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Infos aus Chiapas - Vol. 2: In einem Dorf der anderen Kampagne

Der folgende Bericht aus Chiapas / MÉXICO vom 12.10.2010 erscheint bei uns mit freundlicher Erlaubnis von Fabian - Kalle Blomquist:


Liebe Unterstützer_Innen und Interessierte!

Seit einigen Tagen befinde ich mich wieder in der bunten Kleinstadt San Cristóbal de las Casas, wo man sich zwischen unzähligen Bars mit Live-Bands, Zapatista-Merchandise und kommunalen Kinos durchgehend bestens vergnügen und auch ablenken kann.

Zuvor sah mein Alltag etwas anders aus. Vom in San Cristóbal ansässigen Menschenrechtszentrum FrayBa wurde ich am 22.09. in ein kleines, zwei Stunden mit dem Bus entferntes Dorf geschickt, das der von den Zapatista ins Leben gerufenen „Anderen Kampagne“ angehört. Zusammen mit vier weiteren internationalen Menschen-rechtsbeobachterinnen aus Spanien und Schweden habe ich dort zwei Wochen lang meinen Rhythmus im Einklang mit der Sonne umgestellt, Aufstehen mit dem Hahn und Schlafengehen mit dem abendlichen Konzert der zahlreichen Hunde in der Dunkelheit.

Ohne viele weitere Gemeinden in Chiapas zu kennen, glaube ich sagen zu können, dass in der von uns besuchten Gemeinde eine Sache ganz besonders ist: die zahlreichen sehr persönlichen Kontakte mit den Bewohner_innen, die alle Spanisch sprechen und auch deshalb ein nahezu barrierenloser Kontakt mit uns möglich war. Die existierenden Bedrohungen für das Dorf sind tagtäglich im Kopf präsent, auch wenn es zur Zeit sehr ruhig erscheint. Trotzdem haben die Bewohner_innen nichts von ihrer Fröhlichkeit, ihrem Humor und tlw. kämpferischen Geist verloren. Hinter uns liegen zwei sehr schöne Wochen, wir nehmen viele Gespräche, Anregungen, Diskussionen mit den Genoss_innen vor Ort und viele Herzlichkeiten mit in das, was kommt.

Viele Grüße aus San Cristóbal de las Casas,
Fabian

Die Ankunft
Nach einer kurvenreichen Fahrt auf der Ladefläche eines Pickup durch die Nebelwälder und Kleindörfer Chiapas–˜ mit herrlichem Bergpanorama erreichen wir nach zwei Stunden den Punkt, wo wir abgeholt werden sollen. Mit uns steigt ein zunächst unscheinbar wirkender vielleicht in der Nähe lebender Mexikaner aus. Zwei compas (compañero = Genosse) warten bereits am Wegesrand mit ihren Pferden und begrüßen uns herzlich. Wir schnallen unser schweres Gepäck (mit Essen für zwei Wochen) auf die Pferde und laufen los.

Von der Straße führt ein zur Zeit trockener aber durchaus holpriger Pfad entlang an kleinen Dörfern, Maisfeldern, Zitrus-Bäumen, Kaffesträuchern und vom nahe liegenden Gebirgsmassiv herunterrauschenden Bächen zu unserem Dorf. Nach 1,5 Stunden kommen wir dort an und werden bereits beim Abstieg zum Dorfplatz von vielen Bewohner_innen herzlich begrüßt. Viele Kinder rennen herum, Hunde schauen uns nach und wie sich herausstellt, ist der weitere Weggefährte ebenfalls ein compa, der schon länger immer wieder in das Dorf zu Besuch und zum „Lernen und Austausch“ kommt, um tiefer in die Materie des Widerstands und Zapatismus einzusteigen.

An der zentralen Wiese des Dorfes liegt das Haus, das von den campamentistas (den Menschenrechtsbeobachter_innen) und weiteren Besucher_innen als Behausung genutzt wird. Wir befestigen unsere Hänge-matten an der massiven Steinwand und richten uns etwas ein: es gibt ein Klo mit fließend Wasser aus einem großen Reservoir-Bottich, eine Küche mit noch vielen zurückgelassenen Utensilien der vorigen Bewohner_innen, Geschirr und einem funktionierenden Gaskocher. Aufgrund von unregelmäßigem Besuch durch Ratten und etwas wildere Katzen werden sensiblere Alimente in der Küche frei hängend aufbewahrt.

