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Nazi-Milliardäre – Reich, rechts, mächtig

Das Buchcover zeigt ein Familienfoto mit Joseph Goebbels mit Frau Magda und Stiefsohn Harald Quandt, 1931
David de Jong: Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 496 Seiten, 28 Euro
BMW, Mercedes-Benz, Porsche, Allianz, Oetker; wie sind diese deutschen Weltkonzerne groß geworden?

Die vier reichsten Männer in der BRD waren 1970 Friedrich Flick, August von Finck, Herbert Quandt und Rudolf-August Oetker. Den entscheidenden Teil ihrer enormen Vermögen konnten sie ab 1933 erwerben, in der Stahl- und Rüstungsindustrie, bei Versicherungen und Banken und in der Lebensmittelindustrie.

Der langsame Aufstieg dieser Familienclans in den zwanziger Jahren, der rasante Weg in die höchsten Machtpositionen im deutschen Faschismus, das kurze Straucheln nach dem 8. Mai 1945, die spektakuläre Rückkehr an die Spitze seit den fünfziger Jahren und die heutige Debatte um die Nazi-Milliardäre sind das Thema des Buches des niederländischen Wirtschaftsjournalisten David De Jong.

Die Konzernchefs teilten nach dem Ende des Kaiserreiches die republikfeindlichen und reaktionären politischen Vorstellungen des deutschnationalen Milieus. Das erleichterte die bewusste Annäherung an Hitler und die NSDAP mit sehr grossen Spenden und regelmässigen Treffen ab 1930.

Für alle sichtbar wurde dieses Zusammengehen durch die Heirat von Goebbels und Magda Quandt, zuvor Ehefrau Günter Quandts, dem Besitzer der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken (DWM) und der AFA-Werke (später Varta). Auf dem Buchumschlag der deutschsprachigen Ausgabe von „Braune Erben“ ist ein Foto der faschistischen Prominentenfamilie: Josef und Magda Goebbels mit dem Quandt-Sohn Harald.

Nach der von ihnen mit vorangetriebenen Zerstörung der Weimarer Republik 1933 haben Quandt, Flick, Finck, Porsche und Kaselowsky (Oetker) 12 Jahre lang immer schneller an der Aufrüstung und der „Arisierung“ verdient. Alle waren Mitglieder in Himmlers „Freundeskreis Reichsführer SS“ und der NSDAP.

Im Zweiten Weltkrieg kam es zum systematischen Einsatz von Zwangsarbeiter:innen. Skrupellos haben sie die vielen Verschleppten ausgebeutet, allein bei Quandt mussten 57500 Menschen arbeiten. „Mindestens 403 Menschen starben in Günther Quandts (.) AFA-Werk.“ Eingesperrt in Lager, gefährdet durch Arbeit, Unfälle, Hunger und Krankheit, von Ermordung bedroht, wurden viele Zwangsarbeiter:innen schliesslich auf die Todesmärsche geschickt. Die 1016 Toten des grausamen Verbrechens in Gardelegen kamen aus einem der AFA-Werke. Sie wurden lebend in der Feldscheune verbrannt.

Nach der Befreiung musste sich nur Friedrich Flick vor Gericht verantworten, die Taten der anderen Unternehmer blieben ungesühnt, geschützt durch die alten Netzwerke und Persilscheine.

Die mit Zwangsarbeit erweiterten und modernisierten Fabriken waren die Grundlage der „Wirtschaftswunder“ genannten Restauration in der BRD der fünfziger Jahre.

Alle Wirtschaftsbosse kehrten an die Spitzen der Firmen zurück und setzten ihre Geschäfte erfolgreich fort. Keiner gestand die Beteiligung am Faschismus ein, niemand distanzierte sich, und sogar die rechte Ideologie und neofaschistische Politiker wurden von August von Finck weiter unterstützt.

Die Stärke des „erzählenden Sachbuches“ von David De Jong sind die Kapitel über die Nachkriegszeit, die BRD, und vor allem der letzte Teil über das Verhalten der Milliardärsfamilien gegenüber der eigenen NS-Geschichte bis heute. De Jong schildert, dass auch die Familie Reimann ihren Reichtum einem Nazi-Vorfahren verdankt. Während Reimanns, die reichsten Deutschen, den Weg der Aufklärung und Wiedergutmachung eingeschlagen haben, verharren die anderen Familien in Schuldabwehr durch Verleugnung und Relativierung.

Die zentrale Schwäche des Buches ist seine Unvollständigkeit, dadurch entsteht ein schiefes Bild des deutschen Faschismus. Der Autor fokussiert sich auf wenige Personen, und entscheidende Akteure fehlen, so Carl Duisberg und die Chemieindustrie. Ohne die IG Farben bleibt etwa die Übertragung der Macht am 30. Januar 1933 unverständlich. Während Schacht, Thyssen, Krupp, Schmitt zumindest erwähnt werden, heisst es nur „Manager des Chemiekonglomerats IG Farben und des Kaligiganten Wintershall“…

Gleichzeitig verliert sich De Jong stellenweise in Klatsch und Tratsch zu Hitler, Goebbels, Magda und Günther Quandt.

Überhaupt wird Quandt sehr nachsichtig geschildert: „Obwohl er zum größten Waffenproduzenten des „Dritten Reichs“ geworden war, wollte Günther Quandt keinen Krieg.“

Und eine naheliegende Frage: Warum wurde der englische Originaltitel „Nazi Billionaires“ nicht einfach übersetzt? „Nazi-Milliardäre“ trifft es doch viel besser als „Braune Erben“!

Erstveröffentlichung in antifa, Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur, 21. Juli 2022

Das verlorene Versprechen der Sowjets oder: Wie die russische Revolution an die Bolschewiki verloren ging

Das Foto zeigt die Versammlung des Petrograder Sowjets 1917 mit einer großen Zahl Deputierter Soldaten, Matrosen und Arbeitern
Versammlung des Petrograder Sowjets, 1917
In den ersten fünfzehn Jahren meines politischen Lebens waren die autoritären Sozialisten in den USA ein Witz. Wir haben uns nicht einmal die Mühe gemacht, sie als "Tankies" (Panzerknacker) zu verhöhnen, weil sie nicht einflussreich genug waren, um sie zu verunglimpfen. Die International Socialist Organization und ähnliche Organisationen waren nur die Leute mit den gleichen Schildern, die bei Protesten auftauchten und versuchten, sie zu übernehmen, die an der Straßenecke standen und versuchten, Zeitungen für einen Dollar zu verkaufen, während alle anderen von uns ihre Literatur kostenlos verteilten.

