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Schlichtung ohne Urabstimmung? - Schleunigst nachholen!

Montagsdemo ein Tag vor dem Schlichterspruch Foto: Alex Schäfer
Geissler selbst war es, der auf den Ritualien einer gewerkschaftlichen Schlichtung von Anfang an bestand. Zum Beispiel, als er zu Beginn den Baustopp durchsetzte. Nur ganz am Ende vergaß er - tat so, als vergesse er - was zu einer Schlichtung auch gehört. Die Möglichkeit nämlich, den Schlichtungsvorschlag - um mehr kann es sich nicht handeln - einer Urabstimmung zu unterziehen. Zuzustimmen oder abzulehnen. Anschließend möglicherweise zu streiken.

Am Ende der aufschlussreichen Diskussionen nämlich, brach Geissler in die Knie und sprach nur eines heilig: Die schon geschaffenen Tatsachen. Vor allem das ausgegebene Geld und  die brutale Verweigerung der Mehrheit des gegenwärtigen Landtags, eine Volksabstimmung zuzulassen.  Vergessen dabei, dass bei der Rücknahme der Projekte Wackersdorf oder Kalkar oder beim kommentarlosen Einzug der Magnet-Eisenbahn  auf ganz erkleckliche Summen hatte verzichtet werden müssen.

Sabine Leidig aus Karlsruhe hat bei ihrem Diskussionsbeitrag im Bundestag am Mittwochabend  für die LINKE mit Recht pointiert, dass der gründlich aufgeklärte Mitbürger im Augenblick der Schlichtung wieder in den Stand des Mund- und Nase-aufsperrenden Fernsehzuschauers  zurückversetzt wurde. Stand dessen, der alles hinzunehmen, aber nichts zu entscheiden hat. Klar, dass sie und alle Kopfbahnhofanhängerinnen und - anhänger  das von Geissler Unterschlagene einklagten. Volksabstimmung!

Die Abgeordneten der CDU und der FDP im Bundestag taten in der gleichen Diskussion ganz unbefangen so, als hätten sie von Geissler einen Freifahrschein erhalten- für alle Sauereien, die sie von Anfang an im Kopf gehabt hatten. 

Die Lage hat sich verschlechtert
Dass die Lage sich für die Abrissgegner nicht verbessert hat, lässt sich kaum bestreiten. Gemäß der Inszenierung bei Plasberg am Mittwoch-Abend folgen wohl viele auch außerhalb der Beschwichtigungsrunde der Heiligsprechung des Schlichters. Und nehmen eine bloße Meinung als Gesetz hin. Unterwerfen sich dem Unvermeidlichen. Oder trösten sich mit der Hoffnung auf ein Scheitern der "Stress-Simulation". Bis sie auch bei dieser wieder erfahren, dass - wie bei den Banken - bei voller Identität des Prüflings und der Prüfer  das Ergebnis das bestätigen wird, was die vorlaute Frau Gönner schon vorher wusste: Stress-Test bestanden! Weitere Geleise überflüssig! ( Selbst diese schamlose Vorwegnahme einer erst noch anzustellenden Untersuchung und des Ergebnisses wurde von Geissler bei Plasberg  altersmilde akzeptiert. Dabei sollte gerade er als Kantianer wissen, dass genau das die Todsünde beim Forschen darstellt- das Rechenergebnis vor der Rechnung zu präsentieren.)

Klar, dass  der künftige Kampf der Abrissgegner sich um genau das anreichern muss, was bei Geissler fehlte: Es muss um das prinzipielle Recht auf Volksabstimmung gehen in einer alle berührenden Frage. Die verwerflichen Beispiele, die die Schweiz im letzten Jahr und in diesem mit der Abstimmung zur Ausschaffung lieferte, dürfen dabei nicht dauerhaft abschrecken. Was Brutalos festlegen, können vernünftiger Gewordene auch immer wieder korrigieren und zum Besseren wenden.

GRÜNE und SPD haben zwar halbherzig versprochen, Volksabstimmung einzuführen, wenn man sie nur in Regierungs-Höhe hieven würde. Nach den Erfahrungen in Hessen ist mit Sicherheit damit zu rechnen, dass die Gerichte eine Volksabstimmung verbieten werden. Es  muss - so hart sich das anhört  - dann an die Verfassungs selbst gehen. Verfassungsänderung nach den vorgesehenen Regeln.

Diese freilich setzt  einen langen Kampf in den dunkelsten Minen des westdeutschen Rechtsdenkens voraus. Denn schon 1949 entstand unter dem Beifall  eines Autokraten wie Adenauer - aber auch der westlichen Besatzungsmächte - die ziemlich einhellige Meinung, Volksabstimmungen würden unweigerlich zum Faschismus führen, weil angeblich Hitler über solche zur Macht gekommen sei. Vergessen dabei, dass die Nazis mit ihrer Massenagitation  gegen den Dawes - Plan und gegen die Fürstenenteignung gar nicht zum Zug gekommen waren. Und dass etwa die Volksabsstimmung  Herbst 1933 zum Austritt aus dem Völkerbund am schon bestehenden Schreckensregiment nichts geändert hatte. Eigentlich war auch die Angst vor den Faschisten nur vorgeschoben. Nach den Erfahrungen in Hessen mit Volksabstimmung und nachgeordneter Sonderabstimmung zu  sozialistischen Möglichkeiten  der Verfassungsgestaltung hatten gerade auch die Amis genug von Wallungen der verdächtigen Volksseele. Ab damals waren Plebiszite dann nicht nur faschistoid, sondern auch "populistisch". (Auch wenn es den Fachausdruck in dieser Bedeutung damals noch gar nicht gab. Wenn ich mich recht erinnere, war "rattenfängerisch" einzusetzen)

Seit der Zeit tropfte aus Lehrplänen , Büchern und Unterrichtshilfen der Schulämter Indoktrination pur. Volksabstimmung - viel zu gefährlich!