Struktur und Alltag des Dorfes
Im Dorf gibt es eine Grundschule, ein Versammlungshaus und einen zentralen Basketball- sowie Fußballplatz. Zur Zeit leben ca. 50 Familien hier, zwischen denen politisch eine klare Trennlinie erkennbar ist. Während die einen seit wenigen Monaten bis Jahren Regierungsprogramme beziehen (Geld für die Ausbildung, Zuschüsse für den Hausbau etc.) und damit mit den Zapatista-Grundsätzen brechen, befinden sich die anderen im Widerstand (s. Die Andere Kampagne) und akzeptieren nichts, was von der Regierung kommt, da sie sich autonom organisieren (wollen). Diese politische Division hat eine klare Vorgeschichte (s. Geschichte des Widerstands), ist aber im tagtäglichen Alltag des Dorfes nicht immer zu spüren, was auch unter den campamentistas zu Verwirrungen führen kann. Nicht immer ist zunächst klar, mit wem man über was (politisch) reden kann und sollte, wer quasi compa und wer keiner ist. Dieses Problem existiert in vielen zapatistischen bzw. den Zapatismus unterstützenden Gemeinden und hat tlw. zur Zerstörung ganzer Dorfstrukturen und menschlicher Beziehungen geführt. Die Regierung zielt durch Desinformation und die Strategie von „Zuckerbrot und Peitsche“ darauf ab, weitere Familien zur Aufgabe ihres Widerstands mit lukrativen (Geld-)Geschenken zu bewegen. Gleichzeitig werden die sich weiterhin im Widerstand befindenden Menschen mit starker Repression, Verhaftungen, Einschüchterungen, bis hin zu Verletzungen und Ermordungen (diese international verrufene Praxis erledigen deshalb meist bezahlte Paramilitärs) bestraft.

In unserem Dorf ist es noch nicht ganz so weit gekommen. Letztendlich respektieren sich alle Bewohner_innen, politische (und letztendlich nahezu existenzielle) Gegner begrüßen sich, reden miteinander und helfen sich teilweise im Rahmen von Dorfangelegenheiten weiterhin aus. Die zwei existierenden Läden mit den nötigsten Alimenten sind in der Hand der Regierungsanhänger, werden logischerweise aber von allen genutzt, genauso wie die allgemeine Grundschule, zu der es bisher keine autonome (zapatistische) Alternative im Dorf gibt. Trotzdem halten die compas gegenüber den Regierungsanhängern im Dorf die Mehrheit, was bei manchen Entscheidungen und dem allgemeinen Klima in der Gemeinde durchaus von Vorteil für die Genoss_innen sein kann.

Die (männlichen) compas treffen sich einmal in der Woche zum Plenum, bereden die Angelegenheiten der Woche. Auf meine Frage hin, warum sich nicht alle, also auch die weiblichen compas, treffen, antwortet mir einer von ihnen, dass es „nicht nötig sei, sich immer mit allen zu treffen“. Wenn größere Abstimmungen zu tätigen oder Probleme zu lösen sind, versammeln sich alle. Daneben haben anscheinend auch die Frauen gelegentliche Treffen, von denen ich in den zwei Wochen aber keine erkennen konnte.

Die bevölkerungssoziologische Struktur ist typisch lateinamerikanisch. Jede Familie umfasst etliche Kinder (zwischen 4-12) und die Großeltern leben ebenfalls im Haus. Insgesamt erscheint das Dorf also sehr jung, überall spielen Kinder und Jugendliche zwischen herumlaufenden Hühnern, Hunden und laut schluchzenden Eseln.

