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Wehe den Besiegten

“Schicksalsland, wo die einen ewig im Licht stehen und die anderen ewig im Dunkel. Ich durchfuhr es kreuz und quer in den Evakuierungszügen, die uns aus Auschwitz unter dem Druck der letzten Sowjetoffensive westwärts fuhren und danach von Buchenwald gen Norden nach Bergen-Belsen. Wenn der Schienenweg durch den Schnee und über einen Zipfel böhmischen Landes führte, kamen die Bäuerinnen an den Todeszug gelaufen mit Brot und Äpfeln und mußten durch Blindschüsse der Begleitmannschaft verjagt werden. Im Reich aber: die Gesichter von Stein. Ein stolzes Volk. Ein stolzes Volk, immer noch. Der Stolz ist ein wenig in die Breite gegangen, das sei zugegeben. Er preßt sich nicht mehr in mahlenden Kiefern heraus, sondern glänzt in der Zufriedenheit des guten Gewissens und der begreiflichen Freude, es wieder einmal geschafft zu haben. Er beruft sich nicht mehr auf die heroische Waffentat, sondern auf die in der Welt einzig dastehende Produktivität. Aber es ist der Stolz von einst, und es ist auf unserer Seite die Ohnmacht von damals. Wehe den Besiegten.–

Jean Améry - Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten

Was mir heute wichtig erscheint #408

Sensationslüstern: "Am Freitag abend sind am Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen erschossen und 27 weitere verletzt worden. 2.300 Sicherheitskräfte waren im Einsatz. Busse und Bahnen stellten den Betrieb ein, Fernsehsender und Onlinemedien überboten sich in sensationslüsternen Spekulationen. Über Stunden war unklar: Wie viele Täter gibt es und wo sind sie? In der Nacht teilte die Polizei dann mit, sie gehe davon aus, dass ein 18 Jahre alter Deutscher mit iranischen Wurzeln allein gehandelt und sich anschließend selbst getötet habe. Bei einer Pressekonferenz am Samstag vormittag erklärten die Ermittler dann, sie gingen von einem Amoklauf ohne jeden politischen Hintergrund aus. Auslöser könnte eine psychische Erkrankung des Jugendlichen gewesen sein.(...)" "Ausnahmezustand in München" (junge Welt) Siehe auch: "Das Netz ist dabei" im Neuen Deutschland

Beschämend: "In der Türkei überschlagen sich die Ereignisse. In atemberaubendem Tempo fallen Regierungsbeschlüsse, mit denen grundlegende Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden. Die Ankündigung, die Todesstrafe wiedereinführen zu wollen und die europäische Menschenrechtskonvention auszusetzen, sind nur herausstechende Beispiele. (...)" Warum Europa türkischen Oppositionellen Schutz anbieten muss (der Standard)

Gestoppt: "Weil sie die Umwelt schädigen und ihre Landrechte verletzen, gehen indigene Gemeinschaften in Mexiko gegen verschiedene Projekte aus dem Energie- und Infrastruktursektor vor –“ und haben damit durchaus Erfolg. In 15 Fällen verfügten die Gerichte eine vorläufige Suspendierung der jeweiligen Projekte. (...)" Mehr bei amerika21.de

Out: Warum Kiffen so was von 70er ist, wird beim Kraftfuttermischwerk erklärt.

Krank: Morgen soll Jeff Wood hingerichtet werden. Er war für den 1996 verübten Raubmord an Kriss Keeran zum Tode verurteilt worden - jedoch war er nicht der Todesschütze, sondern hatte lediglich im Fluchtauto gesessen. Wood ist einer der seltenen Fälle in Texas, bei dem es sich um die umstrittene Komplizenhaftung handelt. Seine Hinrichtung wurde bereits 2006 aufgeschoben. Der damalige Richter begründete das so: "Bei allem Respekt, man muss schon sagen, ein System, das von einem geisteskranken Menschen verlangt, zuerst seine eigene mangelnde geistige Kompetenz 'deutlich unter Beweis zu stellen', und zwar ohne Unterstützung von Rechtsberatern oder einem Sachverständigen für psychische Krankheiten, um auf diese Weise eine solche Unterstützung zu erhalten - das ist per definitionem ein krankes System."