Und zum hundertsten Mal wurde die Idee totgeritten, bei einer Volksabstimmung wäre die Mehrheit für Todesstrafe gewiss. Symptomatisch für den allgemeinen Zustand: Weder das Grundgesetz noch der Anschluss der DDR ans allgemeine Deutschtum unterlagen je einer Volksabstimmung. Wen regte so etwas auf?

Es wird also ein harter und langer Kampf nötig sein, um über das Ornamentale im Stuttgarter Bahnhof hinauszukommen.  Behindertentreppen zum Abstieg in die Tiefe hätten sich vielleicht auch ohne Geissler durchsetzen lassen. Es wird vielmehr einen recht brutalen Willen zur Veränderung der ganzen gesetzlichen Grundlagen brauchen. Und zwar unabhängig davon, ob SPD und GRÜNE nach getaner Wahl bei der Stange bleiben.  So, wie sich die Vertreter der SPD bei der Diskussion am Mittwoch im Bundestag anstellten, ist gar nicht ausgeschlossen, dass sie sich von Mappus doch noch zur Füllung der letzten Lücken einkaufen lassen.

Ein günstiger Umstand lässt sich für weitere Demonstrationen immerhin ausrechnen: Vor den Wahlen wird auch ein Mappus davor zurückschrecken, etwas wie den Polizeiüberfall vom 30. 9. zu wiederholen.

Es muss sich im Verlauf der Auseinandersetzungen selbst die Erkenntnis verbreitern und vertiefen, dass Demokratie hinter Gittern nicht funktionieren kann. Hinter den Gittern von als unüberwindlich hingestellten Gesetzen. Auch wenn nicht alle, die sich das jetzt so denken, den Augenblick selbst noch erleben werden.


P.S.: Kultur als Totengräber: Bauzaun ins Mausoleum.
Die alten Ägypter nahmen riesige Kosten in Kauf, damit ihr Pharao magischerweise fortlebe, auch wenn er schon tot war. Kultur zusammen mit Religion sollte der dauernden Wirksamkeit dienen.

Inzwischen hat Kultur sich gewendet: Sie entzieht das eben Umstrittene jedem weiteren Streit. Ist etwas erst mal ins Mausoleum gewandert, haben alle zu staunen. Ruhet in Frieden. Streit war gestern. Heute herrscht Kontemplation. Debords Spektakel hält Einzug.

Es gibt Mitglieder der Geissler-Runde, die das einfach toll finden. Alles aufbewahrt, worum gestritten wurde. Wurde! Offenbar hat sich für die das Bahrtuch über die Erinnerung gelegt. Während zu Demos aufgerufen wird in diesem Jahr und darüber hinaus, soll für solche alles vergangen sein. Eingemacht. Im Glas mit Datenangabe. Früher als Marmor, heute im Archiv mit kleinen Erklärschildchen. "Erinnerungszettel einer Person, weiblich, 38 Jahre, nach ihrer Massakrierung durch Pfefferspray". (Mit Photo). Eintritt von 10-18 Uhr. Schulklassen mit Führung zu Sonderbedingungen.

So soll der zum Gespenst werden zu Lebzeiten, der jetzt noch die Stimme erhebt und sein Transparentlein schwenkt. Aber "Ein- dieses- Gespenst geht um in Europa"- wie Karl Marx schon wusste gegen alle Totengräber. Die zu seiner Zeit, die späteren und die immerbereiten. Die Schaufel wird ihnen aus den Händen fallen...

Kein Schönreden: Niederlage bei Schlichtungsfarce

"Die Gegner von »Stuttgart 21« wurden bei der von Heiner Geißler geleiteten Schlichtung über den Tisch gezogen. Dies wiegt besonders schwer, wenn sie es nicht erkennen

Das Ergebnis der letzten Runde der Schlichtung zu »Stuttgart 21« (»S21«) stellt eine schwere Niederlage für die Bewegung gegen dieses, die baden-württembergische Landeshauptstadt und den Bahnverkehr im Stuttgarter Raum zerstörende Großprojekt dar. Die Bahn AG, die CDU und die Landesregierung in Stuttgart sind die Sieger. Bahn-Chef Rüdiger Grube und Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) wußten, warum sie am Dienstag in der Schlichterrunde Präsenz zeigen konnten. In Verkennung der Realitäten versucht das Aktionsbündnis »K21« (für Kopfbahnhof 21) die Niederlage als einen Teilerfolg zu verkaufen. Die ersten Sätze der Erklärung des Aktionsbündnisses vom 30.11.2010 lauten: »Wir haben es geschafft zu beweisen, daß –ºK21–¹ im ganzen Land als die bessere Alternative erkennbar wurde. Unser Konzept ist leistungsfähiger, ökologischer und finanzierbar.« Warum bloß hat man dann dem Schlichterspruch, der eben nicht »K21«, sondern »S21« als Grundlage hat, weitgehend zugestimmt? (...)"


Weiterlesen im Artikel von Winfried Wolf in der heutigen Onlineausgabe der Tageszeitung "junge Welt"
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