Mit Sonnenaufgang beginnt der Tag. Die Frauen bereiten meist ab 4.30h das Frühstück vor, klassisch tortillas (Maisfladen) mit Bohnen und Kaffee sowie pozol (Maismilch). Die Männer bereiten zu ähnlicher Uhrzeit ihren Tag auf dem Feld vor: die auszusäenden Samen, Geschirr fürs Pferd und das Arbeitsgerät. Ab 5.30h wird auf der milpa (Maisfeld) bis mittags, tlw. sogar nachmittags gearbeitet (genaueres s. Auf der Milpa). Die Kinder gehen ins Dorf in die Grundschule (primaria) oder sie fahren mit einem eigens organisierten Jeep alle gemeinsam auf der Ladefläche sitzend in die nächstgrößere Stadt zur weiterführenden Schule oder sogar zum Studieren. Während die weiterführende Schule (secundaria) kaum Geld kostet und immerhin eine Möglichkeit bietet während der Woche in der Nähe gratis zu wohnen und zu essen, kostet das Studieren einiges. So verwundert es nicht, dass viele bereits mit 15 mit Ende der secundaria ihre Bildungslaufbahn beenden, um auf dem Feld zu arbeiten (Männer) oder sich um Dinge im Haus zu kümmern bzw. sich bereits der Familienplanung zu widmen (v. a. Frauen). Es kommt nicht selten vor, dass Minderjährige (unter 18) bereits schwanger werden und heiraten. Mit 20-22 Jahren lebt die Mehrheit der Dorfbewohner_innen bereits in einer neu gegründeten Familie.

Sobald sich der Abend nähert (Dunkelheit ab ca. 19h) treffen sich die Jugendlichen jeden Tag zum Fußball spielen (was nur durch starken Regen verhindert werden kann) und die Kinder spielen Murmeln oder einen weniger auf den Sieg fixierten Fußball. Die Männer, v. a. die compas treffen sich zum unverbindlichen Austausch auf dem zentralen Basketballplatz. Ab 21h ist das Dorf wie ausgestorben, Hunde finden sich tlw. in kleinen Rudeln zusammen und geben ein nächtliches Konzert, dann kehrt Ruhe ins Dorf ein.

Wache am Dorfeingang
In der Regenzeit (die gerade aufhört) gibt es nur einen mit dem Jeep passierbaren Weg ins Dorf. Dieser Eingang ist seit den ersten Übergriffen durch die örtliche Polizei im April 2008 durch zwei Betonpfeiler und eine Eisenkette versperrt. Jeden Tag hat einer der compas dort Wache zu halten, um möglichen Verkehr von Personen (zu Pferde) oder Jeeps zu kontrollieren und ggf. nicht passieren zu lassen. Wir begleiten die Wache täglich von 7h morgens bis 6h abends (im Wechsel untereinander), insgesamt bleibt es dabei die gesamten zwei Wochen sehr ruhig. Von einer günstigen hoch gelegenen Position an der Wache sieht und hört man schon von weitem, wer auf das Dorf zufährt.

Im Dorf gibt es zwischen den den Dorfeingang kontrollierenden compas und den restlichen Bewohner_innen eine Abmachung, wer hineinfahren darf. So passieren den Posten z. B. die Mitarbeiter von den staatlichen Elektrizitätswerken CFE zur Inspektion des Stromnetzes und zum Ablesen der Zähler. Dieser bei uns normale Vorgang stellt hier etwas Besonderes und Kurioses zugleich dar. Zum einen handelt es sich um eine staatliche Institution, die eigentlich nicht erwünscht ist und zum anderen zahlen die sich im Widerstand befindenden Personen keinen Peso mehr an die seit Jahren die Strompreise stark erhöhende CFE (s. Anhang, aus Heft: Tierra & Libertad 66, S. 3-5, Link unten). Das bedeutet also, dass der jeweilige Beamte auch die neuen Zählerstände der Zahlungs-Verweigerer abliest, einträgt und –“ wohl wissend, dass dafür niemals bezahlt werden wird –“ uns grüßend wieder aus dem Dorf herausfährt. Ein anderes Mal kommen ein paar Polizisten in Zivil (aber im offiziellen Auto), die wir mit mehr Skepsis beobachten als die compas. Sie scheinen sie zu kennen und zu wissen, dass sie –“ wie angegeben –“ nur kurz zum Überprüfen der Wasserqualität (Kampf gegen Malaria tertiana) kommen und daraufhin wieder fahren, was sie auch tun. Nichtsdestotrotz notieren wir ihre Nummernschilder und Merkmale für den späteren internen Bericht für FrayBa. Es ist auch schon vorgekommen, dass als Möbelverkäufer getarnte Regierungs-Agenten in das Dorf eingedrungen sind und Informationen über derzeitige Widerstands-Aktivitäten sammeln wollten. Außerdem ist zu erwähnen, dass gegen 10 der Bewohner_innen Haftbefehle vorliegen, d. h. sie können das Dorf nicht ohne weiteres verlassen, ohne Gefahr zu laufen, direkt verhaftet zu werden (s. Geschichte des Widerstands).

