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Blogkino: Schachnovelle

Heute in der Reihe Blogkino: Schachnovelle von Stefan Zweig, das er zwischen 1938 und 1941 im brasilianischen Exil schrieb. Es ist sein letztes und zugleich bekanntestes Werk. Wir zeigen die darauf basierende Verfilmung von 1960 mit Curd Jürgens, Claire Bloom, Hans-Jörg Felmy, Mario Adorf, Hans Söhnker, Albert Bessler.

Im Zentrum der Handlung steht die Konfrontation der psychischen Abgründe, die ein Gefangener der Gestapo erlebt hat, mit der oberflächlichen Lebenswelt wohlhabender Reisender in der Rahmenhandlung. Das Schachspiel spielt anfangs nur die Rolle einer bloßen Unterhaltung bzw. eines einträglichen Sports und erhält erst durch die Figur des Gefangenen Dr. B., der sich während seiner Haftzeit intensiv mit Schach beschäftigt hat, seine tiefere Bedeutung. (Wikipedia)

kritisch-lesen.de Nr. 39: Linke EU- und Europakritik

Foto: Manuel Heinemann (Eigene Aufnahme)
Lizenz: CC BY-SA 3.0
Manche meinen, es brauche ein anderes Europa, ein erneuertes Europa, das diesem Europa entgegensteht, ein Europa von unten. Doch kann es ein solches überhaupt geben? Und ist das überhaupt erstrebenswert? War nicht Europa von Beginn an ein exklusives und imperialistisches Projekt, und sind somit nicht alle Versuche, dieses Europa zu transformieren, im Kern schon falsch ausgerichtet?

Für eine grundsätzliche EU-Kritik von links bieten die aktuellen Entwicklungen prinzipiell genügend Anknüpfungspunkte. Die Europäische Union und ihre demokratische Ideologie befinden sich in einer grundlegenden Krise. Dies wird unter anderem am Umgang mit Griechenland deutlich: Die deutsche Bundesregierung hat in einem offen autoritären Akt die sozialdemokratische Syriza-Regierung in Griechenland zu einem unsäglichen Sparkurs zu Lasten der prekarisierten Bevölkerung erpresst − und kam damit durch. Auch in der Türkei zeigt sich die vermeintlich demokratische Interessenspolitik der EU aktuell in Höchstform: Recep Tayyip ErdoÄŸan soll für Milliardenbeträge die Grenzen zu Syrien sichern und fliehende Menschen davon abhalten, Europa zu erreichen. Dabei wird über den Bürgerkrieg gegen die kurdische Bevölkerung, die Repression und Verfolgung linker Strukturen und Oppositioneller und den militärischen Ausbau des totalitären türkischen Staatsapparats eilig der Mantel des Schweigens geworfen –“ oder anders ausgedrückt: des Bedauerns ob der Unabänderlichkeit aufgrund beidseitiger Interessenslagen.

Für uns ist deutlich: Dieses Europa gibt vor, das Leben der Menschen zu verbessern. Doch es ist im Kern ein Klassenprojekt von oben, welches die Ungleichheit zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb seiner Grenzen aufrecht erhält. Dieses Europa gibt vor, demokratisch zu sein. Doch die Union des Kapitals, insbesondere die von nationalen Interessen dominierte, duldet keinen Widerspruch. Dieses Europa gibt vor, ein Friedensprojekt zu sein. Doch es externalisiert den Krieg nach außen und mischt weltpolitisch kräftig mit. Dieses Europa gibt vor, ein Vorreiter der offenen Grenzen zu sein. Doch es versucht permanent, die Bewegungsfreiheit der Menschen zu kontrollieren und schottet seine Grenzen nach außen ab. Dieses Europa gibt vor, ein fortschrittliches Projekt zu sein. Doch es baut auf kolonialen Herrschaftsverhältnissen auf, die immer noch bis weit in die Gegenwart hineinreichen.