Neuerscheinung: Sag noch jemand, bei den AnarchistInnen ginge nichts mehr. "Erich Mühsam (* 6. April 1878; –  10. Juli 1934) wurde in der Nacht vom 9. zum 10. Juli im ehemaligen Konzentrationslager Oranienburg von den Nazis zu Tode gefoltert. Auch heute, über 80 Jahre danach, ist es uns ein wichtiges Anliegen, Erich Mühsam zu gedenken. Mit dieser Broschüre wollen wir etwas dazu beitragen, dass sein Leben, seine lebensbejahenden und politischen Gedichte, als auch seine programmatischen Schriften nicht in Vergessenheit geraten. (...)" Mehr über diese sehr lobenswerte Initiative sowie der Download bei Syndikalismus.

Niedriglohnsektor: "Etwa acht Millionen Menschen –“ beinahe jeder vierte Beschäftigte –“ arbeiten in Deutschland für Niedriglöhne. Sie verdienen zu wenig, um davon leben zu können. Deutschland hat damit nach Litauen den zweitgrößten Niedriglohnsektor in Europa. „Viele dieser Menschen müssen Hartz IV beantragen, obwohl sie arbeiten. (...)" Älterer Beitrag im Westen zur Tatsache, dass nur Litauen mehr Niedriglöhner hat. Als Deutschland.

Frauenhass: Heute vor 23 Jahren vergewaltigten und töteten drei neonazistische Skinheads die Sexarbeiterin Beate Fischer. Sie war den drei Männern zunächst freiwillig in eine Wohnung gefolgt. Dem Gericht zufolge hatte die Frau dort freiwillig Sex mit allen, wollte dann aber nach einer Misshandlung die Wohnung verlassen. Die Neonaziskins zwangen sie daraufhin, in der Wohnung zu bleiben und vergewaltigen sie mehrmals. Dann töteten sie Beate Fischer. Das Antifa Infoblatt zu extrem rechtem Frauenhass.

Bezeichnend: Das Urteil des LG Freiburg hat es zu Recht von der Presse- und Meinungsfreiheit als gedeckt gesehen, dass RDL den AFD-Funktionär und Rechtsanwalt Kloth als "rassistischen Anwaltsredner" bezeichnet. In gleicher Weise hat es das Gericht als zulässig angesehen, den Tenor der Rede des AfD-Funktionärs zusammenzufassen, dass "die 'eingeladenen' Ausländer und Flüchtlinge für Vergewaltigung, Raub usw. verantwortlich“ seien und beinahe alle seien „Glückritter". Ein AfD Funktionär und ein Urteil dass RDL beim "rassistischen Anwalts-Redner" Recht gibt. Gegen das RDL aber gleichwohl in Berufung geht.

Übersetzung: Endlich tut mal jemand was gegen unleserliche Tags.

Erfolgreich: "Ein Mitglied der FAU Berlin hat seine Lohnklage gegen den Betreiber des Restaurants „Barist“ mit einem Vergleich erfolgreich beendet. Der Betreiber hat seine Widerklage zurückgezogen, in der er Schadenersatzansprüche gegenüber dem FAU-Mitglied geltend machen wollte –“ wegen angeblich „rechtswidrigen“ Aktionen, zu denen der ehemalige Mitarbeiter seine Gewerkschaft angezettelt haben soll. (...)" Zu einem nicht nur für die FAU bedeutsamen Urteil, denn offen bleibt "die einstweilige Verfügung, die etwa besagt, dass die FAU Berlin gegen das Restaurant nicht protestieren und es im Internet nicht kritisieren darf. Die FAU Berlin hat DEVI Gastro bereits aufgefordert, die einstweilige Verfügung zurückzuziehen."

