten auseinander. Selbst der, dem die kalkulierende Vernunft alle Vorteile abwirft, die sie verheißt, vermag diese Vorteile nicht als Glück zu genießen, sondern muß als Konsument nochmals dem gesellschaftlich Vorgezeichneten, dem Angebot derer sich fügen, welche die Produktion kontrollieren. Stets waren die Bedürfnisse gesellschaftlich vermittelt; heute werden sie ihren Trägern ganz äußerlich, und ihre Befriedigung geht in die Befolgung der Spielregeln der Reklame über. Der Inbegriff der selbsterhaltenden Rationalität der je einzelnen ist zur Irrationalität verdammt, weil die Bildung eines vernünftigen gesellschaftlichen Gesamtsubjekts, der Menschheit, mißlang. Daran laboriert umgekehrt auch wieder jeder einzelne. Das Freudsche Gebot: “Wo Es war, soll Ich werden–, behält etwas stoisch Leeres, Unevidentes. Das realitätsgerechte, “gesunde– Idividuum ist so wenig krisenfest wie das rational wirtschaftende Subjekt ökonomisch. Die gesellschaftlich irrationale Konsequenz wird auch individuell irrational. Insofern wären in der Tat die Neurosen der Form nach aus der Struktur einer Gesellschaft abzuleiten, in der sie nicht abzuschaffen sind. Noch die gelungene Kur trägt das Stigma des Beschädigten, der vergeblichen und sich pathisch übertreibenden Anpassung. Der Triumph des Ichs ist einer der Verblendung durchs Partikulare. Das ist der Grund der objektiven Unwahrheit aller Psychotherapie, welche die Therapeutiker zum Schwindel animiert. Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich anähnelt, wird er erst recht krank, ohne daß doch der, dem die Heilung mißlingt, darum gesünder wäre.–

Theodor W. Adorno (1955): Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. in: ders: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main, 1979, S. 56f.

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