Trotzdem zeigte das Jahr 2015, dass Migrationsbewegungen immer wieder vermeintlich unüberwindbare Grenzen ins Wanken bringen können und für Situationen sorgen, welche die Herrschenden dazu zwingen, diese immer wieder neu unter Kontrolle zu bringen. Die vergangenen Monate machten uns aber auch klar, dass es an linken Konzepten in einer Umbruchsituation fehlt. Es mangelt uns nicht nur an anschlussfähigen Alternativen, sondern auch an Ansätzen, eine grundlegende linke Kritik an der EU und Europa zu formulieren. Die Kritik an der mangelnden Demokratie der EU darf allerdings nicht den rechten Kräften überlassen bleiben. Dass eine linke Alternative zu den bestehenden Verhältnissen unsichtbar war und ist, liegt an uns. Wir haben uns daher in dieser Ausgabe diesem Thema gewidmet und greifen mit den Beiträgen vielfältige Dimensionen linker EU-Kritik auf.

Gleichzeitig ist diese Ausgabe auch eine Jubiläumsausgabe für kritisch-lesen.de: Wir feiern unseren fünften Geburtstag! Das sind fünf Jahre Gegenöffentlichkeit mit dem Versuch, linke Positionen sichtbar und zugänglich zu machen. Die (Produktions-)Bedingungen auf dem linken Buchmarkt haben sich in den letzten Jahren weiter verschlechtert, und viele interessante und kritische Veröffentlichungen bleiben unbemerkt. Umso unerlässlicher ist es gerade heute, die aktuellen Debatten nicht kampflos anderen Kräften zu überlassen. Wir bleiben dran, lassen nicht nach und hoffen, dass sich auch in Zukunft unsere Leser_innen, Autor_innen und Genoss_innen gemeinsam mit uns der Aufgabe stellen, hier und da einzugreifen, Breschen zu schlagen und Aussichten zu schaffen.

Und um es zu diesem Anlass ordentlich krachen zu lassen, haben wir frisch dekoriert und unsere Seite neu gestaltet. Damit sagen wir danke an alle Leser_innen und Autor_innen und alle Unterstützer_innen. Und machen klar: wir bleiben am Ball!

Zur Ausgabe 39

Zur Lehre vom Ressentiment

Horkheimer (links) mit Theodor W. Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0
"Zur Lehre vom Ressentiment. - Ein feiner Trick: das System zu kritisieren soll denen vorbehalten bleiben, die an ihm interessiert sind. Die anderen, die Gelegenheit haben, es von unten kennenzulernen, werden entwaffnet durch die verächtliche Bemerkung, daß sie verärgert, rachsüchtig, neidisch sind. Sie haben »Ressentiment«.

Demgegenüber sollte niemals vergessen werden, daß man ein Zuchthaus in keinem Fall und unter gar keinen Umständen kennenlernen kann, wenn man nicht wirklich und ohne Verkleidung als Verbrecher fünf Jahre dort eingesperrt war mit der Gewißheit, daß die goldene Freiheit, nach der man sich in diesen fünf Jahren sehnt, in einem nachträglichen Hungerleben besteht. Es wirkt wie ein stillschweigendes Abkommen der Glücklichen, daß man über diese Gesellschaft, die weitgehend ein Zuchthaus ist, nur diejenigen als Zeugen gelten lassen will, die es nicht verspüren."

Max Horkheimer - Dämmerung. Notizen in Deutschland. (unter d. Pseud.: Heinrich Regius). Oprecht und Helbling, Zürich 1934

nachschLAg: Ein unvollständiger Wochenrückblick

LATEINAMERIKA
uch in Lateinamerika haben Medien und Spitzenpolitiker auf die Enthüllungen des Internationalen Konsortiums Investigativer Journalisten (ICIJ) unter dem Titel „Panama Papers“ reagiert. Nicht nur die Regierung des betroffenen Landes meldete sich zu Wort. Progressive Akteure befürworteten die Veröffentlichung der Daten von Steuerhinterziehern, während in der medialen Debatte Argentiniens neuer Präsident Mauricio Macri in den Fokus rückte.