Durchgepeitscht:"Die umfassende Arbeitsrechtsreform, das loi travail, wurde in dieser Woche gegen den Willen von 70 Prozent der FranzösInnen, endgültig in letzter Fassung durch die französische Nationalversammlung geboxt. Erneut bediente sich die Regierung eines undemokratischen Tricks. Eine Debatte und eine Abstimmung hätte es nur gegeben, wenn es ein Misstrauensvotum gegen die Regierung gegeben hätte. Zu diesem Schritt konnten sich die "sozialistischen KritikerInnen" des eigenen Regierungskurses nicht durchringen. Somit wurde am Donerstag, den 21 Juli in der Nationalversammlung nocheinmal verkündet, dass der Text nun angenommen sei. (...)" Beitrag von Radio Dreyeckland.

Über zu sprengende Ketten...

Karl Marx als Student in Bonn 1836, Ausschnitt aus der Lithographie von D. Levy
“In unsern Tagen scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir sehen, daß die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, sie verkümmern läßt und bis zur Erschöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andre Menschen oder durch seine eigne Niedertracht unterjocht zu werden. Selbst das reine Licht der Wissenschaft scheint nur auf dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit leuchten zu können. All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, daß sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen.–

Karl Marx - Rede auf der Jahresfeier des “People–™s Paper– am 14. April 1856 in London

Was mir heute wichtig erscheint #407

Zweifelhaft: "Die deutschen Islamophobiker haben einen neuen Shooting Star. Ganz jung ist er mit seinen 72 Jahren nicht mehr, aber das ist in einer Szene, die Thilo Sarrazin und Henryk M. Broder als Idole feiert, gerade guter Durchschnitt. Dafür hat es seine Person aber in sich: Der Mann ist selbst Syrer, dazu noch Professor, er kannte Adorno und Horkheimer. Und er sagt Sachen wie: "Die Syrer von heute sind Antisemiten". Wenn es einer wissen muss, dann doch wohl Bassam Tibi, der Professor aus Göttingen. (...)" Weiter in "Der Aristokrat von Göttingen" Beitrag von Dirk Ecker bei telepolis

Überlebt: Bei Spektrum der Wissenschaft wurde der Beitrag "10 Lebewesen, die es seit Urzeiten gibt" veröffentlicht. Er handelt von Tier- und Pflanzenarten, die den Meteoriteneinschlag, der unter anderem den Dinosauriern den Garaus machte überlebt haben und noch heute die Erde in nahezu unveränderter Form besiedeln. Die Evolution ist scheinbar an ihnen vorübergegangen. Im Überlebenskampf der am besten angepassten Spezies waren sie offensichtlich seit Anfang an gut ausgerüstet.

Vergessen: Vor 24 Jahren, am 8. Juli 1992, wurde Sadri Berisha in seiner Unterkunft in Ostfildern- Kemnat (bei Stuttgart) von Neonazis im Schlaf erschlagen. Sadri Berisha lebte und arbeitete, schon 20 Jahre in Deutschland. Er starb 56jährig; die Neonazis haben ihm mit einem Baseballschläger den Kopf zertrümmert. Der Mann mit dem er sein Zimmer teilte konnte rechtzeitig in ein Krankenhaus eingeliefert werden und überlebte schwer verletzt. Die 5-7 Täter, alle Anfang bis Mitte 20, waren angetrunken und haben sich laut eigenen Aussagen Hitlerreden angehört, bevor sie loszogen. Sie sind losgegangen mit dem Ziel „Pollacken zu klatschen“. Eigentlich wollten sie zu einem AsylbewerberInnenheim, sind aber auf dem Weg an der Arbeiterunterkunft vorbeigekommen, in der Sadri Berisha und viele andere schliefen. Die Täter wurden teilweise zu Haftstrafen verurteilt, mittlerweile sind diese aber abgesessen und alle aus der Haft entlassen. Eine Dokumentation bei Opfer rechter Gewalt in Baden-Württemberg.

Polizeiopfer: Nach den tödlichen Schüssen in Dallas auf Polizisten kursieren unterschiedliche Zahlen über die Menschen, die seit Anfang des Jahres Opfer um sich schießender Polizei geworden sind. Florian Rötzer kommt bei telepolis auf 491 Opfer, während der Guardian 569 Opfer zählt. Im Beitrag des Guardian werden die Getöteten und der Kontext vorgestellt.

