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Blogkino: Beyond Tomorrow (1940)

In unserer Reihe "Blogkino" zeigen wir heute den weihnachtlichen Streifen Beyond Tomorrow, der hierzulande unter dem Titel "Wundervolles Weihnachten" bekannt ist. Melton, Chadwick und O´Brien sind drei reiche ältere Herren, die trotz ihres Vermögens einsam sind. An Weihnachten laden sie zwei Fremde zum Essen ein, die sich dabei ineinander verlieben. Nach einem Flugzeugabsturz kommen die drei als gute Geister wieder, um über die Liebenden zu wachen...

Tucholsky - zur Feigheit begnadigt. Im Protest

Kurt Tucholsky in Paris, 1928 (Foto: Sonja Thomassen / WikiMedia)
Tucholsky: Texte und Briefe. Bd 19-21

Seit 2005 liegen geschlossen vor die Briefe Tucholskys von 1928 bis zum Tode 1935.

Zusammen mit den ausführlichen Kommentaren an die 3000 Seiten. Auf den ersten Blick ein ermüdendes Sammelsurium voller Klagen über Nasenweh und Seelenleere. Durch die umfassende Zulieferung der Bezugsbriefe trotz allem ein Fundus der Erkenntnis. Eine Möglichkeit, dem Weg Tucholskys zur Selbstverurteilung im Schweigen Schritt für Schritt zu folgen

Woher das Verstummen?


Jemand verspricht ab Mitte 1932, dass er niemals mehr einen Artikel schreiben wird. Er hält Wort- aber produziert in der selben Zeit mehr als 1600 Seiten Brief. Derselbe versichert in jedem Schreiben, dass ihn die deutschen Dinge nichts mehr angehen. Dreht aber durch, sobald er über eine Woche lang keine Zeitungsmeldungen aus diesem Land erhält.

Dieser Mann hieß Kurt Tucholsky und  war seinerzeit einer der meistgelesenen Journalisten seiner Zeit.

Was war geschehen? Angeblich war ein schmerzhaftes Nasenleiden an allem schuld. Eine eingebildete Nase tut so weh wie eine wirklich kranke.Insofern ist Tucholsky nichts vorzuwerfen. Dass  die Taubheit der Nase die Verbindungslosigkeit mit der Gegenwart sinnenfällig ausspricht, ist unbestreitbar. Nachdem die Nase im achten Anlauf glücklich operiert war, kein Wort mehr von ihr. Das Leiden hat sich in den aufgeblähten Leib verkrochen. Zurückgeführt vom Patienten auf ein verschlucktes Knöchelchen.

“Das geht mich nichts mehr an–

Während  der ersten Kuren gegen das Leiden hatte Tucholsky seinem Bruder Fritz anvertraut. (18.1.1931/Bd 19/S.270) –Sag es keinem weiter, ..[dass] mich das Ganze nicht mehr interessiert...Ich habe es satt...Ich richte ja auch nichts aus–. Vorklang der immer wiederholten “das geht mich nichts mehr an–, die den Briefwechsel bis 1935  durchziehen.

Das alles aber bei fortwährender Produktion. In WELTBÜHNE 1931 findet sich keine Nummer ohne eines der Pseudonyme Tucholskys. In diese Zeit fällt die Arbeit an “Deutschland, Deutschland über alles“ - oder einer der giftigsten Angriffe gegen die Nazis in dem Gedicht –Joebbels“. 1931- einen Monat nach dem Brief an den Bruder.

Woher dann aber das plötzliche Verstummen?

Ende der Zeit des unbekümmerten Verkaufs

Das Nasenleiden wird schon 1926 erwähnt - bei gleichzeitig pausenloser Tätigkeit sowohl in der WELTBÜHNE wie allgemein politisch. Wenn man Hiller glauben darf, gründete dieser mit Tucholsky 1927 zusammen den revolutionären Sonderclub der Pazifisten.

Tucholsky hatte seine Produktion in der Zeit des relativen Wirtschaftswunders der Weimarer Zeit mit gutem Gewissen als Herstellung von Produkten verstanden. Als Auslage von Waren im Schaufenster für den Meistbietenden. Ohne ausdrücklich mitgelieferte Gesinnungspflicht. So hatte er in der Nachkriegszeit - schon fleißiger Mitarbeiter  der WELTBÜHNE - nur wenig dabei gefunden, für die Reichsregierung - gut bezahlt - ein Heftchen herauszugeben, das die Abstimmung in Oberschlesien zwischen Polen und Deutschland reichsgünstig beeinflussen sollte.