ARGENTINIEN
Die argentinische Regierung zahlt Milliarden an Hedgefonds und erhöht zugleich Preise für Nahverkehr, Wasser und Gas. Gewerkschaften kündigen Proteste und gemeinsamen Vorgehen an.

BRASILIEN
Glenn Greenwald, Andrew Fishman und David Miranda über den antidemokratischen Machtkampf in Brasilien.

HONDURAS
Nach einer erfolgreichen Eilaktion der Menschenrechtsorganisation Amnesty International ist Gustavo Castro Soto, einziger Zeuge der Ermordung der Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Berta Cáceres in Honduras, nach Mexiko zurückgekehrt.

KOLUMBIEN
In Kolumbien setzt sich auch in dieser Woche eine Einschüchterungskampagne rechtsgerichteter Paramilitärs fort.

Die frühere Senatorin und international bekannte kolumbianische Friedensaktivistin Piedad Córdoba ist nach eigenen Angaben am Freitag im nordöstlichen Departamento Chocó knapp einem Mordanschlag entkommen.

KUBA
Obwohl US-Bürger nach Washingtons Gesetzen keine touristischen Reisen nach Kuba unternehmen dürfen, forderte die Staatspolizei von New Jersey (NJSP) jetzt alle »US-Touristen« dazu auf, dort vier Menschen zu jagen, denen auf der sozialistischen Karibikinsel politisches Asyl gewährt wird.

Der US-amerikanische Online- und Internetdienstleister Google hat gemeinsam mit einem kubanischen Künstler in dessen Studio in Havanna ein Internetcafé eröffnet.

PERU
Wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag sind am Dienstag abend in ganz Peru Zehntausende Menschen gegen die rechte Kandidatin Keiko Fujimori auf die Straße gegangen.

Eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen in Peru hat die Kandidatin des Linksbündnisses Frente Amplio, Verónika »Vero« Mendoza, ihre Aufholjagd fortgesetzt. Nach den jüngsten Umfragen liegt sie inzwischen praktisch gleichauf mit dem Favoriten des Unternehmerlagers, Pedro Pablo Kuczynski.

VENEZUELA
Venezuelas Präsident Nicolás Maduro hat alle Freitage bis Anfang Juni zu arbeitsfreien Tagen erklärt. Die Maßnahme soll dem Land dabei helfen, Strom zu sparen.

Mehrere tausend Menschen haben heute in Caracas gegen das von den Rechtsparteien mit ihrer Mehrheit im Parlament verabschiedete Amnestiegesetz demonstriert.

Das neue Sicherheitskonzept und die Polizeieinsätze der venezolanischen Regierung gegen Kriminalität sollen zu einem Anstieg von missbräuchlicher Polizeigewalt geführt haben.

Ein Gemeinschaftsprojekt von Einfach Übel und redblog, Ausgabe vom 08. April 2016

Dokumentation: Berta Cáceres ist nicht gestorben - sie hat sich vervielfacht!

"In der Nacht zum 3. März 2016 wurden die compañera Berta Cáceres, Gründerin und Hauptkoordinatorin des Zivilen Rats der indigenen und Basisbewegungen Honduras COPINH sowie der compañero Gustavo Castro, Mitglied der Organisation Otros Mundos Chiapas, Mexiko Opfer von Waffengewalt, die den Tod von Berta und schwere Verletzungen von Gustavo zu Folge hatte.

Verantwortlich für den Mord sind die Firma DESA sowie die nationalen und lokalen Regierungen und die Repressionsorgane des Staates, die hinter den ausbeuterischen Projekten stehen, die sie in der Region vorantreiben.

Dieser Dokumentarfilm will die Wahrheit und Hintergründe zum Mord zeigen, ganz im Gegensatz zu dem, was uns die Regierung und die Medien von Honduras glauben lassen wollen.

Wir rufen die nationale und die internationale Solidarität auf, Eilaktionen zu realisieren, um Druck auf die honduranische und die mexikanische Regierung auszuüben und die Sicherheit von Gustavo Castro und aller Mitglieder von COPINH zu fordern.