Die Protestbewegung in den USA im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurde nicht von einer einzigen ideologischen Kraft dominiert. Natürlich ist meine Perspektive durch meine eigene Position verzerrt, aber im Allgemeinen sah ich zwei primäre Positionen: Es gab die "Radikalen", die Progressiven und Linken, die sich keinem bestimmten ideologischen Etikett verpflichtet fühlten, und es gab die Anarchisten. Zwischen diesen beiden gab es eine Art Spektrum, und der Anarchismus war der Pol, an dem sich die Leute orientierten.

Das machte in gewissem Maße Sinn - anarchistische Organisationsstrukturen sind von Natur aus pluralistisch. Wenn eine große Anzahl von Menschen mit einer Vielzahl politischer und kultureller Hintergründe zusammenkommt, um gemeinsam etwas zu erreichen (z. B. neoliberale Handelsgipfel zu verhindern oder direkte Massenaktionen durchzuführen, um die US-Kriegsmaschinerie zu stören), müssen sie sich so organisieren, dass keine Gruppe dominant ist und keine Gruppe den anderen vorschreiben kann, was sie zu tun haben. Die Gruppen müssen sich gemeinsam koordinieren und herausfinden, wie ihre individuellen Strategien und Ziele andere Gruppen unterstützen und von ihnen unterstützt werden können.

Hier glänzen anarchistische und anarchistische Organisationsmodelle: Sie respektieren den politischen Pluralismus und die Vielfalt der taktischen, strategischen, ideologischen und moralischen Rahmenbedingungen.

Das ist, soweit ich das beurteilen kann, der Grund, warum wir eine Art ideologischen Pol der Bewegung bildeten. Es hat nicht geschadet, dass wir einen großen Teil der Organisation hinter den Kulissen geleistet haben, auch wenn wir dafür selten Anerkennung bekommen haben.

Im Jahr 1905 führten einige Leute in Russland eine Revolution durch. Die meisten von ihnen wussten nicht, dass sie eine Revolution machten. Die meisten von ihnen dachten, sie würden, nun ja, revoltieren. Generalstreiks fegten über das russische Reich. Die Menschen hatten es satt, in schmutzigen Häusern auf dem Lande zu hungern oder in den Städten mit vier Familien in einer Wohnung zu leben. Sie waren es leid, in ihrem Leben kein Mitspracherecht zu haben, weder zu Hause, noch bei der Arbeit, noch im Krieg. Sie waren der jahrzehntelangen "Russifizierung" überdrüssig, einer Apartheidpolitik, die darauf abzielte, die ethnische Vielfalt in einem Land zu zerstören, das zweifellos das größte und möglicherweise das ethnisch (und religiös) vielfältigste Land der Welt war.

Es gab einen Teil des Landes, der "Pale of Settlement" genannt wurde, das einzige Gebiet, in dem Juden leben durften und in dem sie immer noch einer unglaublichen ethnischen und religiösen Unterdrückung ausgesetzt waren. "Pale" ist ein archaischer Begriff für ein eingezäuntes Gebiet. Interessanterweise und nebenbei bemerkt, kommt der Ausdruck "jenseits des Pale" nicht von "außerhalb des Pale of Settlement wie in Russland". Es gab noch ein anderes "the Pale", das viel näher an England und damit an der englischen Sprache lag, nämlich ein Gebiet um Dublin in den frühen Tagen der britischen Kolonisierung Irlands. Dieser "Pale" war das Gebiet, das einigermaßen sicher vor den barbarischen irischen Horden in den Hügeln war. "Beyond the Pale" bedeutete außerhalb dieses sicheren, kolonisierten Gebiets. Daran sollte man denken, wenn das nächste Mal jemand radikale Politik als "beyond the pale" bezeichnet.

Aber Russland.

Die Pale of Settlement war eine der revolutionärsten Gegenden des Landes. Sie erstreckte sich über das heutige Weißrussland, Polen, die Ukraine, Litauen und einige andere Gebiete. Jüdische Menschen schlossen sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einer endlosen Reihe linker Organisationen zusammen und begannen, die Macht des Zaren ernsthaft zu bekämpfen. Das taten sie natürlich nicht allein, aber ihre Beiträge sind es wert, hervorgehoben zu werden.

Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass jüdische Linke einen Kernbestandteil der anarchistischen Bewegung in Russland bildeten. Da der Anarchismus immer ein internationales Projekt war und ist, ist die Art und Weise, wie der Anarchismus diese speziellen Bauern und Arbeiter erreichte, interessant: Da der Anarchismus immer ein internationales Projekt war und ist, ist die Art und Weise, wie der Anarchismus diese speziellen Bauern und Arbeiter erreichte, interessant: Ein Großteil der anarchistischen Ideen wurde von russischen Theoretikern im 19. Jahrhundert entwickelt, die oft mit einheimischen sibirischen Gruppen studiert und gearbeitet hatten, um zu sehen, wie Kulturen der gegenseitigen Hilfe und Solidarität ohne staatliche Autorität funktionieren können. Diese Ideen verbreiteten sich in Westeuropa und vermischten sich mit dem sich dort entwickelnden Anarchismus, der vor allem in den Enklaven der ethnischen Einwanderer Wurzeln schlug. Jiddisch sprechende Anarchisten in London zum Beispiel gaben viele radikale Zeitungen heraus, die dann in die Palästinensische Autonomiezone geschmuggelt wurden, wo sie in der Arbeiterklasse und der Bauernschaft auf fruchtbaren Boden fielen.

In Bialystok, einer Stadt im heutigen Polen, entstand eine Gruppe namens Black Banner. Sie boten eine wirklich einfache Lösung für das Problem der Unterdrückung an, die Art von einfacher Lösung, für die Russland wahrscheinlich berühmt war: Unterdrücker haben es besonders schwer, einen zu unterdrücken, wenn sie tot sind. Die Anarchisten schlossen sich zu "Kampforganisationen" zusammen, die jeweils autonom, aber ihrer Gemeinschaft gegenüber verantwortlich waren und sich an einer größeren Koordinierungsstruktur beteiligten.

