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Zu den politischen Konsequenzen sexualisierter Silvestergewalt: Gegen rassistische Hetze und asylfeindliche Sündenbockpolitik!

Bundestag soll geplanter Verschärfung des Ausweisungsrechts Absage erteilen

Zur aktuellen politischen und Mediendebatte über Täter und rechtspolitische Folgen der zu Sylvester insbesondere in Köln stattgefundenen sexualisierten Gewalt fordern der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein und der Antidiskriminierungsverband Schleswig-Holstein - in Abstimmung mit dem Flüchtlingsrat Niedersachsen - ein seriöses Herangehen bei der Identifizierung der Täter und der Analyse der Tatbestände anstatt kurzschlüssiger Schuldzuweisungen und Sippenhaftgesetzgebungen.

Die Übergriffe gegen Frauen zu Sylvester in Köln, Hamburg und anderen Orten stellen exzessive Formen sexualisierter Gewalt dar. Diese Taten müssen umfassend aufgeklärt und ggf. in diesem Zusammenhang existierende Strafrechtslücken geschlossen werden. Seit vielen Jahren schon offenbart der regelmäßige sexistische bundesdeutsche Alltag hier vielfältige rechtspolitische Handlungsbedarfe. Jedoch wurden Tatbestands- und Opferberichte über Gewalt gegen Frauen, Lesben und Transpersonen in Deutschland genauso regelmäßig von Politik und Medien ignoriert.

Auch Migrant_innen mit und ohne Fluchtmigrationshintergrund sind Leidtragende männlicher Gewalt. Sexismus und sexualisierte Gewalt sind ein fortwährendes Problem unserer Gesellschaft, das alle betrifft. Aus diesem Grund gehören der Einsatz gegen Sexismus und die Weiterentwicklung institutioneller Strukturen zum Schutz von Betroffenen selbstverständlich auf die Tagesordnung.

Notwendig ist Aufklärung der Ereignisse der Silvesternacht und eine nüchterne Analyse: Wer waren die Täter, wie waren sie organisiert, welche Straftatbestände waren erfüllt? Derzeit wird das öffentliche Drama beherrscht von einem Spiel mit Ängsten und von interessengeleiteten Instrumentalisierungen, in deren Windschatten es sich einmal mehr Gesetzesinitiativen wie der „Gemeinsame Vorschlag von BMI und von BMJV zur erleichterten Ausweisung von Straftäter" vom 12. Januar 2016 leicht machen, weitgehend pauschal Flüchtlinge als Sündenböcke verunglimpfen und das Aufenthaltsrecht zum verlängerten Arm der Strafverurteilung missbrauchen wollen.

Flüchtlingsrat und Antidiskriminierungsverband fordern den Bundestag auf, sich am Mittwoch den 13. Januar bei der Plenardebatte zu den Konsequenzen aus den Vorkommnissen der Kölner Silvesternacht deutlich gegen den von den Bundesministerien für Inneres und Justiz aus den Schubladen gezogenen Maßnahmenkatalog zur Verschärfung des Ausweisungsrechts auszusprechen. „Wir wenden uns gegen pauschale Stigmatisierung von Flüchtlingen , und gegen die Instrumentalisierung der Opfer im Interesse populistischer Stimmungsmache, bei der sexualisierte Gewalt und Gewalt gegen Frauen nur dann thematisiert wird, wenn die Täter die vermeintlich –šAnderen–˜ sind“, mahnt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein.

Bei jedem deutschen Großereignis wird sexualisierte Gewalt und Gewalt gegen Frauen ausgeübt. Jedes Jahr werden beispielsweise auf dem Münchner Oktoberfest im Schnitt zehn Vergewaltigungen polizeilich erfasst; die Dunkelziffer wird von Polizei und Opferverbänden auf 200 geschätzt. Auch im Karneval kommt es immer wieder zu massiven Übergriffen und zahlreichen sexistischen Verbrechen. Zahlen des Bundesfamilienministeriums zeigen: Knapp 60 Prozent aller Frauen, die in Deutschland leben, wurden bereits sexuell belästigt, jede siebte hat strafrechtlich relevante Formen sexueller Gewalt erfahren. Diese lange bekannten Daten waren Politik und Medien bis dato aber kaum der Rede wert.