Protestbriefaktion der Hondurasdelegation

Eilaktion von Amnesty International

Petition von Oxfam

Außerdem bitten wir euch, die Spendenaktion für COPINH zu unterstützen, den die Honduras-Delegation und das Ökumenische Büro München veröffentlicht haben."

Prekär ist nicht fair!

Foto: Kwien
Gegen schlechte Arbeits- und Lernbedingungen in sogenannten Integrationskursen protestierten am 9. März 2016 rund 100 Dozent*innen vor dem Ministerium des Inneren in Berlin. Drei Vertreter des Ministeriums nahmen einen großformatigen offenen Brief mit ihren Forderungen entgegen.

In den Kursen arbeiten bundesweit weit mehr als 20.000 Dozent*innen im Auftrag des Innenministeriums an rund 1450 Bildungsträgern (für Volkshochschulen, Vereine, Wohlfahrtsträger etc.).

Die Dozent*innen möchten den Menschen, die derzeit getrieben von Krieg und Perspektivlosigkeit nach Deutschland kommen, durch ihre professionelle Arbeit die Teilnahme an allen gesellschaftlichen Bereichen erleichtern. Aber die vom Innenministerium vorgegebenen Arbeits- und Lernbedingungen sind schlecht und werden noch schlechter.

Die allermeisten Dozent*innen arbeiten gezwungenermaßen als (Schein-) Selbständige zu Dumpinghonoraren in heterogenen Gruppen mit Menschen verschiedener Muttersprachen, Herkunftsländer und Altersgruppen, mit und ohne Schul- und Sprachlernerfahrung, teilweise traumatisiert und in problematischen Lebenssituationen.

Mit dem aktuellen Konzept der sogenannten Integrationskurse wird den Interessen und der spezifischen Lern- und Lebenssituation vieler Zuwanderinnen nicht Rechnung getragen. Dies gilt insbesondere für Geflüchtete. Es braucht hierzulande mehr Deutschkurse für Zuwanderinnen. Und für diese Kurse braucht es qualifizierte Dozentinnen, die nicht aufgrund prekärer Arbeitsbedingungen gesellschaftlich an den Rand gedrängt werden. Es braucht ausreichende, auf die Bedürfnisse zu- geschnittene und flexible Kursangebote, auch für Menschen mit unterbrochenen Bildungsverläufen, mit realistischen Abschlüssen. Am selben Tag protestierten auch Kolleginnen in Düsseldorf.

Offener Brief und Redebeiträge der Kundgebung (PDF-Dokument)

Via Umbruch Bildarchiv dort gibt es auch ein Video zur Kundgebung.

Blogkino: The Giant Gila Monster (1959)

In unserer Reihe Blogkino zeigen wir heute "The Giant Gila Monster". Der Streifen wurde in den Kinos zusammen mit dem hier letzte Woche gezeigten "The Killer Shrews" aufgeführt. Ein Dorf in der Nähe der Chihuahua-Wüste wird von einer riesigen und giftigen Eidechse bedroht. Ein Metallarbeiter hat eine Idee, die man dem Tierchen den Garaus machen könnte...

Beate Zschäpes Flucht und die Beseitigung ‚elektronischer’ Zeugen

Ab dem 30. März 2016 strahlt das ARD die Spielfilmtriologie „Mitten in Deutschland: NSU“ aus. Bei diesem Projekt werden drei Filme mit drei Perspektiven von drei Regisseuren gezeigt:

  • "Die Täter –“ Heute ist nicht alle Tage" (1. Teil)
  • "Die Opfer –“ Vergesst mich nicht" (2. Teil)
  • "Die Ermittler –“ Nur für den Dienstgebrauch" (3. Teil)

Bei der Premiere in Berlin waren neben den SchauspielerInnen auch der Berliner Polizeipräsident Klaus Kandt dabei. Er ließ die geladenen Gäste wissen: "Wir haben inzwischen sehr viel gelernt, verbessert und unsere Lehren gezogen ... " (Berliner Morgenpost vom 18.3.2016)

Ob er das wirklich ernst oder ziemlich zynisch meinte, wird ein Film, der ihn als Premieregast einlädt, wohl nicht zeigen (wollen).