In der Zeit des großen Juchhei nach der Inflation lief das gut. Ullstein nahm für alle seine Blätter auf der einen Seite - die AIZ - Arbeiterillustrierte Münzenbergs unverdrossen auf der anderen.
In der Zeit der nicht mehr wegzuschiebenden Krise änderte sich das. Kapital und Arbeiter zerrten.

Am 18.9.1928 berichtet Tucholsky merkwürdig betreten von einem Gespräch mit Szafranski, seinem alten Kumpel, der es bei Ullstein zu was gebracht hatte. Der legt ihm eine Sammlung seiner Arbeitergedichte vor mit der Bemerkung:

„Das kann man nicht. Man kann nicht zu gleicher Zeit den Kapitalismus angreifen und noch dazu so scharf und bedingungslos- und dann Geld von ihm nehmen. Entweder- oder.“ (Br 19/Brief 84/ S.95 f).
Solche Anwürfe kennt man und steckt sie heutzutage weg. Nicht so Tucholsky. Im selben Brief seine eigene Einschätzung: “Die Sache ist sehr peinlich- weil ich nicht im Recht bin und ein schlechtes Gewissen habe.“

Umgekehrtes Zerren von proletarischer Seite. LINKSKURVE wirft Tucholksy 1930 seine überhöhten Eintrittspreise vor - und die Vermarktung seiner Lesungen über eine kommerzielle Agentur, die sonst auch Konzerte vermittelt.

Wahrheitsbeweis: „ den zwölf Gewehrläufen aufrecht entgegenblicken"?

Im zugespitzesten Augenblick der Krise sieht Tucholsky sich vor einer Entscheidung. Ossietzky verbüßt schon die Strafe wegen Landesverrat und wird von der rachsüchtigen Reichswehr mit einem zweiten Prozess wegen „Beleidigung“ überzogen. Er hatte als Redakteur die Veröffentlichung des Satzes „Soldaten sind Mörder zugelassen. Dieser stand in einem Artikel Tucholskys. Der Autor selbst war nicht angeklagt, aber Freund und Feind erwarteten wie selbstverständlich  sein Kommen. Tucholsky redete sich brieflich zunächst heraus wegen der Kosten, wegen der Unbequemlichkeiten, wegen der Gefahr. Wie sich nach dem Freispruch für Ossietzky herausstellte, hätte Tucholsky vom damaligen Staat nichts gedroht. Ein Überfall von SA-Horden war immerhin denkbar. (Wie ein solcher Tucholsky bei einer Lesung in Wiesbaden im Jahr zuvor nur knapp verfehlt hatte).

In der Klemme wendet sich Tucholsky an seine - schon seit zwei Jahren von ihm getrennt lebende - Ehefrau Mary. Er erbittet Lossprechung von der Pflicht aufzutreten. Und erhält sie als virtuelles Todesurteil, gegen welches er sich dann den Rest seines Lebens lang wehrt. Seine Frau schreibt:

„5: alle Frauen sind für Nichtkommen. Und nun will ich ihm meine Meinung sagen,und die ist: bleib er, wo er ist, es sei denn, dass ihm durch Nichtkommen der Verdienst in Deutschland unmöglich gemacht wird,d.h. dass er kein Geld bekommen kann usw.- Mach er den Leuten nichts vor, was er sich selber nicht vormacht. Er ist kein Barrikadenkämpfer. Es ist doch kein Zufall, dass Er mit vierzig Jahren in keiner Partei ist und nie aktiv an einem Kampf teilgenommen hat. Er braucht sich deshalb auch keine Sporen im Gefängnis zu verdienen. Der einzige, der es ihm übel nehmen darf,ist Toller, und die jungen Burschen, die ihn zum Vorbild nehmen und die Seine Sachen aus echter Begeisterung auswendig können.Es ist schade um die Enttäuschung, die sie empfinden werden. Der Rest? Ja wer denn, wer steht denn politisch hinter Ihm? Er sitzt doch zwischen allen Stühlen und hat sich bewußt von jeder Bindung ferngehalten und ist sie nur hie und da leise weinend aus Geldgründen eingegangen. Aber inzwischen ist er ja wohl seine sämtlichen Ehen los geworden und fühlt sich doch ehrlich wohl in seiner Freiheit. Er braucht nicht den starken Mann zu machen, denn er ist es nicht. Die verwachsenen Pazifisten, die sich in seinem Ruhm sonnen würden, aber an einer eingestandenen Feigheit keinen Teil haben wollen, sollen ihn...
Und Toller... ob Toller heute ins Gefängnis ginge, ich jlob es nicht....
Dass er sich in Zukunft zurückhalten muss, halte ich für notwendig.Es geht auf die Dauer wirklich nicht,glaube ich, nur Kritik zu üben an einem Lande, dessen Staatsangehörigkeit man besitzt, in dem man nicht lebt, an dessen Umbau man nicht mitarbeitet.Der katastrophale Niedergang verlangt Handeln, negative Kritik ist ja nun seit 14  Jahren getrieben worden, nun bitte, endlich positive Vorschläge... Ich glaube, die Zeit der negativen Kritik ist bald vorüber. Er ist zutiefst ein Bürger, der seine Ruhe haben will.und das phänomenale an ihm ist, dass er Gedichte schreiben kann, als ob er das Leben eines Proleten selbst durchgemacht hätte. Ihn hat ja stets gegraust, wenn er seine wahrhaften Anhänger gesehen hat. Und bei den Buchkäufern kann seine politische Einstellung nur hemmend sein, denn ich kann mir nicht denken, dass von den 40000 von GRIPSHOLM auch nur ein halber Prozent sein Deutschlandbuch bejaht...
[Die Anrede per „ER“ entsprang einem lange schon geübten Sprachtick des Paares, soll  keineswegs Entfremdung wegen der Trennung ausdrücken]
Brief 29.3.32
Antwort KT 1.5.32:
Liebes Malzen,
Sendet ihm viele Grüße, auch von Hasenklever, und komme also nicht zu dem Prozess. Wird auch in politicis sehr abblasen- das Spiel dürfte aus sein.Wünscht ihm alles Gute. Nangel“
[wahrscheinlich als No Angel  zu verstehn].