Während der vielen Stunden nahe der Kette, haben wir viele interessante Unterhaltungen mit dem jeweiligen compa, der die Wache hält. So erzählt uns der eine vom Beginn des Widerstands, von den Zeiten davor, als sie noch für einen Großgrundbesitzer schuften mussten, von den derzeitigen Bedrohungen und von sich selbst. Die Zeit vergeht wie im Flug, manchmal ist es richtig schade, wenn es wieder 6h abends ist und wir zurück zu unserem Haus gehen. Es kommt aber auch vor, dass wir ein paar weitere Gespräche auf dem Basketballplatz halten sowie immer mal wieder Besuch von compas bekommen, mit denen wir bei einem Tee weitere Themen bereden.

Auf der Milpa
An 5 der insgesamt 14 Tage mache ich mich morgens um 7h auf den Weg, um einem Vater und seinen zwei Söhnen bei der Feldarbeit zu helfen, natürlich auch, um die Arbeit kennen zu lernen. Nach 20 min. Aufstieg durch tiefen Schlamm watend zu den am Rande eines Felsmassivs liegenden milpas (milpa = Maisfeld) vorbei an schönster Natur kann ich die drei durch fröhliche Gespräche irgendwo zwischen 3m hohen Maispflanzen ausfindig machen. Das Werkzeug haben sie mir mitgebracht: ein langes Hemd (gegen die einschneidenden Blätter des Mais–˜), den sembrador (ein ausgehöhlter Kürbis mit Bohnen drin, der um die Taille geschnallt wird) und die barreta (ein langer Säh-Stock mit Eisenspitze). Im 20cm-Abstand werden mit dem Sä-Stock kleine Mulden in die Erde gebohrt und in zwei parallelen Reihen zwischen den Mais-Pflanzen angelegt. In jedes Loch werden genau drei Bohnen geworfen, was aus über einem Meter Höhe geübt sein muss. Mir fällt dies erst schwer, jedes zweite Loch muss korrigiert werden, die daneben liegenden, verfehlten Bohnen in das Loch geschoben werden –“ was ebenfalls nach vielfacher Wiederholung im Rücken zu spüren ist. Während ich eine Reihe im Feld bestelle, haben die anderen bereits jeder mindestens drei bis vier davon fertig. Sie haben aber viel Geduld mit mir und bescheinigen mir schon nach zwei Tagen, dass ich Fortschritte machen würde. Am fünften Tag meinen sie dann lachend, dass ich jetzt ein guter Bauer werden könne.
Die Arbeit ist auf Dauer anstrengend. Nach vier Stunden machen wir eine kurze Pause, es gibt traditionell nahrhaften pozol (Maismilch) zu trinken und dazu eingelegten jungen scharfen Chili (den man übrigens auch nach Kontakt mit anderen Körperteilen wie beim versehentlichen Augenreiben sehr eindrucksvoll zu spüren bekommt). Dazu essen wir die dünnen tortillas und schwarzen Bohnenbrei. Dann geht es weiter an die Arbeit. Gegen Mittag wird meist der hochgewachsene Mais um die Hälfte durch Abknicken verkürzt, um den bald dazwischen keimenden Bohnen mehr Licht zu geben. Die Hände werden von den scharfkantigen Maisblättern sehr rau, noch eine Woche später sind meine zarten mitteleuropäischen Tastatur-Handflächen etwas angeschliffen. Das spannendste an der zuletzt genannten Arbeit ist nebenbei die Erkundung der Insektenwelt (in, auf und unter den Maispflanzen). Riesige bunte Spinnen, Gottesanbeterinnen, Kröten, Käfer, haarige neonfarbene Raupen und anderes Getier fördern nicht gerade meine Arbeitsgeschwindigkeit.

Trotz bereits in vielen Dörfern vorhandenen Insektiziden und Fungiziden, Monsanto-Hybrid-Saatgut und gentechnisch verändertem Mais, scheint immer noch viel Platz und eine halbwegs unvergiftete Umwelt zu existieren, die diesen Artenreichtum erlaubt.