Diese Kampforganisationen gingen hinaus und taten, was sie bewusst als Terrorismus bezeichneten: Sie raubten die Reichen aus, sie töteten streikbrechende Bosse. Sie bauten Bomben und sammelten Waffen. Sie hielten auch endlose Treffen ab, oft auf Friedhöfen. Auf diesen Versammlungen diskutierten sie Strategien und Ziele, aber auch Theorie und Kultur. Sie glaubten, dass die Arbeiterklasse selbst die Revolution anführen würde, und nicht eine bürgerliche Avantgarde. Sie waren "anti-intellektuell", aber dieses Wort bedeutete für sie nicht das, was es für uns heute bedeuten mag: Sie gaben der Aktion den Vorrang vor der Theorie, und sie waren gegen die Abschottung des Wissens durch aristokratische Institutionen wie die Akademie, so dass sie untereinander diskutierten und lehrten. Die Verbreitung von politischer Bildung schien genauso viel Zeit in Anspruch zu nehmen wie alles andere.

Das Schwarze Banner hat die Revolution von 1905 nicht ausgelöst. Diese Revolution war im Grunde genommen spontan und entstand aus dem allgemeinen Unmut über Armut und Autokratie. Keine der verschiedenen linken Ideologien hat die Revolution ausgelöst (oder erfolgreich angeführt). Nicht die SR (die "Sozialrevolutionäre"), die eine einheimische russische linke Ideologie waren, die sich auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Landbevölkerung konzentrierte. Nicht die Sozialdemokraten, die die Marxisten waren. Und auch nicht die Anarchisten.

Black Banner und seine Kampforganisationen beteiligten sich jedoch mit Begeisterung. Streikende Arbeiter konnten zu einer der Kampforganisationen kommen und sagen: "Unser Chef unterdrückt unseren Streik gewaltsam", und plötzlich hatte dieser Chef vielleicht ein paar zusätzliche Löcher in seinem Körper. Als sich die Gruppe ausbreitete, "wie Pilze nach dem Regen", wie es ein Teilnehmer später ausdrückte, schuf sie eine horizontale Organisations- und Koordinierungsstruktur.

Während der Revolution von 1905 beschloss ein großer Teil des rechten Flügels, den gesamten Aufstand auf "die Juden" als ethnische Gruppe zu schieben, und es kam zu Pogromen. Einem Teilnehmer von Black Banner zufolge gab es zumindest einen Ort, der vor den Pogromen sicher war: das anarchistische Viertel in Bialystock. Rechte Schläger, die Polizei und sogar die Armee hatten Angst, dorthin zu gehen. Diese Anarchisten (viele, aber nicht alle von ihnen waren Juden) hatten ganze Bombenfabriken, und es war kein guter Ort für Antisemiten.

Während der Revolution verbreitete sich in ganz Russland eine neue Idee, deren Name von der Geschichte völlig entstellt wurde. Der Sowjet. Ein Sowjet ist ein von unten nach oben organisiertes Koordinationsgremium. Der erste Sowjet entstand in der Stadt Iwanowna: Ein Streikkomitee bei einem Textilstreik wurde zu einem gewählten Gremium aller Arbeiter der Stadt. Bald darauf bildeten sich Sowjets in 60 verschiedenen Städten und Gemeinden. An diesen Räten nahmen Delegierte teil, die von den verschiedenen Fabriken und Arbeitsplätzen gewählt wurden, und diese Delegierten konnten sofort abberufen werden, wenn sie nicht das taten, wozu sie beauftragt worden waren.

Die Menschen erkannten, dass dies die Struktur einer neuen, einer besseren Gesellschaft war. Horizontale Entscheidungsgremien, die den Menschen mehr Freiheit gaben und ihnen mehr Kontrolle über ihr Leben zu Hause und am Arbeitsplatz ermöglichten. Diese Sowjets konnten sich koordinieren. Sie könnten, Sie wissen schon, eine Union der Sowjets bilden. Wenn sie nur die Macht dazu hätten. Dieses Modell wurde, so wie ich es verstehe, nicht von dieser oder jener revolutionären Ideologie entwickelt, sondern ist aus der Arbeiterbewegung selbst entstanden. Es widerspricht jedoch in keiner Weise dem Anarchismus. Es ist ein staatenloser Sozialismus.

Die Revolution von 1905 scheiterte im Großen und Ganzen. Der Zar versprach, zu einer konstitutionellen Monarchie überzugehen, und die Streiks gingen zurück. Nur die hartgesottenen Revolutionäre machten weiter - die SR, die Marxisten und die Anarchisten versuchten es eine Zeit lang weiter, verstärkten ihre "Enteignungen" (Raub der Reichen) und Attentate. Die Repression nahm daraufhin zu, und bald waren die meisten Linken tot, im Gefängnis oder im Exil.

Die westliche Demokratie hört bekanntlich an der Tür zu Ihrem Arbeitsplatz auf. Fast jeder Arbeitsplatz ist ein kleines Lehen, in dem man nur auf einen "guten Chef" hoffen kann, so wie ein mittelalterlicher Bauer auf einen "guten König" hofft.

Die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts wurde der Kommunismus im Westen praktisch als Synonym für Tyrannei angesehen. Wenn man bedenkt, was am Ende mit der russischen Revolution passiert (Spoiler: die Bolschewiki ergreifen die Macht von den restlichen Linken und Lenin erfüllt sein ausdrücklich gegebenes Versprechen, die Sowjets zu nutzen, um die Autorität zu zentralisieren und dann jeden Anschein von Arbeiterkontrolle aufzulösen), ist es verständlich, dass das Wort "Kommunismus" in so vielen Mündern einen schlechten Geschmack hinterlässt.

Die Ironie besteht darin, dass das sowjetische Projekt, das eigentliche sowjetische Projekt, den Menschen unglaublich viel mehr Freiheit, mehr Würde, mehr Selbstbestimmung und mehr Schönheit bot als alles, was der Kapitalismus je in Betracht gezogen hat. Die Sowjets boten den Menschen die Kontrolle über ihr eigenes Leben, sie boten den Menschen ein Mitspracherecht in der größeren Gesellschaft. Sie boten an, Ketten zu sprengen. Stattdessen wurden sie bekanntlich dazu benutzt, neue Ketten zu schmieden.

Zwischen 1905 und 1917 wurde Russland nicht viel stabiler, und die Lebensbedingungen für die meisten Menschen wurden auch nicht besser. Der Zar stürzte Russland kopfüber in den Ersten Weltkrieg. Das Land verfügte über die größte Armee der Welt, fünf Millionen Menschen, die größtenteils aus der bäuerlichen Schicht eingezogen wurden. Sie hatten mehr Männer als Gewehre. Die russische Militärstrategie hat sich scheinbar nie geändert: Man wirft Bauern in den Fleischwolf, schlecht ausgerüstet und schlecht ausgebildet, und hofft auf das Beste.