Der zur Begnadigung Verurteilte


Tucholsky bekennt sich befreit - und gibt sich verloren. Verdrängt dieses Geschlagensein aber für den Rest seiner Tage.

Scharfsichtig  unbarmherzig das Urteil der Frau. Tucholskys Größe - eine Kunst des umfassenden Als-ob. Nichts wahrer als seine Schilderung des Juden Wendriner unter der Diktatur (1930) - nichts lebensnäher als seine Berichte über die Leiden der Gefängnishaft. Aber alles aus Mimikry - aus einer Kunst der innersten Schauspielerei. Tucholsky lugt wie der Wurm aus dem  Apfel. Aussaugend. Aber - wie Mary Tucholsky scharf zusetzt- ohne Erkenntniswert. Gemeint damit: ohne die Möglichkeit, selbständige Schlussfolgerungen zu ziehen. Zum Beispiel über die Lage dieser Wendriners, die ganz konsequent bis zum letzten Augenblick an ihr Hab und Gut sich klammerten- und um alles nicht emigrieren wollten. Ein Blick in die Tagebücher Victor Klemperers zeigt diesen in gewissen Punkten in seinen Urteilen etwa über Ostjuden als schlimmeren Wendriner: trotzdem gewann er unter den furchtbaren Schlägen der Hitlerzeit die Kraft zur Einsicht. Allein die Möglichkeit dazu verwirft Tucholsky.

Er gibt sich geschlagen - weil er den Wahrheitsbegriff seiner Frau völlig teilt. Mag man im Lauf des Lebens auch geschwankt haben, in der Sekunde der Entscheidung heißt es zu seiner Sache stehen. Dahinter verschwindet dann alles. Die Schwankungen würden vergeben.

Wie Kierkegaard, den Tucholsky wohl erst viel später entdeckte, es immer wieder aussprach: wahr soll das sein, um dessentwillen ich mich totschlagen ließe. Gemeint: Wahr ist, worauf ich das Ganze meines Weiterlebens setze.

Folgerung: Veröffentlichungsverbot
Diesem Selbsturteil unterwirft sich Tucholsky. Zu Unrecht. In den ca. 1300 Seiten Brief, die folgen, schiebt er ohne volles Bewußtsein der Änderung einen anderen Begriff von Wahrheit nach, trägt ihn in sein Gesamtwerk ein. Es ist nur einer, dem er selbst nicht mehr das Gewicht von „Wahrheit“ zuerkennen kann.

Es ist der des Geschlagenen, der den Sieg des Nazismus anerkennen muss- und zugleich nicht hinnehmen kann.

Dem sozusagen heldischen Wahrheitsbegriff aus Schillers Zeiten, existenzialistisch aufgepeppt, setzt Tucholsky in der von ihm selbst nicht verstandenen Praxis seines Schreibens bis zum Todesaugenblick einen des Gerölls entgegen. In den Briefen, die er noch erzeugt, sammeln sich Fragmente hoffnungsloser Selbstverteidigung, Selbstbehauptungsversuche  mit einer Summe solcher Einsichten, die alle Mimikry  ausschließen.