Wenig glaubwürdig ist es vor diesem Hintergrund, wenn jetzt ausgerechnet diejenigen, die eben noch ein konservatives Geschlechterrollenbild und Heim und Herd propagiert haben, nun die Rechte der Frauen entdecken und diese für ihre asylfeindlichen politischen Zwecke instrumentalisieren.

Wir begrüßen die aktuelle Diskussion um Sexismus und sexualisierte Gewalt, doch wir lehnen es ab, sie zur Rechtfertigung von Sündenbockpolitik oder gar für rassistische Hetze zu missbrauchen. Wenn z.B. das aktuelle Fokus-Titelblatt eine weiße nackte Frau mit schwarzen Handabdrücken veröffentlicht, dann stellt das genau die Form der Ethnisierung einer gesellschaftlichen Problemlage dar, die wir für falsch und gefährlich halten. Es ist für alle schädlich, wenn feministische Anliegen instrumentalisiert werden, um gegen einzelne Bevölkerungsgruppen zu hetzen. Zum einen weil das rassistische Narrativ 'schwarzer Mann vergewaltigt weiße Frau' Hetze gegen migrantische Männer verfestigt und zudem migrantische und geflüchtete Betroffene aus der Diskussion ausblendet. Zum anderen weil diese Debatte den Betroffenen von sexualisierter Gewalt schadet, da sie eine wirkliche Auseinandersetzung über Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen verhindert.

Repression wird beschworen, wo inhaltliche Konzepte nötig wären. Grundsätzliche Fragen bleiben weiterhin unbeantwortet: Wie kann eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in unserer Gesellschaft gewährleistet werden? Wie erreichen wir, dass Frauen in Deutschland unabhängig von ihrer Herkunft nicht diskriminiert und benachteiligt werden? Was müssen wir tun, damit auch Flüchtlingsfrauen, ob in Notunterkünften des Landes oder in kommunalen Unterkünften, institutionell geschützt und systematisch gefördert werden? Wie kann der Benachteiligung von Flüchtlingsfrauen bei der Integrationsförderung nachhaltig begegnet werden?

Doch anstatt zielführende Antworten zu geben, genügt sich die Politik einmal mehr darin, das Ausländerrecht zu verschärfen und eine härtere Gangart gegenüber Flüchtlingen zu fordern. „Null Toleranz gegenüber kriminellen Ausländern“ –“ das ist die Botschaft, die selbst Vertreterinnen der sogenannten bürgerlichen Parteien seit Tagen in die Mikrofone und Notizblöcke der Journalistinnen rufen. „Haft in der Heimat“ (Sigmar Gabriel, SPD), „abschieben, bevor das Asylverfahren zu Ende ist“ (Joachim Herrmann, CSU), „schärfere Gesetze“ (Volker Kauder, CDU), „Hürden für die Abschiebung senken“ (Christian Lindner, FDP), „Schusswaffen gegen diese Horden“ (MdL Frank Oesterhelweg, CDU Niedersachsen). Derartige Aussagen sind in keiner Weise lösungsorientiert, sind allerdings sehr geeignet, rassistische Stimmungen in der Gesellschaft zu fördern.

Gerade weil Staat und Gesellschaft in Deutschland den Menschenrechten verpflichtet sind, und Flüchtlingen eine Orientierung an den Menschenrechten abverlangt wird, müssen Entscheidungen über Ausweisung und Abschiebung straffällig gewordener Flüchtlinge besonderer Aufmerksamkeit unterliegen. Das bedeutet, ein nach der Genfer Flüchtlingskonvention Schutzberechtigter darf nicht einfach in ein Land expediert werden, in dem er politische Verfolgung befürchten muss. Auch ein straffälliger Flüchtling darf gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm Folter, die Todesstrafe oder eine sonstige menschenrechtswidrige Behandlung droht. Bei allen Entscheidungen über ein Aufenthaltsrecht sind die persönlichen Interessen und Bindungen des Betroffenen gegen das öffentliche Interesse abzuwägen. Je länger ein Flüchtling in Deutschland lebt und je stärker seine Verwurzelung in Deutschland ist, desto größer ist das persönliche Interesse zu gewichten. Hau-Ruck-Aktionen und Schnellschüsse darf es in einem demokratischen Rechtsstaat nicht geben.

Quelle: Gemeinsame Presseerklärung, Kiel, 13.01.2016
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V. • www.frsh.de
Antidiskriminierungsverband Schleswig-Holstein e.V. • www.advsh.de

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