Dann, eines kalten Morgens, am 8. März 1917 (zu dieser Zeit wurde ein anderer Kalender verwendet, so dass dies für sie die "Februarrevolution" war), führten Frauen einen Streik an. Es war der internationale Frauentag, ein neuer Feiertag, der von sozialistischen Feministinnen ins Leben gerufen wurde. Dieser Streik weitete sich aus, und in acht Tagen beendete das russische Volk eine 300-jährige Dynastie. Nur 1300 Menschen starben. Das sind zwar meistens zu viele Tote, aber wenn es um eine Revolution im größten Land der Erde geht, sind es wirklich nicht sehr viele Tote.

Plötzlich entstand ein Machtvakuum, und es bildete sich ein unsicheres Bündnis zwischen der provisorischen Regierung und den Sowjets, um es zu füllen. Die provisorische Regierung bestand aus den Überresten der Duma, dem repräsentativen Wahlgremium, das unter dem Zaren keine wirkliche Macht besaß. Die provisorische Regierung war zunächst hauptsächlich mit Liberalen besetzt - Menschen, die eine Republik wollten, aber vor allem die Interessen der Mittelschicht und des Kapitalismus vertraten. In den Sowjets hingegen saßen Sozialisten aller Couleur.

Die provisorische Regierung wollte im Ersten Weltkrieg bleiben, während die Sowjets im Allgemeinen aussteigen wollten. Die provisorische Regierung kontrollierte mehr Institutionen und Machtsymbole, während die Sowjets die praktische Macht hatten, da sie die Arbeiter, die Bauern und die Soldaten vertraten. Die provisorische Regierung erkannte schnell, dass sie in Schwierigkeiten steckte, und rekrutierte so schnell wie möglich Sozialisten, was ihr auch gelang. Bald schlug diese neue Regierung selbst linke Aufstände nieder.

In der Zwischenzeit lebte ein gewisser Wladimir Lenin in der Schweiz im Exil. Er war ein Führer der Bolschewiki, der radikaleren Marxisten (aber insgesamt eine relativ kleine Partei. Nicht winzig, aber auch nicht annähernd so groß oder so einflussreich wie die SR). Das Deutsche Reich wollte unbedingt, dass Russland aus dem Ersten Weltkrieg aussteigt, und schloss daher einen Pakt mit Lenin: Sie würden ihn mit einem Haufen Geld nach Russland zurückschicken, wenn er die provisorische Regierung stürzen und Russland aus dem Krieg herausholen würde.

Und genau das geschah dann auch.

Die Februarrevolution war ein spontaner Aufstand der Arbeiterklasse und der Bauernschaft, aber sie hinterließ eine unruhige Allianz, die versuchte, die Macht zu teilen. Die radikaleren Leute, darunter Anarchisten, Bolschewiki und einige SR, wollten, was sich am besten in dem einfachen Slogan zusammenfassen lässt: "Alle Macht den Sowjets".

Die verschiedenen Gruppen wollten dies natürlich aus unterschiedlichen Gründen. Lenin hatte bereits 1907 geschrieben, dass die Bolschewiki die Sowjets "zur Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung" einsetzen könnten, dass sie aber bald "überflüssig" sein würden. Lenin war bereit, jeden Hebel in Bewegung zu setzen, der ihm Macht verschaffen konnte.

Die übrigen Sozialisten, zu denen wahrscheinlich auch der größte Teil der bolschewistischen Basis gehörte, wollten die gesamte Macht den Sowjets übertragen, weil sie, nun ja, den Kommunismus wollten. Sie wollten eine horizontale, staatenlose Gesellschaft, in der die Menschen ihre eigenen Arbeitsplätze und ihr eigenes Leben kontrollierten, sich aber zusammenschlossen, um die Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft zu erfüllen.

Es ist verständlich, dass man das will.

Ich will es auch.

Im November 1917 (die Oktoberrevolution, wieder wegen der kalendarischen Unterschiede) arbeiteten die verschiedenen linken Fraktionen zusammen, um die Provisorische Regierung mit Waffengewalt aufzulösen. Das war kein Staatsstreich. Dies war der erste Schritt zur Übertragung der gesamten Macht an die Sowjets.

Aber allen waren Wahlen für eine "konstituierende Versammlung" versprochen worden, im Grunde eine Version der provisorischen Regierung, die im Vergleich zur provisorischen Regierung tatsächlich gewählt werden würde. Die Bolschewiki waren anfangs voll und ganz damit einverstanden. Sie hatten kein besonderes moralisches Interesse an den Sowjets, sondern nur an der Macht. Was auch immer ihnen Zugang zur Macht verschaffte, war es wert. 60 % der Wahlberechtigten gingen zur Wahl, 40 Millionen Stimmzettel. Die SR gewannen die Wahl, während die Bolschewiki nur ein knappes Viertel der Sitze errangen.

Die verfassungsgebende Versammlung war natürlich eine grundsätzlich weniger demokratische Regierungsform als die Sowjets: Es war eine repräsentative Demokratie, wie wir sie im Westen kennen. (Nun, es war kein Zweiparteiensystem wie in den USA, aber es war vergleichbar mit den Republiken in Europa). Die Sowjets dagegen setzten sich aus direkten, abwählbaren Delegierten zusammen, die von dem Volk, das sie vertraten, jeweils ein bestimmtes Mandat erhielten.

Die verfassungsgebende Versammlung trat insgesamt nur 13 Stunden lang zusammen, bevor sie von den prosowjetischen Kräften (vor allem Bolschewiki und Anarchisten) gewaltsam aufgelöst wurde. Die Bolschewiki taten es, weil sie nicht die Kontrolle darüber hatten. Die Anarchisten taten es, weil sie die bereits existierenden sozialistischen Entscheidungsgremien, die Sowjets, unterstützten.

In der Zwischenzeit übernahmen die Bolschewiki die Kontrolle über die Sowjets, verliehen dem Exekutivrat neue Macht und verwandelten das Ganze in eine Organisation von oben nach unten und in ein Einparteiensystem. Innerhalb weniger Monate wandten sie sich gegen ihre anarchistischen Verbündeten und begannen mit Razzien in anarchistischen Räumen, bei denen Hunderte von Menschen getötet wurden. Anarchisten und Bolschewiki kämpften bald Seite an Seite gegen die reaktionären Weißen Armeen, aber sobald diese Armeen besiegt waren, wurden die Anarchisten getötet.