Tucholskys kindische  Versuche, jeden Kontakt mit dem bisherigen Deutschtum aufzugeben - bis zur Verweigerung deutscher Zahnpasta - dienen zugleich dem unbestochenen Sammeln von unverbundenen Tatsachen -eben im Geröll- die einmal gegen die Herrschaft der Nazis vorgebracht werden können.

Die Aussagen eines Hilferding über die bezwingende Natur des Finanzkapitals gelten weiter, trotz aller späten Brüningbeflissenheit. Die Entdeckungen eines Galilei bleiben, ob er nun am Ende des Lebens Verräter war oder nicht.

Oft ist Tucholsky ermuntert worden, doch Teile seines Briefwechsels zu veröffentlichen. Und sie wären unauffällig, ja lobenswert gewesen in der Summe all dessen, was im Exil sonst veröffentlicht wurde. Aber wären hilfloses Gekläff geblieben, wie das der andern. Geräusche der Enttäuschung. Er selbst verwehrt sich weiteren Veröffentlichungen, weil er nicht klein wieder anfangen will. Weil er vom Selbstbewusstsein her  dem klassisch-heldischen Wahrheitsbegriff nichts entgegenzusetzen hat.

Was dann natürlich dazu führt, dass in allen Äußerungen das Wahre mit dem Falschen durcheinander liegt. Es müssen immer die anderen an allem schuld sein.

Antikommunismus im Um-sich-schlagen

So seine bitteren Angriffe auf den Kommunismus gleich nach 1933. Er verwirft alles, was in der WELTBÜHNE dazu erschienen war -und vergisst, dass es da keinerlei einheitliche Position gab. Einmal wurde immer wieder Trotzky als Autor aufgenommen. Andererseits wird Stalins Aufbauwerk gewürdigt. Dazwischen einiges . Von Tucholsky selbst etwa eine Kritik an einer sowjetischen Darstellung der Revolutionszeit, in welcher unter Stalin der Name des Schöpfers der „Roten Armee“ ausradiert wurde.

Zu Tucholskys leichtfertigem Umgang mit Moskau und Völkerbund in seinen Aktiv-Zeiten.

Hinweise auf die Fehlkonstruktion der INTERNATIONALE selbst finden sich andeutungsweise erst 1935.Die Unmöglichkeit, einen Staat mit seinen unabschüttelbaren Eigeninteressen,als Wortführer einzusetzen für eine Gemeinschaft sich als revolutionär verstehender Einzelparteien.

Das alles nur gedacht als Hinweis auf das fast Bewußtlose des plötzlich ausbrechenden Antikommunismus. Zusammen mit einer an Hiller sich anlehnenden Tendenz zum Anti-Materialismus.

Hiller - Apostel des Herrschaftsantritts der „Geistigen“


Hiller war in den letzten Jahren der WELTBÜHNE immer stärker zum Apostel des Kampfes der „Geistigen“ geworden. Gegen die Ungeistigen. Gerade auf ihn bezieht sich Tucholsky fast wörtlich immer öfter nach 1933 in seinen hinfälligsten Anläufen zur Theorie.

Tatsächlich beeinflusste Hiller zwar nicht ausdrücklich die Mehrzahl der - außer Gerlach und Ossietzky - viel jüngeren Mitarbeitenden. Aber er verlieh seiner Art von Hochnäsigkeit das gute Gewissen. Es kam immer wieder in WELTBÜHNE zu den scharfsichtigsten Analysen der Schwierigkeiten in den verschiedenen Rechtszusammenschlüssen, die der Machtergreifung 1933 vorausgingen und die wir heute nachträglich oft  als einheitlich auf den Faschismus hindrängende Bewegung ansehen. Tatsächlich war die Volksverachtung der Papenrichtung von sich aus unvereinbar mit der revolutionär volksnah sich aufspielenden Goebbels-Propaganda..

„Verfolgt die kleine Dummheit nicht zu sehr, in Bälde..“

Seit überhaupt die Nazis eine Rolle spielten, wurde -vor allem in den vielen kleinen Glossen- immer wieder das Lächerliche dieser Bewegung genussvoll hervorgehoben. So etwa in Witzen über den ersten Dichter der Nazi-Bewegung - Dinter - der in seinem Roman Die Sünde wider das Blut“ die erschütternde Erkenntnis verbreitete, dass eine vollarische Frau, die sich einmal einem Schwarzen hingegeben hätte, immer weiter schwarze Babies bekommen müsse.