Die Zapatista und eben auch die Leute der „Anderen Kampagne“ in unserem Dorf lehnen gentechnisch veränderten Mais vollständig ab. Obwohl die Rendite höher ist, verstehen sie dies als Schutz ihrer jahrhundertelangen Kultur des Anbau indigener Maissorten (mit 56 verschiedenen Arten und rund 16.000 Varietäten die meisten weltweit!). Darüber hinaus kaufen sie auch kein Hybrid-Saatgut, das sie in jährliche Abhängigkeit größerer Konzerne treiben würde. Viele nicht-zapatistische Bauern verwenden es bereits, ursprünglich, um ihren Ertrag pro Fläche zu erhöhen –“ sie befinden sich damit aber mitten im Spiel um stets steigende Saatgut-Preise. Ganz ökologisch kommen aber auch die Zapatista nicht davon: sie sprühen einiges an Insektiziden und Pestiziden, um im Wettbewerb lokaler Märkte trotzdem mithalten zu können. Es wäre schön, wenn auch dies sich eines Tages ändern könnte. Nach Gesprächen mit Bauern über die negativen Folgen des Gifts weiß ich: bewusst sind sie sich dessen (teilweise) und sehr offen für Ideen, vielleicht ändert sich auch dies eines Tages –“ „fragend schreiten wir voran“.

Geschichte des Widerstands
Die nachfolgende Chronologie ist in vielen Einzelgesprächen und bei einem Abschluss-treffen mit den compas entstanden und mit Sicherheit nicht vollständig (aus Vorsicht auch an dieser Stelle nicht detaillierter!), zeichnet aber gut nach, was hier und in vergleichbarer Form in anderen Gemeinden passiert (ist):

• vor 1994
Alle im Dorf arbeiten seit Generationen für einen Großgrundbesitzer in prekären Verhältnissen als „Lohnsklaven“, die tagtägliche sehr anstrengende Arbeit reicht kaum zum existenziellen Erhalt der Familie.

• 01.01.1994
Der Aufstand der EZLN und Einnahme großer Gebiete in Chiapas zwingt den Großgrundbesitzer nach Mexiko City zu fliehen, er hinterlässt dem Dorf halb-offizielle Papiere über die umliegenden Ländereien, die sie bis dato für ihn bearbeitet haben.

• bis 2007
Viele Versuche, die von ihnen seit Generationen bearbeiteten Ländereien legal zu erwerben, scheitern allesamt trotz intensiver Gespräche mit der Regierung, zuletzt auch am Widerstand anderer (regierungsnaher) Gruppen aus umliegenden Dörfern, von denen die Bauern das Gebiet pachten müssen.

• Mitte 2007
In einem jahrelang geplanten Aufstand erheben sich die Menschen des Dorfs, um ihre Ländereien „wiederherzustellen“ (tierras recuperadas), es werden Holzschilder rund um das Dorf angebracht, die klare Trennlinien zwischen den eingenommenen und außerhalb des Dorfes liegenden Feldern erkennen lassen. Die Felder werden von nun an von den sich allesamt im Dorf im Widerstand befindenden Menschen bestellt. Damit beginnt der bis heute andauernde Kampf um das Territorium.

Die Regierung versucht, mit lukrativen Programmen die Bewohner_innen zur Aufgabe zu bewegen und den Widerstand zu spalten, was ihr bei einigen Familien auch nach und nach gelingt. Gegen 10 Personen im Dorf liegen unmittelbare Haftbefehle vor.

• Anfang 2008
Das Wasser wird durch einen gezielten Anschlag stark kontaminiert, wie sich herausstellt ist eine von der Regierung bezahlte entferntere Bewohnerin des Dorfes dafür verantwortlich. Viele Kinder und ältere Menschen werden krank.
Etwa 50 Polizisten dringen im Morgengrauen in das Dorf ein und nehmen einen compa fest. Durch das beherzte Eingreifen der sich versammelnden Frauen kann der Abtransport verhindert werden: sie selbst nehmen auf ihre Weise einen der Beamten fest und am Ende gibt es –“ zum Groll der Polizei –“ einen Gefangenenaustausch. Von nun an leben die Menschen im Dorf in Angst, es werden drei Wachpunkte Tag und Nacht besetzt, da tagtäglich mit einem neuen Einmarsch von Polizei / Militär gerechnet werden muss.