Anspruch der drei Filme sei, so die Ankündigung, eine „Spurensuche“. Dass es im NSU-Kontext nicht an Spuren mangelt, sondern an der Weigerung, ihnen nachzugehen, zeichnet folgender Beitrag nach.

Wenn „heiße“ Spuren systematisch gelöscht werden

Wie die beiden NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am 4. November 2011 zu Tode gekommen sein sollen, wissen wir. Zumindest gibt es dafür eine offizielle Selbstmordversion. Ziemlich rätselhaft ist hingegen, was Beate Zschäpe in dieser Zeit getan, was sie in den folgenden vier Tagen gemacht hatte, bevor sie sich im Beisein eines Rechtsanwaltes der Polizei stellte. Ganz offensichtlich muss sie vom Tod ihrer „Kameraden“ erfahren haben. Aber wer hat sie informiert? Mit wem hatte sie telefoniert, mit wem telefonischen Kontakt während der vier „Flucht“tage?

Man muss kein Kriminalist sein, um festzuhalten, dass das Handy, das Beate Zschäpe benutzt hatte, eine hervorragende „Quelle“ wäre, um diese Tage zu rekonstruieren. Eine elektronische Quelle, die ohne Verdrängung und spontanen Erinnerungslücken vieles enträtseln könnte - wenn man die Kommunikationsdaten sicherstellt und auswertet.

Angesichts der Dimension dieses Vorganges eine Selbstverständlichkeit, eine Routinearbeit polizeilicher Ermittlungen. Vor allem dann, wenn man „Spekulationen“ und „Verdächtigungen“ ausräumen will, die der Möglichkeit nachgehen, dass die NSU-Mitglieder in Zwickau unter geheimdienstlicher Beobachtung standen, was in aller letzter Konsequenz bedeuten würde, dass man sehr wohl eine „heiße Spur“ hatte, die man bis heute leugnet.

Dass dieser Verdacht nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern handfesten Fakten geschuldet ist, war seit Langem bekannt. Denn in der ersten Phase der Aufregung kam einiges ans Tageslicht, was seitdem angestrengt unterbelichtet bleibt.

Der Berliner Kurier vom 29.5.2012 rekonstruierte die Ereignisse, kurz nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wie folgt: »Etwas mehr als Stunde, nachdem sie ihre Wohnung in der Frühlingsstraße 26 in die Luft jagte, versuchte jemand Zschäpe anzurufen. Das Pikante: Die anrufende Nummer ist im Sächsischen Staatsministerium des Inneren registriert. Wer aus der Behörde in Dresden wollte Zschäpe sprechen –“ und vor allem warum?«

Das sächsische Innenministerium reagierte auf diese Indiskretion sehr hektisch: Man habe nach dem Brand mit dem/r WohnungsinhaberIn Kontakt aufnehmen wollen, um sie über die Ereignisse in Kenntnis zu setzen. Es hätte sich also bei den Anrufen um ganz normale Ermittlungstätigkeiten von Polizeidienststellen gehandelt, die mit dem Brand betreut gewesen waren.

Mit dieser „Version“ machten sich Journalisten daran, die damals veröffentlichten Diensthandynummern anzurufen, um sich der Behörde zu vergewissern, die diese benutzt hatten. Das Ergebnis war mehr als verblüffend: Die Nummern hatten keinen Anschluss mehr –“ sie wurden „abgeschaltet“.

Damit war eine elektronische Spur gelöscht –“ was in einem solch schwerwiegenden Fall nur als Vertuschungstat gewertet werden kann. Denn durch die Löschung dieser Verbindung konnte nicht geklärt werden, ob es sich beim Nutzer dieser Handynummer um eine Behörde handelt oder um einen V-Mann. Dieser wird in aller Regel mit einem Handy ausgestattet, das ebenfalls auf das jeweilige Innenministerium zugelassen ist.