Im März 1918 sprach sich Lenin offen gegen die Arbeiterkontrolle aus, die er als "kleinbürgerlich" und "anarcho-syndikalistische Abweichung" verspottete. Er sagte, die Revolution erfordere "zur unbedingten Unterordnung unter die persönlichen Anordnungen der Vertreter der Sowjetmacht während der Arbeit." (Lenin: „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ in Lenin Werke, Band 27, S. 261ff)

In der späteren Sowjetunion gab es nie eine bedeutende Sowjetmacht. Es gab auch nichts, was man vernünftigerweise als Sozialismus oder Kommunismus bezeichnen könnte. Die frühen Sowjets wollten zum Beispiel Land "sozialisieren": es aus der Hand reicher Großgrundbesitzer nehmen und an bäuerliche Kollektive verteilen. Der Bolschewismus verstaatlichte stattdessen das Land, und die Bauern arbeiteten als Lohnarbeiter mit dem Staat als ihrem Chef. Dieses System wird allgemein als "Staatskapitalismus" bezeichnet. So nannte es Lenin, und wer bin ich, der Autorität der UdSSR zu widersprechen.

Seit der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 beobachte ich einen Anstieg der autoritären kommunistischen Organisationen auf der Linken in den USA. Ich habe immer gesagt, dass dies geschieht, weil die Leute einfache Antworten wollen. Wenn man Anarchist wird, sagt einem niemand, was man zu tun hat. Es gibt keinen konkreten Plan, wie man eine Revolution machen kann. Es ist ein Projekt, das wir alle kollektiv zusammen bestimmen. Wenn du einer autoritären Organisation beitrittst, kannst du einfach deinen Anführern folgen und darauf vertrauen, dass sie das Richtige tun werden. Sie werden dich an einer Ecke mit ein paar Zeitungen zum Verkaufen aufstellen und dir genau erklären, wie der Sozialismus unweigerlich triumphieren wird. Sie müssen ihnen nur noch glauben.

Was die Frage angeht, "was wir tun sollten", sind einfache Antworten eine Illusion. Marx versprach, dass seine sozialistische Methode wissenschaftlich sei. Wenn das der Fall ist, dann ist die von Lenin aufgestellte Hypothese, dass die Ergreifung der Staatsmacht und die Schaffung eines staatskapitalistischen Systems schließlich zur Arbeiterkontrolle führen wird, im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder widerlegt worden. Es ist Zeit für neue Hypothesen.

Nur... ich bin mir nicht sicher, ob diese Hypothesen wirklich neu sein müssen. Es gibt eine andere Hypothese, die während der russischen Revolution entstanden ist und von den Arbeitern selbst organisch entwickelt wurde. Interessanterweise ist sie auch einfacher zu beantworten als die von den marxistischen Revolutionären vorgetragenen. Die Antwort auf die Frage, wie man eine Gesellschaft der Gleichheit und Freiheit schaffen kann, eine Gesellschaft, die auf der Kontrolle der Arbeiter über ihr eigenes Leben und ihre Arbeitsplätze aufbaut, könnte einfach darin bestehen, dass wir es auf den Punkt bringen und eine Gesellschaft aufbauen, die auf der Kontrolle der Arbeiter über ihr eigenes Leben und ihre Arbeitsplätze beruht. So wie es in den Sowjets der Fall war.

Um es klar zu sagen: Ich bezweifle ehrlich gesagt, dass das Wort "Sowjet" es wert ist, beibehalten zu werden, und ich habe kein persönliches Interesse daran, den Slogan "Alle Macht den Sowjets" wieder einzuführen oder zu versuchen, Hammer und Sichel zurückzuerobern. Die Idee, die hinter den Sowjets steht, ist jedoch direkt und klar.

Die größte anarchistische Formation während der russischen Revolution und des Bürgerkriegs war in der anarchistischen Ukraine zu finden, wo sieben Millionen Menschen jahrelang in einer von unten nach oben aufgebauten Struktur lebten, in der sich verschiedene Versammlungen untereinander koordinierten, aber ihre eigene regionale Autonomie behielten. Diese Struktur wurde ausdrücklich von Anarchisten und nach anarchistischen Grundsätzen entworfen, aber das System selbst bezeichnete sich nicht als anarchistisch. Es blieb politisch pluralistisch - selbst den Bolschewiken, die versuchten, die Macht zu übernehmen, wurde in der anarchistischen Ukraine Redefreiheit gewährt.

Die ukrainischen Anarchisten bezeichneten ihre Ziele wie folgt:

„Die Werktätigen [ein Wort, mit dem sowohl die Bauern auf dem Land als auch die Industriearbeiter gemeint sind] müssen ihre Sowjets selbst frei wählen, die den Willen und die Wünsche der Werktätigen umsetzen - also Verwaltungssowjets, keine Staatsowjets. Das Land, die Fabriken, die Mühlen, die Bergwerke, die Eisenbahnen und die anderen Reichtümer des Volkes müssen den Werktätigen gehören, die in ihnen arbeiten, das heißt, sie müssen vergesellschaftet werden.“

Und wie würden sie das tun?

„Eine kompromisslose Revolution und ein direkter Kampf gegen alle Willkür, Lüge und Unterdrückung, woher sie auch kommen mögen; ein Kampf auf Leben und Tod, ein Kampf für die freie Rede und für die gerechte Sache, ein Kampf mit der Waffe in der Hand. Nur durch die Abschaffung aller Machthaber, durch die Zerstörung der gesamten Grundlage ihrer Lügen, sowohl in staatlichen als auch in politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten, nur durch die Zerstörung des Staates mittels einer sozialen Revolution können wir eine echte Arbeiter-Bauern-Rowjetordnung erreichen und zum Sozialismus gelangen.“

Dieses Projekt hat jahrelang jeden Versuch, es zu stoppen, erfolgreich abgewehrt und die Weiße Armee in ihrem Lauf gestoppt. Es wurde erst durch den Einmarsch und die gewaltsame Annexion des Gebiets durch seine ehemaligen Verbündeten, die Rote Armee, zum Erliegen gebracht.

Es gibt moderne Beispiele von Menschen, die an Projekten arbeiten, die dem Versprechen der Sowjets ähneln, und die größten von ihnen bezeichnen sich nicht als anarchistisch. Die demokratischen Konföderalisten im Nordosten Syriens experimentieren mit Demokratie von unten nach oben, und die Zapatisten in Chiapas, Mexiko, machen etwas Ähnliches.