Als einer der ersten Landesministerpräsidenten der Nazis - Frick - gerade diesen Schwachkopf  allen Ernstes zum Universitätsprofessor erheben wollte, war des Vergnügens in sämtlichen Linksblättern kein Ende. Vergessen wurde dabei nur, dass die Denunziation des Dummen als dumm keinerlei Wirkung hat - außer auf diejenigen, die sich qua Herkunft oder beamtenrechtlich schon selbst für die „Geistigen“ zu halten gewohnt sind.  Hingewiesen hätte werden können auf den schamlosen Machtanspruch der Nazis, der dahinter steckte. Dumm oder nicht dumm - wir machen auch das Falsche wahr, wenn wir erst an der Macht sind.

An dieser Begeisterung über den Schwachsinn des Schwachsinnigen hatte sich Tucholsky in der WELTBÜHNE unverdrossen  beteiligt.

In den ermüdenden, aber außerordentlich richtigen Notizen der BRIEFE  wird dann gewissenhaft das Vordringen des Dummen aufgesammelt und wiedergegeben- über Europa hin. Die Wehrlosigkeit der europäischen Staaten, gefangen in ihrem eigenen Imperialismus, gegen den größten Imperialisten wird genau wahrgenommen und zu Protokoll gegeben.

Tucholskys vergebliche Suche nach der süffigen Anti-Nazi-Doktrin

Tucholsky dazwischen - mitten im Geschiebe - nun nicht mehr als der feldherrliche Durchblicker. Vielmehr als der mickrige und gekrümmte Schlüssezieher. Die Anleihen bei allen möglichen Links-Katholiken Frankreichs brachten am Ende nichts. Auch die Entdeckung Kierkegaards im letzten Lebensjahr blieb folgenlos. Die Suche nach der stählernen „Doktrin“, die den Nazis entgegengesetzt werden müsse, ohne Fund.

Die Verfluchungen der restlichen Welt wurden mit Recht selbst von den Briefpartnern nicht mehr ernst genommen. Die bis zum tatsächlichen Antisemitismus reichenden Angriffe gegen die Juden insgesamt mögen vergessen sein. Und sind keineswegs einem „jüdischen Selbsthass“ zuzuschreiben, wie der aufs Alter immer rechthaberischer werdende Scholem erfand, sondern entsprangen der Verzweiflung an allen Gegenbewegungen gegen die Nazibewegung, ob jüdisch oder „nur“ links.Die des Schreibenden immer inbegriffen. Wenn überhaupt, wäre „Linkszerknirschung“  angebracht.

Wo sich Tucholsky noch zu Erwägungen aufschwang über mögliche Änderungen im faschistisch gewordenen Reich, tippte er auf monarchistische Umstellungen.

Dies alles das Falsche, das in der unablässigen Bewegung des nicht abstellbaren Denkens ausgestoßen wurde. Dazwischen aber- nur der Nachwelt, nicht dem Autor selbst zugänglich - das bleibende und erschütternde Bild der Überwältigung des Einzelnen durch die siegreiche Moräne Faschismus. Tucholskys Briefwerk - das letzte und entscheidende Argument gegen die leere Hochnäsigkeit eines Hiller, der - uralt geworden - nach dem Krieg seinen Frieden ausgerechnet mit der Diktatur des nationalistischen Schumacher und dem Schwadronieren eines Heuss schloss. Wie Benjamin schon in seiner Besprechung von 1932 geschrieben hatte - in „Der Irrtum des Aktivismus“: „Man hat sich im Kreise Hillers ein Bild von „Herrschaft“ zurechtgelegt, das keinerlei politischen Sinn besitzt, es sei denn, zu verraten, wie selbst die deklassierte Bourgeoisie sich von gewissen Idealen ihrer Glanzzeit nicht trennen kann“ (Gesammelte Schriften, Bd.3 - Rezensionen S.350). Von welchen Idealen nicht? Eben von dem des einsamen Sehers, des über die Wogen Hinblickenden. Mit einem Wort: Vom Privileg der Leute mit Abitur. Der „Geistigen“. In seinen bewussten Äußerungen blieb Tucholsky lebenslänglich diesem leuchtfeuernden Irrlicht treu. Im wirklichen Schreiben von Tag zu Tag gab er es auf zugunsten eines nüchternen, andern und allen zugänglichen: der des Chronisten, der einer Nachwelt berichtet, was er selbst nicht mehr zu eigenem Nutzen erfasst.

Bibliographische Angaben:
Kurt Tucholsky / Gesamtausgabe: Texte und Briefe, Bd.19/20/21 Rowohlt 1996/1997/2005

Erscheint in erweiterter Form im neuen Blog: www.kritisch-lesen.de
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