Ebenfalls will bis heute niemand erklären, wie eine Person X, ausgestattet mit einem Handy des Sächsischen Staatsministerium des Inneren in den Besitz der Handynummer von Beate Zschäpe kommen konnte? Beate Zschäpe benutzte einen Decknamen, die Wohnung war auf „Mathias D.“ angemeldet. Eine Behörde, die nicht mehr wollte, als den Wohnungseigentümer zu informieren, hätte niemals Beate Zschäpe anrufen können.

Diesen Vertuschungen ging auch der „Terrorexperte des ZDF“ Elmar Theveßen im November 2014 nach: „Am 4. November 2011 fliegt die Terrorzelle NSU auf: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begehen Selbstmord, Beate Zschäpe steckt die Wohnung des Trios an und flüchtet. Ihr Handy klingelt am Nachmittag sehr häufig, über 30 Mal allein zwischen 16.30 und 21 Uhr. Doch wer ruft Zschäpe immer wieder an?“

Auf diese Frage eine Antwort zu bekommen, ist keine große Aufgabe –“ für die ermittelnde Polizei. Diese muss sich nur an den Provider wenden, über den die Kommunikation abgewickelt wurde.

Auch das gehört zur Polizeiroutine und müsste in einem solchen Fall höchste Priorität haben. Schließlich geht es um die Frage: Wer hat ihr in den vier Tagen „Flucht“ geholfen? Wer gehört möglicherweise mit zum NSU-Netzwerk? All das sollte ein Kinderspiel sein, wenn man die Handynummer von Beate Zschäpe hat –“ sollte man meinen.

Am 17. März 2016 wurde dazu im dritten parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA in Berlin Kriminaloberkommissar Sascha Allendorf im BKA befragt. Er war mit der Auswertung der Mobiltelefon-Daten von Zschäpe beauftragt. Was er dazu sagte, findet sich in einer Erklärung des Bundestages:

„Nachdem vermutlich Zschäpe am Nachmittag des 4. November 2011 ihre gemeinsame Wohnung mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Zwickau in Brand gesetzt hatte, war ihre Handynummer von der Polizei in Erfahrung gebracht worden. Zur Überprüfung der Telefongespräche, die sie über ihr Handy geführt hatte, wurden in den folgenden Wochen die jeweiligen Provider kontaktiert. Allendorf wies darauf hin, dass es damals keine gesetzliche Grundlage für eine Vorratsdatenspeicherung gab und die Verbindungsdaten von den Anbietern daher auf unterschiedliche Weise gespeichert worden waren. Von einigen Telefongesellschaften wurden der Polizei nur Nummern übermittelt, bei denen die letzten drei Stellen durch “x– ersetzt waren. Insgesamt handelte es sich um 42 Telefonnummern. Nach Allendorfs Aussage wäre der Aufwand zu groß gewesen, die Inhaber dieser Nummern zu ermitteln, da man im Extremfall fast 42.000 Nummern hätte überprüfen müssen. Allein für die Überprüfung der 412 Rufnummern, die der Polizei vollständig vorlagen, habe man sechs Monate benötigt. Binninger ließ das nicht gelten, zumal einige der unvollständigen Nummern als Behördenanschlüsse erkennbar gewesen seien. Die übrigen Nummern hätte das BKA zumindest darauf überprüfen lassen sollen, ob polizeibekannte Rechtsextremisten zu den Inhabern gehörten.“ (Quelle: Deutscher Bundestag vom 18.3.2016)

Man weiß nicht, über was man vor allem wütend sein soll: über die Dummheit oder Dreistigkeit dieser Aussage. Und man fragt sich, warum sich die Parlamentarier eine solche Antwort gefallen lassen. Sie erfüllt den Straftatbestand der Irreführung und der Strafvereitelung im Amt gleichermaßen.

So unterschiedlich die Speicherfristen der Provider auch sind, sie hätten allesamt ausgereicht, die gespeicherten Kommunikationsdaten unversehrt zu bekommen. Und zwar in Gestalt vollständiger Telefonnummern. Denn nur beim privaten Einzelverbindungsnachweis werden die letzten drei Stellen durch x ersetzt. Auf die vollständigen Telefonnummern muss der Provider zurückgreifen können –“ im Reklamationsfall.