Wahrscheinlich können wir von ihnen, unseren lebenden Zeitgenossen, viel mehr lernen als von Anarchisten, die gestorben sind, bevor unsere Großeltern geboren wurden. Aber ich sehe das nicht als ein Entweder-Oder, und je mehr ich die Geschichte lese, desto mehr sehe ich ihren Widerhall in der Gegenwart, und desto klarer und wertvoller erscheinen mir ihre Lehren.

Die eine Lehre, die ich immer wieder sehe, ist, dass diejenigen, die nach Macht streben, diese nicht haben sollten. Wir müssen uns selbst und unsere Systeme gegen diejenigen abhärten, die nach autoritärer Kontrolle streben, egal welche Ausreden sie vorbringen, warum man ihnen die Macht anvertrauen sollte.

Das Ziel ist immer, dass wir uns selbst kontrollieren, dass wir gleichberechtigt miteinander arbeiten. Ich werde dieses Projekt Anarchismus nennen und eine schwarze Fahne hissen.

Wie Sie Ihre Version davon nennen, geht mich nichts an.


Quelle: © Margaret Killjoy, "The Lost Promise of the Soviets or: How the Russian Revolution Was Lost to the Bolsheviks"

Autorisierte Übersetzung: © Thomas Trueten / thomas@trueten.de

Erklärung des Bundesauschusses Friedensratschlag zum Verbot des Palästina Kongresses in Berlin

Logo des Bundesausschusses: Eine gezeichnete Friedenstaube neben einem GesichtDer vom 12.-14.4. geplante Palästina-Kongress in Berlin unter dem Motto: „Wir klagen an“ wurde nach im Vorfeld bereits stattgefundenen massiven Diffamierungen aus Politik und Medien am Freitag nur kurze Zeit nach Beginn aufgelöst und verboten. Mehrere Menschen, darunter auch Personen jüdischer Herkunft, wurden verhaftet. Das Vorgehen von Politik und Polizei – obwohl es weder vor, noch während noch nach dem Kongress zu keinerlei strafbaren Äußerungen gekommen ist – darf nicht hingenommen werden.

Bereits im Vorfeld wurde alles versucht, um die friedliche Konferenz zu verhindern, auf der insbesondere eine Koexistenz von Israelis und Palästinensern praktiziert wurde. Die Schikanen gingen von Kontensperrungen und dem Versuch, mithilfe des Bauamts und der Feuerwehr unüberwindbare Hürden aufzubauen sowie willkürliche Auflagen zu erlassen, über Betätigungsverbote bis hin zur Verhinderung von Einreisen.

Neben ihren völlig haltlosen Anschuldigungen gegen den Kongress, seine Organisator:innen, Teilnehmer:innen und Redner:innen machen sich deutsche Politik und Medien der Verharmlosung israelischer Kriegsverbrechen an der Bevölkerung des Gazastreifens, der Westbank und Ostjerusalems schuldig. Selbst Zahlen der im Gazastreifen Getöteten sowie die von Israel verursachte Hungerkatastrophe in der Küstenenklave werden in Zweifel gezogen. Über die deutsche Mitverantwortung spricht man lieber nicht. Und das, während Deutschland als zweitgrößter Waffenlieferant Israels und wegen seiner Streichung der Gelder für das UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge UNRWA bereits vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag steht.

Die Bundesregierung isoliert mit ihrer Politik Deutschland in der gesamten Welt und handelt ohne jeden moralischen Kompass und Werte. Sie muss sich stattdessen für Deeskalation und diplomatische Lösungen im Israel-Palästina-Konflikt einsetzen.

Das Verbot des Kongresses ist ein riesiger Skandal und stellt eine weitere bedrohliche Eskalation bei der Aushebelung demokratischer Rechte dar. Die fortschreitende Einengung jeglicher Meinungskorridore in Deutschland ist brandgefährlich für alle, weil es das demokratisch verbriefte Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränkt. Die zunehmende Unterdrückung von Meinungsäußerungen sowie die Repression aller kritischen Stimmen zum israelischen Krieg im Gazastreifen und dem absolut unverhältnismäßigen Vorgehen der israelischen Regierung und Armee geht uns alle an.

Kassel, den 14.4.2024
Frieden- und Zukunftswerkstatt e. V. c/o Frankfurter Gewerkschaftshaus

Quelle: Bundesausschuss Friedensratschlag

Rede von Yanis Varoufakis auf dem von der deutschen Polizei verbotenen Palästina Kongress

Wir dokumentieren die Rede von Yanis Varoufakis auf dem kurz nach Beginn von Polizei aufgelösten Berliner Palästina Kongress:

Freunde

Herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank, dass ihr hier seid, trotz der Drohungen, trotz der gepanzerten Polizei vor dem Veranstaltungsort, trotz des Aufgebots der deutschen Presse, trotz des deutschen Staates, trotz des deutschen politischen Systems, das euch verteufelt, weil ihr hier seid.

Yanis Varoufakis bei der Veranstaltung "A Soul for Europe" am 13. April 2019 in der Akademie der Künste in Berlin.
Yanis Varoufakis bei der Veranstaltung "A Soul for Europe" am 13. April 2019 in der Akademie der Künste in Berlin.

Von Olaf Kosinsky - Eigenes Werk, Lizenz: CC BY-SA 3.0 de
„Warum ein palästinensischer Kongress, Herr Varoufakis?“, fragte mich kürzlich ein deutscher Journalist. Weil, wie Hanan Ashrawi einmal sagte: „Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die zum Schweigen gebrachten Menschen uns von ihrem Leid berichten.“ Heute ist Ashrawis Begründung deprimierenderweise noch stärker geworden: Weil wir uns nicht darauf verlassen können, dass die zum Schweigen gebrachten, die ebenfalls massakriert werden und hungern, uns von den Massakern und dem Hungertod berichten.

Aber es gibt noch einen anderen Grund: weil anständige Menschen, die Deutschen, dazu gebracht werden, einen gefährlichen Weg Richtung herzloser Gesellschaft zu beschreiten, indem ein weiterer Völkermord im Namen dieses Landes und in seiner Mitschuld verübt wird.

Ich bin weder Jude noch Palästinenser. Aber ich bin unglaublich stolz, hier unter Juden und Palästinensern zu sein – meine Stimme für Frieden und universelle Menschenrechte mit den jüdischen Stimmen für Frieden und universelle Menschenrechte zu vereinen – zusammen mit den palästinensischen Stimmen für Frieden und universelle Menschenrechte. Dass wir heute hier zusammen sind, ist der Beweis dafür, dass Koexistenz nicht nur möglich ist, sondern dass sie bereits stattfindet. Schon jetzt.