Schließlich wird das Zivile Camp für den Frieden zur Prävention weiterer Übergriffe auf das Dorf eingerichtet. Von nun an kommen im Zwei-Wochenrhythmus internationale Menschenrechtsbeobachter_innen.

• Mitte 2008
Die militärische Einheit „Öffentlich Sicherheit“ installiert ein Camp nahe des Dorfes, wo sie innerhalb eines Monats die Mais- und Bohnen-Pflanzen der Bewohner_innen zerstören, aus einem Feld einen Fußballplatz machen und die naheliegende einzige direkte Wasser-Quelle des Dorfes zerstören.

Die Bewohner_innen setzen sich nach einem Monat zur Wehr, bei internationaler Präsenz nehmen sie weitere Felder ein und erneuern die Wasserquelle. In dem darauf folgenden Zusammenstoß mit der Polizei kommt es zu mehreren Verletzten (v. a. auf Seiten der Bewohner_innen). Am nächsten Tag gibt das Militär das Camp auf. Bis heute hat es seitdem keine Übergriffe mehr gegeben.

Die andere Kampagne
Rechtzeitig vor den Wahlen kündigt das Sprachrohr der EZLN im Juni 2005 eine neue Kampagne an, die auf Grundlage der „6. Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald“ (s. Link unten) die sozialen Kämpfe in Mexiko neu organisieren und stärken soll. Die seit der Erhebung der Zapatista nun 6. Verfasste Deklaration ist eine Art Reflexion dessen, was bis dato in 12 Jahren seit Erhebung der Zapatista erreicht worden ist und was nun getan werden sollte, um weiteren Druck auf die Regierung auszuüben und den Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit Nachdruck zu verleihen. Außerdem stellt die EZLN-Kommandantur klar, dass sie keine militärische Aktivität plane, sondern ihren Kampf weiterhin durch die zivile Unterstützung der Basisgruppen fortführen wolle.

Die „Andere Kampagne“ (La otra campaña) läuft offiziell seit Anfang 2006, um „von unten für unten“ eine „neue antikapitalistische Verfassung Mexikos“ aufzubauen. In ihr sollen sich v. a. alle Mexikaner_innen wiederfinden, die „anders“ sind, die Marginalisierten. Es wird explizit auf Gruppen wie Indigene, Homosexuelle, Punks, Arbeiter_innen auf der Straße, Prostituierte, religiös Verfolgte etc. eingegangen. Durch die Zusammenkunft und Verbindung aller „von unten“ im sozialen Kampf soll ein breites Bündnis hergestellt werden, das als „Bewegung der Bewegungen“ fungieren und eine „klare Alternative zum parteipolitischen Modell darstellen“ (Pablo González Casanova, ehem. Rektor der Uni UNAM).

Dazu begann die EZLN-Spitze mit Subcomandante Marcos als „Delegierter Null“ seit 2006, alle 31 Bundesstaaten Mexikos und die Hauptstadt nach und nach zu bereisen. Vor der Wahl des neuen Präsidenten Mexikos im Juli sollte der Bevölkerung eine Alternative zum nächsten korrupten und in der Tradition des Kapitalismus handelnden Oberhaupt der Nation aufgezeigt werden. Die „Andere Kampagne“ ist an vielen Orten auf breites Interesse, Beifall und Solidarität vieler Menschen gestoßen. In Oaxaca (Süden Mexikos) begann parallel dazu, dass ab Juli 2006 ein zunehmend größer werdender Generalstreik der Lehrer_innen und in der APPO zusammengeschlossenen sozialen Gruppen weiteren Druck auf die neu gewählte konservative Regierung (im Bundesstaat Oaxaca) ausübten. Zwischen den Zapatista und der APPO gab es viele gegenseitige Solidaritätsbekundungen und Zusammenarbeit. Letztendlich wurde dieser immer schärfer werdende Sozialprotest in Oaxaca Stadt im November blutig niedergeschlagen, mit mindestens 17 Toten (darunter auch der Indymedia-Reporter Brad Will).