Notrufersatz: "Wenn man das Gefühl hat, diskriminiert zu werden und zusehen musste, wie der Lebensgefährte von der Polizei erschossen wurde, wen ruft man dann um Hilfe? Die Polizei?" Diese Frage stellte der Bürgerrechtsaktivist Shaun King, nachdem der Schwarze Philando Castile in seinem Auto von einem Polizisten erschossen wurde. Beitrag bei gulli.com über die Entscheidung dessen Lebensgefährtin, lieber Facebook Live als Notruf zu nutzen statt 911zu wählen...

Aufruf: Das gegen den Leipziger Pegida Ableger "Legida" aktive Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ hat den Aufruf »Solidarität mit allen von rechter Gewalt Betroffenen!« veröffentlicht und fordert damit auf sich solidarisch mit Jürgen Kasek und seiner Familie wie auch mit allen von rechter Gewalt und Drohungen betroffenen Menschen zu zeigen. "(...) Jürgen Kasek, ist schon länger eine Zielscheibe rechten Hasses. Der junge Grünenpolitiker und Rechtsanwalt setzt sich zusammen mit vielen anderen dafür ein, dass Sachsen ein lebenswerter Ort für alle bleibt. Sein Auftreten ist klug und unerschrocken, mitunter impulsiv und polarisierend. Gegen ihn ist nun etwas im Gange, das sich nur als Hetzjagd beschreiben lässt. Rechte verbreiten im Internet seine Adresse und die von Familienangehörigen und rufen zu Gewalt auf. (...)" Wir bitten ebenfalls um Unterstützung des Aufrufes, der auch von Menschen außerhalb Leipzigs unterzeichnet werden kann.

Überwachung: "Die „Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung“ des „Anti“-Terror-Pakets (PDF) erreichen zwar nicht ihr Ziel, haben aber gefährliche Nebenwirkungen. Die Regierung hat das „Anti“-Terror-Paket im Eiltempo und im Windschatten der Männer-Fußball-EM durchgepeitscht. Ein so folgenreiches Gesetz muss ausreichend diskutiert werden, doch das ist nicht geschehen –“ weder parlamentarisch noch juristisch und erst recht nicht in der Öffentlichkeit." Zur Aktion von DigitalCourage e.V.: Überwachungsgesetze sind Placebos gegen Terror und Gift für Freiheit

Ungleich: "2013 hatte die DGB-Tarifgemeinschaft die auslaufenden Tarifverträge mit BAP und iGZ nach längeren Diskussionen verlängert. Unseres Erachtens gibt es für die DGB-Gewerkschaften eine noch größere Dringlichkeit, die Tarifverträge ersatzlos zu kündigen, denn noch schlechtere Tarifverträge durch gelbe Konkurrenz sind vom Tisch. Die Bilanz der Branchenzuschläge und Betriebsvereinbarungen selbst bei Entleihern mit starken Betriebsräten und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten (v.a. Automobilindustrie) ist weit vom Equal Pay und Equal Treatment entfernt. (...)" Mehr Information zum Offenen Brief an die DGB Tarifgemeinschaft Zeitarbeit und die beteiligten Gewerkschaften: Equal Pay für LeiharbeiterInnen, diskriminierende Tarifverträge ersatzlos kündigen!

Ruhigstellung: Gut einen Monat vor Beginn der Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro, den ersten Spielen in Südamerika, sind in Brasilien am 5. Juli bisher noch nie dagewesene Sicherheitsvorkehrungen für das Großereignis in Kraft getreten. Dies berichtet die kubanische Nachrichtenagentur Prensa Latina. Mehr darüber auf amerika21.de

Orientierungslos: "Parteien seien out unter jungen Intellektuellen, kurzfristiges Engagement im Netz oder bei Amnesty zähle. Ein Parteiforscher erklärt, wie sich die junge Linke verändert. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin." Beitrag aus der Zeit, aufgegabelt bei Syndikalismus „Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren“

Asyl für Obdachlose

Horkheimer (links) mit Theodor W. Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (hinten rechts) in Heidelberg, 1964
Foto: Jeremy J. Shapiro / CC-BY-SA-3.0

"Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt. Die neusachlichen, die tabula rasa gemacht haben, sind von Sachverständigen für Banausen angefertigte Etuis, oder Fabrikstätten, die sich in die Konsumsphäre verirrt haben, ohne alle Beziehung zum Bewohner: noch der Sehnsucht nach unabhängiger Existenz, die es ohnehin nicht mehr gibt, schlagen sie ins Gesicht.