„Warum kein jüdischer Kongress, Herr Varoufakis?“, fragte mich derselbe deutsche Journalist, der sich wohl einbildete, schlau zu sein. Mir machte seine Frage nichts aus.

Denn wenn auch nur eine einzige Jüdin oder ein einziger Jude bedroht wird, nur weil sie oder er Jude ist, werde ich den Davidstern an meinem Revers tragen und meine Solidarität anbieten – koste es, was es wolle.

Um es noch deutlicher zu sagen: Wenn Juden irgendwo auf der Welt angegriffen werden, wäre ich der Erste, der sich für einen jüdischen Kongress einsetzen würde, um unsere Solidarität zu bekunden.

Ebenso: wenn Palästinenserinnen und Palästinenser massakriert werden, weil sie Palästinenserinnen und Palästinenser sind – nach dem Dogma, dass sie Hamas gewesen sein müssen, wenn sie jetzt tot sind – werde ich meine Keffiyeh tragen und meine Solidarität bekunden, koste es, was es wolle.

Die universellen Menschenrechte sind entweder universell oder sie bedeuten nichts.

In diesem Sinne habe ich die Frage des deutschen Journalisten mit ein paar eigenen Fragen beantwortet:

  • Werden 2 Millionen israelische Juden, die vor 80 Jahren aus ihren Häusern in ein Freiluftgefängnis geworfen wurden, immer noch in diesem Freiluftgefängnis gehalten, ohne Zugang zur Außenwelt, mit minimaler Nahrung und Wasser, ohne Chance auf ein normales Leben, ohne Möglichkeit, irgendwohin zu reisen, und seit 80 Jahren regelmäßig bombardiert? Nein.

  • Werden israelische Juden absichtlich von einer Besatzungsarmee ausgehungert, während sich ihre Kinder auf dem Boden winden und vor Hunger schreien? Nein.

  • Gibt es Tausende von jüdischen verletzten Kindern ohne überlebende Eltern, die durch die Trümmer ihrer ehemaligen Häuser kriechen? Nein.

  • Werden israelische Juden heute von den modernsten Flugzeugen und Bomben der Welt bombardiert? Nein.

  • Erleben die israelischen Juden einen totalen Ökozid an dem bisschen Land, das sie noch ihr Eigen nennen können, keinen einzigen Baum mehr, unter dem sie Schatten suchen oder dessen Früchte sie kosten können? Nein.

  • Werden heute israelische jüdische Kinder auf Befehl eines UN-Mitgliedsstaates von Scharfschützen getötet? Nein.

  • Werden israelische Juden heute von bewaffneten Banden aus ihren Häusern vertrieben? Nein.

  • Kämpft Israel heute um seine Existenz? Nein.


Wenn die Antwort auf eine dieser Fragen „Ja“ wäre, würde ich heute an einem jüdischen Solidaritätskongress teilnehmen.

Freunde,

Heute hätten wir gerne mit Menschen, die anders denken als wir, eine anständige, demokratische und von gegenseitigem Respekt geprägte Debatte darüber geführt, wie wir Frieden und universelle Menschenrechte für alle Menschen, Juden und Palästinenser, Beduinen und Christen, vom Jordan bis zum Mittelmeer erreichen können. Leider hat das gesamte deutsche politische System beschlossen, dies nicht zuzulassen. In einer gemeinsamen Erklärung haben sich nicht nur die CDU-CSU oder die FDP, sondern auch die SPD, die Grünen und bemerkenswerterweise zwei Vorsitzende der Partei Die Linke zusammengetan, um sicherzustellen, dass eine solche zivilisierte Debatte, in der man durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann, in Deutschland niemals stattfinden wird.

Ich sage ihnen: Ihr wollt uns zum Schweigen bringen. Uns verbieten. Uns dämonisieren. Uns anklagen. Deshalb lasst ihr uns keine andere Wahl, als euren Anschuldigungen mit unseren Anschuldigungen zu begegnen. Ihr habt euch das ausgesucht. Nicht wir.

  • Ihr beschuldigt uns des antisemitischen Hasses

Wir werfen euch vor, die bestenFreunde derAntisemiten zu sein, indem ihr das Recht Israels, Kriegsverbrechen zu begehen, mit dem Verteidigungsrecht der israelischen Juden gleichsetzt.

  • Ihr beschuldigt uns, den Terrorismus zu unterstützen

Wir werfen euch vor, legitimen Widerstand gegen einen Apartheidstaat mit Gräueltaten gegen Zivilisten gleichzusetzen. Gräueltaten, die ich immer verurteilt habe und verurteilen werde, egal wer sie begeht – Palästinenser, jüdische Siedler, meine eigene Familie, wer auch immer.

Wir werfen euch vor, dass ihr die Pflicht der Menschen in Gaza nicht anerkennt, die Mauer des offenen Gefängnisses einzureißen, in dem sie seit 80 Jahren eingeschlossen sind, und dass ihr diesen Akt des Einreißens der Schandmauer – die genauso wenig zu verteidigen ist wie die Berliner Mauer –mit Terrorakten gleichsetzt.

  •  Ihr werft uns vor, den Terror der Hamas am 7. Oktober zu bagatellisieren.

Wir werfen euch vor, die 80 Jahre andauernde ethnische Säuberung der Palästinenser durch Israel und die Errichtung eines gepanzerten Apartheidsystems in Israel-Palästina zu verharmlosen.

Wir werfen euch vor, zu verharmlosen, dass Netanjahu über Jahre die Hamas unterstützte, um die Zweistaatenlösung, die ihr angeblich befürwortet, zu zerstören.

Wir werfen euch vor, den beispiellosen Terror der israelischen Armee gegen die Menschen in Gaza, im Westjordanland und im Osten Jerusalems zu verharmlosen.


  •  Ihr werft uns, den Organisatoren des heutigen Kongresses, vor, dass wir, ich zitiere, „nicht daran interessiert sind, vor dem Hintergrund des Krieges in Gaza über Möglichkeiten des friedlichen Zusammenlebens im Nahen Osten zu sprechen“. Ist das euer Ernst? Habt ihr den Verstand verloren?
Wir beschuldigen euch, einen deutschen Staat zu unterstützen, der nach den USA der größte Waffenlieferant der Netanjahu-Regierung ist, die damit Palästinenserinnen und Palästinenser massakrieren will, um eine Zweistaatenlösung und ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Palästinensern unmöglich zu machen.