Aber auch die angeblich langwierige Suche im Heuhaufen ist eine vorsätzliche Täuschung. Bereits 1998 wurde in Jena in der Garage von den wenig später abgetauchten NSU-Mitgliedern eine Telefonliste gefunden, mit über 50 Einträgen –“ ohne xxx. Das Who is who der Neonaziszene, das Netzwerk von Kameraden, das es laut Anklage der Generalbundesanwaltschaft nicht gibt. Für diesen Abgleich hätte man 10 Minuten gebraucht. Selbst auf dieser konspirativen Telefonliste befanden sich vier V-Leute, die für die Neonazis „Kameraden“ waren, denen sie voll vertrauten.

Außerdem wäre es ein Leichtes gewesen, die vollständigen Nummern der Behördenanschlüsse zu bekommen, um so überprüfbar festzustellen, welche „Behörde“ diese Handynummern genutzt hatte und warum diese kurz nach Bekanntwerden „abgeschaltet“ wurden! Dass all dies der Vorsitzende des dritten PUA, Clemens Binninger (CDU), ein ehemaliger Polizeibeamter, mit unglaublicher Sanftheit moniert, ist in jedem Fall dem Sachverhalt völlig unangemessen.

Man darf übrigens davon ausgehen, dass das BKA selbstverständlich um diese Möglichkeiten wusste und diese auch nutzte. Würden all diese Telefonnummern nur auf Neonazis verweisen, hätte man das Ergebnis stolz präsentiert. Mehr als naheliegend ist also, dass man bei den gespeicherten Telefonnummern auf Verbindungen gestoßen war, die man eben nicht problemlos offen legen konnte.

Exakt dieser Annahme ist auch der anfangs erwähnte „ZDF-Terrorexperte“ Elmar Theveßen gefolgt, als er dazu blitzgescheit ausführte: „Die deutschen Sicherheitsbehörden prüfen es später nicht ernsthaft nach, weil in den Anrufprotokollen die letzten drei Ziffern durch x ersetzt sind. Aber sie haben die Ziffern davor auch nicht mit den Mobilnummern der Personen aus dem Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) abgeglichen, unter ihnen eine große Zahl von V-Leuten der Behörden. Haben mehrere von ihnen an jenem 4. November 2011 verzweifelt versucht, Beate Zschäpe zu erreichen, weil sie mindestens Mitwisser waren, wenn nicht sogar mehr?“

Dass diese Kommunikationsdaten mehr verraten, als den Ermittlungsbehörden lieb ist, belegt ein weiteres Faktum.

Am 4. November 2011, kurz nachdem die Wohnung in Zwickau in Brand gesetzt wurde, erhielt Beate Zschäpe nicht nur von einer nicht mehr auffindbaren –ºPolizeidienststelle–¹ einen Anruf. Sie hatte auch telefonischen Kontakt mit André Eminger. Um 15.29 Uhr sprachen sie eine Minute und 27 Sekunden miteinander, dann tippte André Eminger eine SMS, eine Textnachricht an seine Frau Susan ...

André Eminger zählt zu den führenden Neonazikadern, eine Schlüsselfigur in der sächsischen Neonazi-Szene. Er ist Mitbegründer der –ºWeißen Bruderschaft Erzgebirge–¹. Seine Ehefrau Susan Eminger stand ihrem Mann an neonazistischer Tatkraft in nichts nach.

André Eminger war der Polizei und den Verfassungsschutzbehörden seit Langem bekannt. Aus einem Schreiben des sächsischen Verfassungsschutzes geht hervor, dass die Behörde im März 2003 ein –ºInformationsgespräch–¹ mit André Eminger geführt habe, was nur mühsam umschreibt, dass er als V-Mann angeworben werden sollte. Angeblich habe er abgelehnt, da er keinen Kontakt mehr zur neonazistischen Szene habe. Das wussten die Anwerber besser: Noch im November 2006 gingen Verfassungsschutzämter davon aus, dass er laut Spiegel-online vom 10.12.2012 eine »herausgehobene Position« innehabe.