Der moderne Mensch wünscht nahe am Boden zu schlafen wie ein Tier, hat mit prophetischem Masochismus ein deutsches Magazin vor Hitler dekretiert und mit dem Bett die Schwelle von Wachen und Traum abgeschafft. Die Übernächtigen sind allezeit verfügbar und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewußtlos zugleich. Wer sich in echte, aber zusammengekaufte Stilwohnungen flüchtet, balsamiert sich bei lebendigem Leibe ein. Will man der Verantwortung fürs Wohnen ausweichen, indem man ins Hotel oder ins möblierte Appartement zieht, so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm.

Am ärgsten ergeht es wie überall denen, die nicht zu wählen haben. Sie wohnen wenn nicht in Slums so in Bungalows, die morgen schon Laubenhütten, Trailers, Autos oder Camps, Bleiben unter freiem Himmel sein mögen. Das Haus ist vergangen. Die Zerstörungen der europäischen Städte ebenso wie die Arbeits- und Konzentrationslager setzen bloß als Exekutoren fort, was die immanente Entwicklung der Technik über die Häuser längst entschieden hat. Diese taugen nur noch dazu, wie alte Konservenbüchsen fortgeworfen zu werden.

Die Möglichkeit des Wohnens wird vernichtet von der der sozialistischen Gesellschaft, die, als versäumte, der bürgerlichen zum schleichenden Unheil gerät. Kein Einzelner vermag etwas dagegen. Schon wenn er sich mit Möbelentwürfen und Innendekoration beschäftigt, gerät er in die Nähe des kunstgewerblichen Feinsinns vom Schlag der Bibliophilen, wie entschlossen er auch gegen das Kunstgewerbe im engeren Sinne angehen mag. Aus der Entfernung ist der Unterschied von Wiener Werkstätte und Bauhaus nicht mehr so erheblich. Mittlerweile haben die Kurven der reinen Zweckform gegen ihre Funktion sich verselbständigt und gehen ebenso ins Ornament über wie die kubistischen Grundgestalten.

Das beste Verhalten all dem gegenüber scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes: das Privatleben führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen. »Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müßte man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, daß das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, daß die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, daß kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; daß man aber dennoch Eigentum haben muß, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt.

Aber die Thesis dieser Paradoxie führt zur Destruktion, einer lieblosen Nichtachtung für die Dinge, die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt, und die Antithesis ist schon in dem Augenblick, in dem man sie ausspricht, eine Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen."


Theodor W. Adorno, Minima Moralia –“ Reflexionen aus dem beschädigten Leben hier als PDF - 513 kB

"Der Mensch ist für Besseres geschaffen, als Dreck aufzuwirbeln..."

Oscar Wilde 1892, Foto: Sarony, Napoleon

"Und da ich das Wort Arbeit ausgesprochen habe, möchte ich darauf hinweisen, wie viel Törichtes heutzutage über die Würde der körperlichen Arbeit geschrieben und gesagt wird. Körperliche Arbeit ist durchaus nicht etwas, das Würde verleiht, zumeist ist sie absolut erniedrigend. Irgend etwas zu tun, das man ohne Freude ausführt, ist geistig und moralisch verwerflich, und viele Arbeiten sind völlig freudlose Tätigkeiten und sollten auch als solche betrachtet werden. Eine schmutzige Straßenkreuzung während acht Stunden des Tages bei scharfem Ostwind zu fegen, ist eine widerliche Beschäftigung. Sie mit geistiger, moralischer oder körperlicher Würde zu fegen, scheint mir unmöglich. Sie mit Freude zu fegen, erscheint mir geradezu ungeheuerlich. Der Mensch ist für Besseres geschaffen, als Dreck aufzuwirbeln."

Oscar Wilde in seinem Essay »Der Sozialismus und die Seele des Menschen« (1891)

Siehe auch: Über Freudloses...

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