Wir werfen euch vor, dass ihr nie die Frage beantwortet, die jeder Deutsche beantworten muss: Wie viel palästinensisches Blut muss noch fließen, bevor euer – berechtigtes – Schuldgefühl für denHolocaust weggewaschen ist?

Um es klar zu sagen: Wir sind hier in Berlin mit unserem palästinensischen Kongress, weil wir, im Gegensatz zum deutschen politischen System und den deutschen Medien, Völkermord und Kriegsverbrechen verurteilen unabhängig davon, wer sie verübt. Weil wir die Apartheid im Land Israel-Palästina ablehnen, egal wer die Oberhand hat – genauso wie wir die Apartheid in den amerikanischen Südstaaten oder in Südafrika abgelehnt haben. Weil wir für universelle Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit unter Juden, Palästinensern, Beduinen und Christen im alten Land Palästina eintreten.

Und damit wir uns noch klarer über die berechtigten und bösartigen Fragen sind, die wir immer bereit sein müssen zu beantworten:

Verurteile ich die Gräueltaten der Hamas? 

Ich verurteile jede einzelne Gräueltat, unabhängig davon, wer der Täter oder das Opfer ist. Was ich nicht verurteile, ist bewaffneter Widerstand gegen ein Apartheidsystem, das als Teil eines langsam brennenden, aber unaufhaltsamen Programms der ethnischen Säuberung konzipiert wurde. Anders ausgedrückt: Ich verurteile jeden Angriff auf Zivilisten, während ich gleichzeitig jeden feiere, der sein Leben riskiert, um die Mauer einzureißen.

Befindet sich Israel nicht in einem Krieg um seine Existenz?

Nein, ist es nicht. Israel ist ein nuklear bewaffneter Staat mit der vielleicht fortschrittlichsten Armee der Welt und dem ganzen Arsenal der US-Militärmaschine im Rücken. Es gibt keine Symmetrie mit der Hamas, einer Gruppe, die Israelis ernsthaften Schaden zufügen kann, die aber in keiner Weise in der Lage ist, Israels Militär zu besiegen oder Israel daran zu hindern, den langsamen Völkermord an den Palästinensern im Rahmen des Apartheidsystems, das mit langjähriger Unterstützung der USA und der EU errichtet wurde, fortzusetzen.

Haben die Israelis nicht zu Recht Angst, dass die Hamas sie ausrotten will? 

Natürlich haben sie das! Juden haben einen Holocaust erlitten, dem Pogrome und ein tief verwurzelter Antisemitismus vorausgingen, der Europa und Amerika seit Jahrhunderten durchdringt. Es ist nur natürlich, dass Israelis in Angst vor einem neuen Pogrom leben, wenn die israelische Armee einknickt. Indem der israelische Staat seinen Nachbarn die Apartheid aufzwingt und sie wie Untermenschen behandelt, schürt er das Feuer des Antisemitismus, stärkt Fanatiker unter den Palästinensern und Israelis, die sich nur gegenseitig vernichten wollen, und trägt letztlich zu der schrecklichen Unsicherheit bei, die Juden in Israel und der Diaspora verzehrt. Die Apartheid gegen die Palästinenser ist eine äußerst schlechte Idee, wenn es um die Selbstverteidigung Israels geht.

Was ist mit Antisemitismus?

Der Antisemitismus ist immer eine klare und gegenwärtige Gefahr. Und er muss ausgerottet werden, vor allem in den Reihen der Globalen Linken und der Palästinenserinnen und Palästinenser, die für palästinensische Bürgerrechte kämpfen – überall auf der Welt.

Warum verfolgen die Palästinenser ihre Ziele nicht mit friedlichen Mitteln?

Das taten sie. Die PLO erkannte Israel an und verzichtete auf den bewaffneten Kampf. Und was haben sie dafür bekommen? Absolute Erniedrigung und systematische ethnische Säuberung. Das hat die Hamas hervorgebracht und sie in den Augen vieler Palästinenserinnen und Palästinenser als einzige Alternative zu einem langsamen Völkermord unter Israels Apartheid erscheinen lassen.

Was sollte jetzt getan werden? Was könnte Frieden in Israel-Palästina bringen?

  • Ein sofortiger Waffenstillstand.

  • Die Freilassung aller Geiseln: die der Hamas und die Tausende, die von Israel festgehalten werden.

  • Ein Friedensprozess unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, der durch die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird, die Apartheid zu beenden und gleiche Bürgerrechte für alle zu gewährleisten.

  • Bei der Frage, was an die Stelle der Apartheid treten soll, müssen Israelis und Palästinenser zwischen der Zwei-Staaten-Lösung und der Lösung eines einzigen föderalen, säkularen Staates entscheiden.


Freunde,

Wir sind hier, weil es faul ist, Rache zu nehmen statt zu trauern.

Wir sind hier, um nicht für Rache, sondern für Frieden und Koexistenz in Israel und Palästina zu werben.

Wir sind hier, um den deutschen Demokratinnen und Demokraten, einschließlich unserer ehemaligen Genossinnen und Genossen von der LINKEN, zu sagen, dass sie sich lange genug mit Schande bedeckt haben –dass Unrecht plus Unrecht kein Recht ergeben –und dass es nicht zur deutschen Vergangenheitsbewältigung beiträgt, wenn wir zulassen, dass Israel mit Kriegsverbrechen davonkommt.

Über den heutigen Kongress hinaus haben wir in Deutschland die Pflicht, den Diskurs zu verändern. Wir haben die Pflicht, die große Mehrheit der anständigen Deutschen davon zu überzeugen, dass die universellen Menschenrechte das Wichtigste sind. Dass „Nie wieder“ wirklich „Nie wieder“ bedeutet. Für niemanden, egal ob Jude, Palästinenser, Ukrainer, Russe, Jemenit, Sudanese, Ruander –für alle, überall.

In diesem Zusammenhang freue ich mich, ankündigen zu können, dass die deutsche politische Partei MERA25 von DiEM25 bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im kommenden Juni auf dem Stimmzettel stehen wird – um die Stimme der deutschen Humanisten zu bekommen, die sich nach jemandem im Europäischen Parlament sehnen, der/die Deutschland vertritt und die Komplizenschaft der EU beim Völkermord anprangert – eine Komplizenschaft, die Europas größtes Geschenk an die Antisemiten in Europa und darüber hinaus ist.

Ich grüße euch alle und schlage vor, dass wir nie vergessen, dass niemand von uns frei ist, solange auch nur eine(r) von uns in Ketten liegt.

Quelle: diem25.org
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