Unstrittig ist, dass das Ehepaar Eminger den Untergrund des NSU mit ausgestattet hatte. U.a. besorgte André Eminger im Mai 2009 für Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe Bahncards, welche auf seinen und den Namen seiner Frau ausgestellt waren.

Jenseits der Frage, ob die fehlgeschlagene Anwerbung des Neonazis André Eminger eine Legende ist, kann man festhalten, dass ihre Überwachung direkt zu den Mitgliedern des NSU geführt hatte/hätte. Wie eng, wie vertrauensvoll der Kontakt zwischen den NSU-Mitgliedern und André Eminger war, beweist auch das Telefonat, das Beate Zschäpe kurz nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt geführt hatte.

Auf welche Weise also die Verfolgungsbehörden über André Eminger an den NSU angeschlossen waren, könnte zweifelsfrei die Auswertung des Handys ergeben, das bei seiner Festnahme am 24. November 2011 beschlagnahmt wurde. Das Handy wurde zur Auswertung ans BKA geschickt. Obwohl der interne Speicher gelöscht war, konnte das BKA die gelöschten Datensätze wiederherstellen. Das ist in der Regel kein Hexenwerk, denn die Löschung bezieht sich nur auf den Link (Pfad), nicht auf die gespeicherten Datensätze. Doch nun passierte das, was schon in vielen Fällen zuvor der Fall war: Die „Rekonstruktion“ weist auffällige Lücken auf, die man technisch am aller wenigsten erklären kann: »So tauchen etwa Telefonverbindungen erst ab dem Datum 8. November 2011 wieder auf; bei den SMS reicht die Lücke vom 6. November bis zum 14. November 2011.« (Lücken in den Handydaten, FR vom 28.1.2013)

Die Lücke ist gut gewählt: Es handelt sich um den gesamten Zeitraum, in dem Beate Zschäpe auf der „Flucht“ war.

Um ganz sicher zu gehen, dass nichts gefunden wird, was nicht gefunden werden soll, wies das BKA die zuständige Bundespolizeidienststelle an, die Sicherungskopie zu löschen. Kein Versehen, sondern eine Anweisung, gegen Dienstvorschriften zu verstoßen: »Diese Anweisung habe der üblichen Vorgehensweisen widersprochen, wie der Bundespolizei-Direktor Heinz-Dieter Meier in seiner Vernehmung (...) sagte (...): –ºWenn Handys ausgewertet werden, sieht das Standardverfahren vor, dass die Daten archiviert werden–¹, sagte Meier laut Aussageprotokoll vom 23. Februar 2012.« (s.o.). Für den Vorsatz der Verschleierung statt Aufklärung hat der Bundespolizei-Direktor eine professionelle Erklärung: »Er deutete an, dass das BKA mit seinem Vorgehen möglicherweise einen Informanten decken wollte, auf den E–™s Handydaten hinweisen könnten.« (s.o.)

Was mit diesen vorsätzlich geschaffenen Lücken bezweckt werden soll, weiß der Bundespolizei-Direktor Meier auch: »Wenn das stimmen würde und das BKA jemand im Umfeld des Trio hätte, dann hätten wir ein Problem.« (s.o.) –“ Ein sehr großes. Denn damit wäre ein weiteres Mal bewiesen, dass die Verfolgungsbehörden am Küchentisch des NSU saßen –“ bis zum letzten Tag.

Dass die Kommunikationsdaten von Beate Zschäpe–™s Handy nicht ausgewertet, dass die Verbindungsdaten von André Eminger im entscheidenden Zeitraum gelöscht wurden, berechtigt zu der Annahme, dass alles stimmt –“ nur nicht die offizielle Version.

Wolf Wetzel

Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund - wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2015, 3. Auflage

Dieser Beitrag findet sich auch auf der Internetplattform „NachDenkSeiten“ vom 30.3.2016

Wer bei diesem Thema die Augen schließen möchte, der kann sich den Beitrag auch anhören.

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