Im September 2007 sagt die Führung der EZLN die ursprünglich bis Dezember geplanten Besuche in den südlichen Bundesstaaten Mexikos ab, um sich auf „die Verteidigung der Gemeinden“ konzentrieren zu können. Dieser Schritt der Konzentration auf die eigenen Gebiete und das bis heute andauernde Verhüllen in Schweigen wird von vielen als neue Bedrohung zapatistischer Gebiete interpretiert. Vielleicht gibt es auch einfach einen Strategiewechsel, nicht selten hat die EZLN mit neuen kreativen und völlig unvorhergesehenen Aktionen überrascht.

Bis heute haben über 1000 (politische, soziale, kleinbäuerliche etc.) Gruppen und rund 4000 Einzelpersonen in den 32 Bundesstaaten Mexikos die Forderungen und Unterstützung der „Anderen Kampagne“ unterzeichnet. Auf internationaler Ebene sind es (ohne Mexiko) rund 2094 Gruppen in 61 Ländern.

Die Andere Kampagne läuft damit weiter und ist für viele eine neue politische Form der Vernetzung geworden. Die Bewohner_innen in unserem Dorf haben diese Form des Widerstands auch deshalb gewählt, weil sie damit am nahesten zapatistisch leben können, ohne der starken Repression gegenüber den „echten“ „Unterstützungs-Basis“-Zapatista zu sein –“ letztendlich aber ähnlich aktiv zu sein. Diese parallelen Aktivitäten wirken zunächst etwas verwirrend, schließen sich aber in keinster Weise aus und haben in individuellen Fällen ihre Berechtigung. Die „Andere Kampagne“ hat den Zapatista ein neues Rückgrat vieler sympathisierender Gruppen gegeben.

Aktuelle Bedrohungen im Dorf und Fazit
Seit geraumer Zeit gibt es neben der immer noch existierenden Angst über den Einmarsch neuer Polizeieinheiten aufgrund der eingenommenen Felder eine neue Bedrohung. Offenbar scheint die Regierung Chiapas–˜ langfristig zu planen, das oberhalb der Felder an das Dorf angrenzende Felsmassiv an ausländische Minenfirmen zu verkaufen. Es gibt sogar Gerüchte über den bereits erfolgten Verkauf an eine kanadische Gesellschaft –“ ohne Befragung oder Zustimmung der Bewohner_innen unserer Gemeinde und der weiterer Dörfer. Seitdem es Anzeichen für Gold- und Silbervorkommen in dem Gebiet gibt, kursieren viele Gerüchte.

Sollte sich dies bewahrheiten, ist das Dorf folglich doppelt und vermutlich v. a. durch die neue Sachlage bedroht. Es macht m. E. also vollkommen Sinn, weiterhin internationale Menschenrechtsbeobachter_innen in die vermeintlichen Frieden der letzten zwei Jahre im Dorf zu schicken –“ es kann jeden Tag wieder losgehen. Darüber hinaus wäre es mit Sicherheit hilfreich, sich weiter vor Ort zu vernetzen, an politischem Gewicht zu gewinnen. Leider stehen die Gemeinden untereinander nicht in weiterer Kommunikation oder sind durch die polarisierende Stimmung zwischen Zapatismus und Regierungsprogrammen nahezu verfeindet. Die neu auftretende Bedrohung könnte vielleicht sogar eine Chance in der Richtung sein, dass auch die Leute anderer Gemeinden sich vernetzen und in irgendeiner Form in den Widerstand eintreten, anstatt ihre Ländereien zu verkaufen und unter der Kontaminierung nahe liegender Minen zu leiden.

Der Aufenthalt in der Gemeinde war für mich eine sehr eindrucksvolle Zeit, mit vielen Gesprächen, Anregungen und Dingen zum Nachdenken. Besonders eindrucksvoll ist, dass trotz all der bekannten Bedrohungen und generellen Schwierigkeiten im Alltag in einem derart ruralen Gebieten, die Freude und Lustigkeit der Menschen zuletzt stirbt.

Links:
Tierra y Libertad, Heft 66 mit Artikel zu Stromboykott
6. Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald –“ deutsch mit Zusammenfassung
Zusammenfassung aller 6 Kapitel der 6. Erklärung
Manifest der „Anderen Kampagne“ –“ zusammengestellt von Gruppe B.A.S.T.A.

Siehe auch: Infos aus Chiapas - Vol. 1: Einführung in den lakadonischen Urwald
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